1111111 ante portas est

Autor: Kurt O. Wörl

Offener Brief an die Freie Demokratische Partei –
Meine Austrittserklärung

  • Mitgliedsnummer: 1111111
  • Anlage: Mitgliedsausweis

Sehr geehrte Damen und Herren,

ja, mit „liebe Parteifreunde“ kann ich Sie alle nun ja nicht mehr anreden, denn ich trete mit sofortiger Wirkung aus der Freien Demokratischen Partei (FDP) aus.

Nach fast 34jähriger Mitgliedschaft ist in mir in den letzten Wochen – vor allem infolge des Abstimmungsverhaltens der FDP-Bundestagsfraktion beim Zustimmungsgesetz zum EU-Reformvertrag (Vertrag von Lissabon) – der Entschluss gereift, meine Mitgliedschaft in der FDP zu beenden. Eine Entscheidung, die gewiss nicht leicht fiel!

Sicher, in über drei Jahrzehnten gab das politische Tagesgeschäft immer wieder einmal Anlass zum Überlegen, ob man in der FDP noch die politische Heimat sehen kann. Nur wer zweifeln kann, kann verantwortungsbewusst handeln. Aber nicht immer kann man erwarten, dass die eigene Position auch mehrheitsfähig ist. Doch muss man die eigene Position im Großen und Ganzen noch vertreten sehen.

Manchmal kam es heftig und ich habe nicht gezählt, wie oft ich schon meinen Mitgliedsausweis hervorkramte, um mit seiner Rücksendung meine Mitgliedschaft zu beenden. Dann fiel mein Blick auf meine Mitgliedsnummer – 1111111 – (wer hat schon so eine „Schnapszahl“ vorzuweisen) und dachte bei mir „die FDP ist ja doch die einzige liberale Kraft in unserem Land, man soll sie unterstützen“, und legte meine Mitgliedskarte wieder zurück in die Schublade.

Als ich als 20-Jähriger im Sommer 1974 der FDP beitrat, war das ein wohl überlegter Schritt. Es war die Zeit großer liberaler Namen, Namen von großen Staatsmännern und -frauen: Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Hildegard Hamm-Brücher, Ursel Redepennig, Josef Ertl, Wolfgang Mischnick, bald auch Gerhart Baum, Burkhard Hirsch u.v.m. Ich las begeistert Karl-Hermann Flachs liberalen Katechismus „Noch eine Chance für die Liberalen“, war von Thomas Dehlers Werk angetan usw. Der Liberalismus, das war der Weg, den ich für mich als einzig richtig empfand. Die FDP galt in den 70ern als die moderne politische Kraft, die Partei der Bildung, der Demokratie, der Freiheit für alle. Begeistert war ich von den „Freiburger Thesen“, welche vier Kernaussagen enthielten

  • Liberalismus nimmt Partei für Menschenwürde durch Selbstbestimmung
  • Liberalismus nimmt Partei für Fortschritt durch Vernunft
  • Liberalismus fordert Demokratisierung der Gesellschaft
  • Liberalismus fordert Reform des Kapitalismus.

Und nun? Nun muss ich erleben, dass die FDP-Fraktion einem Gesetz zur Anerkennung des EU-Reformvertrag zustimmt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig gestoppt werden wird. Mehr noch: Ich halte die Zustimmung der Liberalen zu einem Vertragswerk, das ganze Serien von Souveränitäts-, Bürger- und Freiheitsrechten, welche das Deutsche Grundgesetz garantiert, einem freien Kapitalverkehr frönenden Wirtschaftsfaschismus, letztlich dem schnöden Mammon, opfert, für einen erneuten Sündenfall des deutschen Liberalismus: Die Liberalen haben wieder einmal einem Ermächtigungsgesetz zugestimmt und wie ich mit Erschrecken feststellen musste, kennen die meisten Abgeordneten noch nicht einmal den Inhalt dessen, was sie beschlossen haben, weil das Vertragswerk weder dem Bundestag noch dem Bundesrat vollständig vorlag. Auch gab es nicht ansatzweise eine Diskussion darüber, die man „Debatte“ nennen dürfte.

Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass derart weitreichende Eingriffe in die Verfassung nur durch eine plebiszitäre Abstimmung überhaupt Geltung erlangen können. Zudem verstößt der Vertrag zu Lissabon in elementarer Weise den Grundsätzen einer demokratischer Werteordnungen. So einem Machwerk DARF kein Liberaler zustimmen, niemals!

