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Prozent-Abschlüsse sind ungerecht

Autor: Kurt O. Wörl

Dieser Tage hatte ich ein Gespräch mit einem ehemaligen Kollegen – wie ich bereits im Ruhestand – den ich zufällig im Wartezimmer beim Arzt traf. Er war immer sehr aktiv in der Gewerkschaft und konnte es immer noch nicht nachvollziehen, warum ich 2004 meine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft, die sich zu dem Zeitpunkt zum 25. Male jährte, kündigte und sprach mich darauf an.

“Wir leben doch von der Solidarität, also davon, dass alle lohnabhängig Beschäftigten in den Gewerkschaften zusammenstehen.” klagte er und hielt mir vor “Du bist seit Deinem Austritt ein Trittbrettfahrer! Du unterstützt uns nicht mehr, kassierst aber mit, was wir für unsere Mitglieder erstreiten.”

Das fand ich frech und ich antwortete ihm “Kannst du dir vorstellen, dass ich genau deshalb 25 Jahre in der Gewerkschaft war, weil das bis dahin auch meine Haltung immer war? Ihr Gewerkschaftsfunktionäre und eure fehlerbehafteten Lohnabschlüsse waren die Gründe, warum ich es vorzog euch den Rücken zu kehren! Es war vor allem eine ökonomisch sinnvolle Entscheidung – und auch ein Protest dagegen, dass die Gewerkschaften erheblich daran beteiligt sind, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander klafft.”

“Wie darf ich das verstehen? Das ist doch Unsinn!” konterte er.

“So wie ich es sagte – und nein, das ist kein Unsinn! Lass’ es mich erklären!” antwortete ich ihm und trug meine Überlegungen vor:

“Du erinnerst Dich an den Sündenfall der SPD zur damaligen Zeit? Nicht etwa die Union und die FDP, von welchen man das eher hätte erwarten können, nein, die SPD, zusammen mit den Grünen, hatten unter Kanzler Schröder den Sozialstaat geschliffen, wie man es vorher nicht für möglich gehalten hätte. Und da SPD und Gewerkschaften bis dahin stets in einer Symbiose lebten, das heißt, für euch Sozen war es immer selbstverständlich und eine Frage der Ehre, auch Gewerkschafter zu sein, wart ihr daran unmittelbar beteiligt.”

“Du willst jetzt aber jetzt nicht ernsthaft den Gewerkschaften eine Mitschuld an Schröders Agenda-Politik geben, oder?” hakte er nach.

“Den Gewerkschaften pauschal sicher nicht, aber den Gewerkschaftsfunktionären, die auch SPD-Mitglied waren, schon – und Du musst zugeben, das wart und seid ihr doch fast alle, nicht wahr? Aber lass mich weiter ausführen: ja, der letzte Tropfen, der das Fass überlaufen ließ, war die Agenda-Politik. Wenn ausgerechnet SPD und Grüne einen ‘neoliberalen’ Kurs einschlagen, dann haben für diese Agenda-Politik im Parlament auch viele Gewerkschafter die Hand gehoben. Ist doch so, oder?”

“Naja schon,” räumte er ein, “leider! aber das kann doch keine Grund sein, sich nicht mehr gewerkschaftlich für bessere Arbeitsbedingungen und bessere Löhne zu engagieren!” 

“Das war auch nicht Grund, aber es war der Anlass, der letzte Tropfen, der das Fass überlaufen ließ, wie ich schon sagte. Vorher haben die Gewerkschaften aber mit sehr, sehr vielen Tropfen das Fass befüllt – und diese waren die Gründe für meinen Entschluss – und es waren auch ökonomischen Überlegungen, ich sagte es bereits!” 

Er überlegte kurz und meinte dann “Und die wären?”

