
Autor: Kurt O. Wörl
Die letzte Wahlrechtsreform unter der Ampel-Regierung hat den Bundestag etwas verkleinert. Ja, es wurde nun, wie vom BVerfG vorgegeben, eine feste Parlamentsgröße von 630 Abgeordneten festgelegt und ja, es gibt damit keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr, die den Bundestag zuletzt immer weiter aufblähten. Doch zugleich entstanden undemokratische Effekte: Direktkandidaten konnten, obwohl gewählt, ihr Mandat nicht antreten, die Erststimme wurde damit entwertet und die Zweitstimme dominiert das gesamte Ergebnis zugunsten weniger erfolgreicher Parteien.
Dieses Positionspapier zeigt, wie ein klar strukturiertes 50/50-Modell aus Direkt- und Listenmandaten den Bundestag stabilisieren kann, die Bürgernähe wiederherstellt und dem Wählerwillen endlich vollständig entspricht.
1. Ausgangslage
Mit der Wahlrechtsreform 2023/2024 wurde der Deutsche Bundestag erstmals auf eine feste Größe von 630 Abgeordneten begrenzt. Überhang- und Ausgleichsmandate wurden abgeschafft. Dieser Schritt erzeugte Klarheit über die Parlamentsgröße, beseitigte jedoch nicht die grundlegenden strukturellen Probleme des Wahlsystems.
Das zentrale Defizit besteht weiterhin:
Die Sitzverteilung für den gesamten Bundestag richtet sich ausschließlich nach der Zweitstimme und besetzt den Bundestag weit am Wählerwillen vorbei.
Daraus ergaben sich demokratische Verzerrungen:
- Direkt gewählte Abgeordnete durften ihr Mandat nicht antreten, obwohl sie die Mehrheit in ihren Wahlkreisen erhalten hatten.
- Die Erststimme verlor an politischer Bedeutung und wird faktisch fast wirkungslos. Das geht zu Lasten ausgerechnet der beim Wähler besonders geachteten Direktkandidaten.
- Die Zweitstimme dominiert das Gesamtergebnis vollständig und bevorzugt Listenkandidaten (die „Parteisoldaten“).
- Das System wirkt partei- und listenlastig, während die regionale Repräsentation – offenbar auch so gewollt – geschwächt wurde.
- Für viele Bürgerinnen und Bürger wird die Funktionsweise des Wahlrechts immer weniger nachvollziehbar.
Die Reform hat also zwar eine formale Stabilisierung der Bundestagsgröße geschaffen, aber nicht die demokratische Balance wiederhergestellt, die das personalisierte Verhältniswahlsystem eigentlich verspricht.
2. Zielsetzung der Reform
Ein tragfähiges Wahlrecht muss drei Grundanforderungen erfüllen:
- Authentische Abbildung des Wählerwillens, insbesondere der Erststimme.
- Gerechte Proportionalität der Parteien, abgebildet durch die Zweitstimme.
- Stärkung der Bürgernähe, insbesondere durch direkt gewählte Abgeordnete.
Das gegenwärtige System erfüllt nur Punkt 2, untergräbt aber Punkt 1 und 3.
Eine weitere Reform muss diese demokratische Schieflage beseitigen.
3. Vorschlag für ein demokratischeres Modell:
Dieses Modell lehnt sich an das bayerische Wahlrecht auf Landesebene an, bei dem Erst- UND Zweitstimmen zur Sitzverteilung maßgeblich sind.
Ein klar strukturiertes 50/50-System mit 598 Abgeordneten
Der Bundestag wird von 630 auf 598 Sitze noch einmal verkleinert, aufgeteilt in:
- 299 direkt gewählte Abgeordnete (Erststimme)
- 299 Listenabgeordnete (Zweitstimme)
Dies schafft ein symmetrisches Verhältnis zwischen Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl.
3.1 Warum 598 statt 630 Sitze?
Die Verkleinerung um 32 auf 598 entspricht der Wahlkreisgeografie von 299 Wahlkreisen und ermöglicht eine perfekte Symmetrie zwischen Direkt- und Listenmandaten.
Die 299 Wahlkreise bleiben unverändert erhalten – ein seit Jahrzehnten bewährtes territoriales Raster – und ergeben gemeinsam mit 299 Listenplätzen eine stabile Parlamentsgröße.
Damit entsteht ein Wahlsystem, das sowohl mathematisch als auch institutionell sauber konstruiert ist.
4. Der zentrale Reformpunkt:
Die Proportionalität der Zweitstimme gilt ausschließlich für die 299 Listenmandate.
4.1 Das Problem der aktuellen Rechtslage
Im geltenden Wahlrecht gilt der Zweitstimmenanteil für alle 630 Mandate. Das führt dazu, dass die Direktwahlergebnisse im Wahlkreis nachträglich korrigiert oder neutralisiert werden können, um den bundesweiten Parteiproporz über alle Abgeordneten abzubilden.
Folge:
Die Erststimme ist praktisch entwertet.