Dabei haben alle, die die faktische Außerkraftsetzung des Grundgesetzes in weiten Bereichen betreiben, einst geschworen:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. (optional: So wahr mir Gott helfe).

So lautet der Vertrag zwischen jedem Regierenden und dem Volk!

Alle Welt prügelt nun auf den kleinen mutigen Inselstaat Irland ein, weil das Volk dort sprechen durfte, was es wirklich will (und das bei hoher Abstimmungsbeteiligung!). Auch deutsche Politiker heucheln Empörung. Dabei hat die Bundesrepublik den Vertrag (zum Glück!) ja selbst noch gar nicht wirksam ratifiziert; – zumindest durfte der Bundespräsident seine Unterschrift noch nicht unter das Zustimmungsgesetz setzen, weil es ihm vom Bundesverfassungsgericht in einer einstweiligen Verfügung verboten wurde. Und mögen hoffentlich unsere Verfassungsrichter – von vollkommener Weisheit getragen – das Gesamtwerk als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar niemals wirksam werden lassen.

Damit ja kein Missverständnis aufkommt:

Ich war, bin und werde immer sein ein begeisterter und überzeugter Europäer und sehe es in einer Endstufe auch für richtig an, dass die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren, schon, um US-amerikanischen Hegemonialgelüsten etwas entgegensetzen zu können. Aber als föderales Gegengewicht sind sie unverzichtbar.

Ja, auch ich will ein geeintes Europa! Aber ich will ein Europa mit überaus demokratischen und bürgernahen Strukturen, ein Europa, das dem Begriff Demokratie (Volksmacht), mit deutlich plebiszitären Anteilen für alle elementaren Entscheidungen, gerecht wird. Eine Union der starken Bürger mit starken Bürgerrechten will ich, das sich den Ideen des Humanismus und der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet, einem Heuschreckenkapitalismus und ausartenden freien Kapitalverkehr, die beide notwendigerweise in einem Wirtschaftsfaschismus münden und zur Prekarisierung der Völker Europas führen werden, unüberwindbare Schranken setzt.

Ich will aber kein Europa, das Bürgerrechte paranoiden Sicherheitspolitikern unter der Tarnkappe der „Terrorbekämpfung“ und einer von vielen Innenpolitikern angestrebten Totalüberwachung der Bevölkerung ausliefert – womit das Volk faktisch die Möglichkeit für immer verliert, sein Widerstandsrecht aus Art. 20, Abs. 4 GG überhaupt in Anspruch zu nehmen. Noch nicht einmal eine friedliche Erhebung wie zu Leipzig anno 1989 wäre dem Volk mehr möglich, weil die Organisatoren eines solches Aufbegehrens schon im Vorfeld von einem sich möglicherweise despotisch entwickelnden Großstaatgebilde aus dem Verkehr gezogen werden könnten.

Eine verfasstes Europa will ich, das die Standards unserer Verfassung, dem Deutschen Grundgesetz, als Minimum einhält, die Grundrechte und Möglichkeiten zur Einflussnahme und Eingreifens der Bürger Europas noch ausbaut und jederzeit Respekt vor dem Volk als Souverän, und den Erhalt der kulturellen Eigenarten der Bürger Europas als heilige Aufgabe sieht. Es muss dem Volk die Möglichkeit eingeräumt sein, im Eskalationsfall per Volksbegehren und/oder Volksentscheid auch wieder aus einem – wie auch immer gearteten – Bundesstaat Europa auszutreten. Das verlangt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Krieg als Option (auch unter dem Deckmantel der „Terrorbekämpfung“) muss ausgeschlossen bleiben, so kein kriegerischer Angriff von außen den Verteidigungsfall schafft. Insbesondere darf der Vertrag seine Mitgliedsstaaten nicht zu erhöhten Rüstungsanstrengungen anstiften. Die Völker Europas müssen, wie etwa Costa Rica, sogar berechtigt sein, ganz auf eigenes Militär verzichten zu dürfen und das dann eingesparte Volksvermögen z.B. für Bildung auszugeben.