“Na, dann erinnere dich doch der 1990er Jahre, als die Sozen noch richtige Sozen waren und in der Opposition gegen die Regierung Helmut Kohl stritten. Und wie sieht die gewerkschaftliche Bilanz für diese 90er Jahre denn aus? Für uns Beamte z.B. so: Die jährliche Sonderzahlung zu Weihnachten seit 1994 eingefroren, Urlaubsgeld gestrichen, Nullrunde folgte auf Nullrunde, Verlängerung der Wochenarbeitszeit erst von 38 auf 40 und dann noch auf 42 Stunden. Und wenn ihr doch mal ein paar schäbige Prozente herausgeholt habt, haben diese nie auch nur im Ansatz die Inflationsrate ausgeglichen. Es war für mich einfach eine wirtschaftliche Entscheidung, sich wenigstens den Gewerkschaftsbeitrag zu sparen. Denn mehr Arbeit für weniger Kaufkraft, das kann ich auch ohne Gewerkschaften haben, oder etwa nicht?”

Er schwieg eine Weile, dachte nach und meinte dann “Ja, aber wenn die Gewerkschaften immer mehr Mitglieder verlieren, dann ist doch gar niemand mehr da, der sich für Arbeitnehmerrechte einsetzt! Schon mal darüber nachgedacht, dass die Gewerkschaften in den 1990er vielleicht noch Schlimmeres verhindert hatten?”

“Ja,” antwortete ich, “darüber habe ich nachgedacht, darum habe ich ja auch nicht schon in den 1990ern sondern erst 2004 meinen Mitgliedsausweis zurück gegeben, als feststand, dass ihr nicht nur Schlimmeres nicht verhindern konntet sondern auch gegen den Worst case, die Agenda 2010, machtlos wart, weil Euch die Sozen, darunter viele Gewerkschafter, in den Rücken gefallen sind. Denn wenn im Ergebnis Leiharbeit, Zeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, ‘Ein-EURO-Jobs’, HARTZ IV und die erwähnten Kürzungen und Nullrunden dazu führen, dass das ganze Land zum Billiglohnland Europas wird, dann ist die vernünftigste Haltung, sich wenigstens den Gewerkschaftsbeitrag zu sparen, um ihn für den Lebensunterhalt zur Verfügung zu haben!”

“Aber ohne Gewerkschaften wäre vielleicht alles noch viel schlimmer gekommen.” hielt er entgegen.

“Noch schlimmer als die Agenda 2010? Das glaubst du doch selbst nicht oder? Außerdem ist das reine Spekulation – Ihr Gewerkschafter hättet allen Grund heute den Genossen wieder – wie einst 1914 –  ‘Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!’ vorzusingen.”

Er überlegte eine Weile und meinte dann: “Naja, ganz unrecht hast du nicht, ich habe keine Ahnung, welchem Zeitgeist die SPD damals erlegen war. Trotzdem muss doch jemand mit den Arbeitgebern verhandeln und dafür brauchen die Gewerkschaften nun einmal sichtbare Truppen, also möglichst viele Mitglieder…”

“… um nichts oder nur in homöopathischen Dosen etwas zu erreichen? Der eingesparte Mitgliedsbeitrag bringt mehr!” konterte ich. “Und wir sind noch nicht beim Hauptgrund, warum ich den Gewerkschaften, nachdem das Maß voll war, tschüss sagte!”

“Und der wäre?”

“Solange ich denken kann, werden bei Tarifabschlüssen stets vor allem Lohnerhöhungen in Prozenten abgeschlossen. Gemeiner und niederträchtiger können Gewerkschaften gar nicht zum Ausdruck bringen, wie wenig ihnen der sprichwörtliche ‘kleine Mann’ am Herzen liegt.” stellte ich in den Raum.

“Verstehe ich nicht, fünf Prozent mehr sind doch für jeden fünf Prozent mehr!” hielt er dagegen.

“Stimmt”, antwortete ich “und das ergibt für den Arbeiter bei 1.700 EUR brutto eine Lohnerhöhung von 85 EUR und für den Angestellten mit 2.800 EUR brutto schon 140 EUR, für einen Gewerkschaftsfunktionär mit 4.000 EUR brutto dann schon 200 EUR. Aber wer von den Dreien bräuchte eigentlich die größte Lohnerhöhung, zum Beispiel um seinen Kindern eine Teilhabe an Bildung und Kultur zu ermöglichen? Wer von den Dreien hat den anstrengendsten Job?