4.2 Der Vorschlag
Die Zweitstimme darf künftig nur noch über die Listenhälfte des Parlaments entscheiden – also über 299 Sitze.
Der Ablauf ist klar getrennt:
Direkt gewählte Abgeordnete erhalten ihre Mandate ausschließlich durch die Erststimme. Dies entspricht zu 100 Prozent dem Wählerwillen.
- Ihr Wahlerfolg wird nicht durch Parteiverhältnisse korrigiert.
- Direktkandidaten stehen für regionale Verantwortung und unmittelbare Bürgernähe.
Sitzplätze der Listenabgeordnete werden streng proportional nach dem Zweitstimmenergebnis vergeben.
- Die parteipolitische Repräsentation ist damit dem Wahlergebnis entsprechend vollständig gewährleistet.
- Kein Stimmenverhältnis geht verloren.
Diese Trennung beseitigt jede Überschneidung und verhindert so auch, dass Überhang- oder Ausgleichsmechanismen wieder notwendig werden könnten.
4.3 Warum dieses System mathematisch stabil ist
Wenn die Zweitstimme ausschließlich die Listenmandate verteilt, also genau 299 Sitze, dann kann es:
- keine Überhangmandate geben,
- keine Ausgleichsmandate geben,
- keinen Verlust an Direktmandaten geben,
- keine Verzerrung der Erststimme geben.
Das System ist arithmetisch vollständig geschlossen.
5. Vorteile des vorgeschlagenen Wahlmodells
5.1 Vollständige Wirksamkeit der Erststimme
Jeder direkt gewählte Abgeordnete zieht garantiert in den Bundestag ein. Damit wird das zentrale Versprechen des „personalisierten“ Verhältniswahlsystems eingelöst.
5.2 Klare und stabile Parlamentsgröße
Der Bundestag umfasst dauerhaft 598 Sitze – ohne Ausnahmen und ohne Aufblähung.
5.3 Gleichwertigkeit von Personenwahl und Verhältniswahl
- Direktwahl und Proporzwahl stehen im Verhältnis 1 : 1.
- Kein Element dominiert das andere.
5.4 Bürgernähe und regionale Verankerung werden gestärkt
299 direkt gewählte Abgeordnete stehen in aller Regel in unmittelbarem Kontakt zu ihren Wahlkreisen, man kennt die Kandidaten, ihre Lebensleistung usw., etwas, was viele Listenkandidaten nicht vorweisen können.
5.5 Gerechte Proportionalität
Der Zweitstimmenanteil jeder Partei wird exakt und ungeschmälert über die Listenmandate abgebildet.
5.6 Deutliche Vereinfachung und Transparenz
Das Modell ist leicht verständlich:
- Erststimme = Wahl von Personen
- Zweitstimme = Wahl des Parteienverhältnisses
Kein Wahlkreisgewinner verliert sein Mandat. Keine Nachberechnungen, keine Zusatzmandate, keine Kompensation.
5.7 Begrenzung parteiinterner Machtstrukturen
Listenmandate bleiben zwar bestehen, doch die direkt gewählten Abgeordneten gewinnen Bedeutung. Das stärkt individuelle Verantwortung und schwächt die Dominanz zentralistischer agierender Parteiapparate.
6. Politische und juristische Umsetzbarkeit
6.1 Juristisch
Das Modell erfordert lediglich Anpassungen im Bundeswahlgesetz. Keine Verfassungsänderung ist notwendig. Das Modell entspricht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an:
- die Gleichheit der Stimmen,
- die Unmittelbarkeit der Wahl,
- die Festlegung der Parlamentsgröße.
6.2 Politisch
Das System ist für alle Parteien tragfähig und gerecht:
- CDU/CSU profitieren von ihren starken Direktkandidaten.
- SPD verliert keine Listenanteile und kann regional wieder besser sichtbar werden.
- Grüne, Linke und andere kleinere Parteien behalten ihren Proporz über die Listenplätze vollständig.
- AfD erhält proportional ihren Zweitstimmenanteil, ohne dass Direktmandate künstlich ausgeglichen werden müssten.
Das Modell ist damit politisch austariert und nicht zugunsten eines Lagers manipuliert.
7. Schlussfolgerung
Das vorgeschlagene Wahlrecht beendet die strukturellen Verzerrungen des aktuellen Systems und schafft einen Bundestag, der:
- klar,
- gerecht,
- bürgernah,
- transparent,
- stabil,
- verfassungskonform,
ist.
Ein Bundestag von 598 Abgeordneten, bestehend aus 299 direkt gewählten Abgeordneten und 299 proportional vergebenen Listenmandaten, stellt die demokratische Balance zwischen Persönlichkeits- und Listenbwahl zuverlässig wieder her.
Die Trennung der Proportionalität der Zweitstimme von den Direktmandaten ist dabei der Schlüssel zu einem langfristig tragfähigen und vertrauenswürdigen Wahlrechtssystem.
Dieses Reformmodell verdient eine breite politische und gesellschaftliche Debatte.