Das Gegenteil von alle dem will der Vertrag zu Lissabon; und kein führender FDP-Politiker hat diese gefährlichen Vorhaben offensichtlich erkannt. Man hat den Vertrag – wie so oft bei der Ratifizierung von EU-Richtlinien – einfach „durchgewunken“.

Nie wieder Faschismus in keiner Form und unter keinen Umständen, das war mein Antrieb 1974 der FDP beizutreten.

In Sachen EU-Reformvertrag haben die Liberalen Deutschlands aber völlig versagt und offensichtlich – verblendet von der eigenen Wirtschaftsverliebtheit – den Forderungen – auch Versprechungen? – global agierender Wirtschaftsfaschisten einer Entdemokratisierung der Völker Europas, auch der deutschen Bevölkerung, Tür und Tor geöffnet.

Solches mit meiner Mitgliedschaft weiterhin zu unterstützen, kann ich mit meinem Gewissen und mit meiner Haltung als überzeugter Humanist nicht vereinbaren.

Mein Lebenscredo, das mich einst in die FDP führte, führt mich nun aus ihr wieder hinaus. Ich habe nämlich gelobt:

  • Niemals und unter keinen Umständen oder Vorwand jemals einer Diktatur Vorschub zu leisten, welche anstrebt, Rechte der Menschen aufzuheben oder zu missbrauchen. Nie will ich Verrat am höchsten Gut der Menschheit, der Freiheit, üben.
    • Der Vertrag zu Lissabon würde aber den Demokratien Europas sehr schaden und
    • seine Bürger zu Objekten der Habgier von Wenigen degradieren.
  • Niemals werde ich mich mit der Knechtung des menschlichen Geistes abfinden und nicht zulassen, dass das Gewissen der Menschen in Ketten geschlagen wird.
    • Ich sehe indessen, wie mit kritischen Stimmen zum EU-Reformvertrag umgesprungen wird: öffentlicher Pranger, Bloßstellung, Diffamierung und Beleidigungen, weil das irische Volk sein Recht NEIN zu sagen genutzt hat.
  • Niemals werde ich selbstsüchtige Interessen einer Klasse (auch nicht der Klasse der Kapitaleigner) fördern, immer muss jedes menschliche Handeln allen Menschen dienen. Es gilt der Kant‘sche Imperativ.
    • Der EU-Reformvertrag dient aber vor allem der Kaste der Kapitaleigner und Spekulanten und den Heuschreckenkonzernen, die weltweit die Arbeitskraft der Völker bei Hungerlöhnen ausbeuten, das alles zur Befriedigung der Habgierigen und zur Steigerung der Profite einiger Weniger. Das aber ist das Gegenteil von dem, was Liberalismus will, das nennt man schlicht Versklavung der Armen.
  • Dem Unrecht zu wehren, wo es sich zeigt, der Not und dem Elend niemals den Rücken zu kehren war immer mein Bestreben, das mich zu meiner Berufswahl bewegte.
    • Nimmer will ich, dass meine Berufskollegen oder ich selbst jemals dazu befohlen werden, gegen den Freiheitswillen der Menschen in Bayern, in Deutschland, in Europa vorzugehen. Nimmer will ich den Menschen die Gegenwehr gegen Unrecht, Ausbeutung und Unterdrückung unterbinden müssen.

Aus alledem folgt, dass ich die von Herrn Prof. Dr. Karl A. Schachtscheider beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon unterstützen muss und dabei für uns alle hoffe, sie möge auch erfolgreich sein. Mögen danach Vernunft und demokratischer Weitblick auch bei der FDP wieder Einzug halten.

Wie andere oft beste Christen sein können, auch ohne Kirchenzugehörigkeit, so kann man einen liberalen und toleranten Lebensstil auch ohne Parteimitgliedschaft leben, pflegen und fortentwickeln und ist dann womöglich sogar freier im Denken, Handeln und Wirken. Das soll meine Zukunft werden.

Macht‘s gut, ihr Liberalen, vor allem aber: Macht es richtig! Bedenkt: Bloßer Wirtschaftsliberalismus, der der Habgier den Kotau entbietet, ist der Unterdrückung und dem Despotismus näher als den Ideen der Freiheit, fördert Versklavung mehr als den freien Menschen in freier Selbstbestimmung.

So ihr öffentliche Ämter bekleidet: Gedenkt öfter eures Eides!

Mit freundlichen Grüßen

Kurt O. Wörl

Tja… so ist das nun!

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