Dass das Lohnmehr dann möglicherweise von der Steuerprogression zum Teil wieder aufgefressen wird, lassen wir mal unberücksichtigt und auch, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann die Gewerkschaften zuletzt fünf Prozent Lohnerhöhungen durchgefochten hätten. Mehr als zwei, höchstens drei Prozent waren doch die letzten zwei Jahrzehnte nicht drin – und die lagen meist auch noch unter der Inflationsrate. Nach den Tariferhöhungen hatten die Menschen trotzdem immer weniger Kaufkraft im Geldbeutel.

Besser lässt es sich noch bei den Beamten darstellen, weil sich hier die Erhöhung der Versorgungsbezüge bis in die Spitzenämter auswirkt, während Führungskräfte in der Wirtschaft auf Gewerkschaften nicht angewiesen sind.”

Ich holte mein Smartphone hervor, recherchierte im Internet kurz die letzten Gehaltserhöhungen der Bundesbeamten, rief dann den Taschenrechner auf und rechnete vor: 

“2016 wurde für die Bundesbeamten eine Einkommensverbesserung von 2,2 % und eine weitere Erhöhung um 2,35% ab 2017 beschlossen. Für einen jungen Polizeibeamten, mit seinem Einstiegsgehalt von 1.800 EUR, waren das für 2016 nur ein Zubrot von knapp 40 EUR und ab 2018 dann noch einmal weniger als 44 EUR, zusammen also 84 EUR. 

Ich weiß jetzt nicht genau, was ein Polizeipräsident verdient, aber gehen wir für 2016 mal von 6.000 EUR brutto aus. Für ihn hat sich sein Bruttoeinkommen für 2016 um 132 EUR und 2017 noch einmal um 144 EUR, zusammen also 276 EUR erhöht. Um das Extrembeispiel auch noch zu nennen: Die Bundeskanzlerin verdiente zur selben Zeit zunächst 17.992 EUR, ab 2017 dann 18.820 EUR brutto im Monat – ein Mehr von 828 EUR im Monat oder knapp 10.000 EUR mehr im Jahr. Sie erhielt also bei nur einer (kleinen) Gehaltserhöhung zu ihrem bisherigen Salär noch den einer Putzfrau hinzu.

Du kannst es drehen und wenden wie du willst, die Gewerkschaften erreichen vor allem etwas Spürbares bei den besser verdienenden Arbeitnehmern. Ihr seid damit unmittelbar daran beteiligt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander klafft.”

Mein Kollege zeigte sich betroffen, schwieg eine Weile und meinte dann: “Du meinst also, wir sollten keine Prozentabschlüsse mehr machen, sondern Festbeträge aushandeln?”

“Natürlich,” antwortete ich “100 EUR mehr sind wirklich 100 EUR mehr für jeden, um Dein Argument von vorhin aufzunehmen. Trotzdem bliebe der Lohnabstand, der mit Blick auf die Verantwortung und Bildungsvoraussetzung erforderlich ist, zwischen den Besoldungsstufen immer gleich, würde sich aber, anders als bei Prozentabschlüssen, nicht immer weiter vergrößern.”

“Aber dann hätten evtl. nur die unteren Einkommensklassen zwar einen Inflationsausgleich, die höheren aber kaum.” entgegnete er.

“Das kann hingenommen werden, denn in den unteren Einkommesebenen geht das Gros des Verdienstes in die Miete, in die Nahrungsmittel, in die Kita und nicht auf Spar- oder Anlagekonten, wo auch noch zusätzliche Erträge winken. Die Bundeskanzlerin verfrisst ja nicht den Großteil ihrer 19.000 EUR im Monat, der kleine Arbeiter schon. Und wenn auch die Kanzlerin einen Inflationsausgleich erhalten soll, wird das die unteren Einkommensempfänger umso mehr freuen, wenn sie nicht nur 100, sondern vielleicht sogar 200 oder mehr zusätzlich erhalten. In jedem Fall würde das dämpfend auf die klaffende Einkommensschere wirken.” 

Das letze Wort wollte mein Kollege aber dennoch haben und meinte beim Aufstehen, nachdem er vom Arzt aufgerufen wurde, noch abschließend: “Trotzdem wäre es besser, du würdest uns bei unserer Arbeit wieder unterstützen, dann könntest Du in den Gewerkschaftsgremien ja Deine Ideen einbringen.”


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