Autor: Kurt O. Wörl
Philosophie, das war einmal der Versuch, die Welt zu verstehen und zu erklären. Heute ist es oft nur noch der Versuch, sich selbst zu kommentieren. Das Denken hat sich im Elfenbeinturm verbarrikadiert, wo es sich häutet, sich selbst zitiert und sich dabei für besonders tiefgründig hält. Draußen vor der Tür die Welt – unbegriffen, unbetrachtet, ungewürdigt. Früher waren Philosophen Welterklärer. Heute sind sie Zitationsmasseverwalter.
Der Geist kapituliert vor der Formatvorgabe
Ein Blick in heutige Philosophieseminare lässt den Verdacht aufkommen, man befinde sich nicht in einer Stätte des Geistes, sondern in einem Trainingscamp für Fußnotenpflege. Dort wird gelehrt, wie man Kant zitiert, nicht wie man ihn versteht. Nietzsche wird entzaubert, indem man ihn historisiert. Und Hannah Arendt wäre wohl heute bei der Studiengangsleitung aufgefallen – wegen mangelnder Genderkorrektheit und unzulässiger Essayform.
Man studiert nicht mehr Philosophie, um zu denken, sondern um am Ende analytische Anschlussfähigkeit nachzuweisen. In der Dissertation zählt nicht der Gedanke, sondern die Methodentreue. Der akademische Betrieb hat das Denken ersetzt durch eine Art Zitationshygiene – wer sich nicht daran hält riskiert Ausschluss aus der Zunft.
Die akademische Rache an der Verständlichkeit
Wer heute als Philosoph in klaren Sätzen schreibt, hat den ersten Verdacht auf sich gezogen: Populismus! Richard David Precht etwa – ob man ihn liebt oder nicht – tut genau das, was Philosophen früher taten: Er erklärt die Welt. Er spricht zum Publikum, nicht zur Kommission. Er will vermitteln, nicht verwalten. Und genau das ist sein Vergehen.
Die Denkschickeria rümpft die Nase: „Der ist doch kein richtiger Philosoph, igitt, der schreibt ja verständlich für alle!“ – Warum? Weil er gelesen wird. Weil er verstanden wird. Weil man ihn zitiert, ohne ihn vorher durch zwölf hermeneutische Siebe zu jagen. Weil sich seine Bücher verkaufen und nicht in der hintersten Ecke der Uni-Bibliothek ungelesen vergammeln. Wer verstanden wird, hat im akademischen Elfenbeinturm bereits verloren.
Sloterdijk: Der Stuckateur des Denkens
Nehmen wir Peter Sloterdijk. Ein brillanter Formulierungskünstler – zweifellos. Doch seine Texte sind derart verschnörkelt, dass man sich fragt, ob nicht der Satzbau selbst der eigentliche Inhalt ist. Der Duktus: barock, das Denken: labyrinthisch. Eine Ästhetik des Verschleierns. Sloterdijk gibt nicht Antwort – er gibt Atmosphäre.
Das wäre verzeihlich, wenn man ihn als Künstler liest. Doch er tritt auf wie ein Seher. Einer, der das Ganze überschaut – aber nur flüstert, was er sieht, um den Zauber nicht zu zerstören. Und während Precht manchem zu viel sagt, sagt Sloterdijk so wenig, dass man ihm Genialität unterstellt. So lässt sich Wirkung simulieren, ohne sich je mit den Zumutungen der Verständlichkeit einzulassen. Sloterdijk braucht keine großen populären Werke und hohe Auflagen. Staatlich alimentiert als Professor war er 25 Jahre lang an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe tätig und bei einer W3-Besoldung bestens versorgt – auch im Ruhestand. Und so verdingen sich die meisten deutschsprachigen Philosophen von Rang und Name. – Wozu sich also noch in die Niederungen der Volksaufklärung begeben?
Das Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation
Mein Verdacht: Diese nur noch für den akademischen Betrieb tätigen „Philosophen“ sind womöglich gar nicht mehr in der Lage, allgemeinverständlich an der Welterklärung teilzunehmen. Sie beherrschen es offenbar nicht mehr ihre Gedanken, ohne endlose Schachtelsätze verständlich zu Papier zu bringen. Ich darf an das Sender-Empfänger-Modell für eine gelingende Kommunikation erinnern: Der Sender ist verantwortlich dafür, seine Botschaft so zu kodieren, dass die Empfänger diese auch entschlüsseln können. Wenn aber Philosophen nur noch von Philosophen verstanden werden, wozu braucht man sie dann noch? Gesamtgesellschaftlich machen sie sich damit jedenfalls entbehrlich. Der Staat könnte den Finanzaufwand für diese Geisteswissenschaft dann einsparen und kaum jemand würde es bemerken.
Die wahre Währung heißt heute: Zitation
Im heutigen Philosophiebetrieb zählt nicht mehr die Frage: „Was hat er gesagt?“, sondern: „Wie oft wurde er zitiert?“ Man lebt nicht vom Gedanken, sondern von der Bibliometrie. Die Publikationsliste ersetzt das Erkenntnisinteresse, das Drittmittelprojekt den Geistesblitz. Der akademische Philosoph ist ein Facharbeiter im Denksteinbruch. Was zählt, ist die Zahl der Korrekturen, nicht der Mut zur These.
So entsteht eine Parallelwelt, in der das Denken nur noch als Betriebsamkeit vorkommt – zirkulierend in Journals, deren Namen so abstrakt klingen wie die Gedanken darin. Und während draußen die Gesellschaft nach Orientierung sucht, liefern die Philosophen nur Fußnote um Fußnote.
Philosophie als Publikumspflicht – nicht als Publikationspflicht
Was aber, wenn Philosophie nicht nur Wahrheitssuche im Seminarraum ist, sondern auch Dienerin der Aufklärung? Tochter des Zweifels und Stimme der Öffentlichkeit? Dann ist das, was viele akademische Philosophen heute tun, schlicht Verweigerung. Sie schweigen verständlich. Sie sprechen unverständlich. Und sie wundern sich, dass ihnen niemand mehr zuhört.
Es ist die Abkehr vom Ethos des Denkens. Der Rückzug ins Geklüngel der Expertenzirkel mag akademisch sicher sein – geistig ist er ein Verrat. Der Philosoph, der nicht mehr spricht, verliert seine Daseinsberechtigung. Und die Gesellschaft, die ihn nicht mehr hört, verliert ein Korrektiv.
Haben sich die Philosophen selbst ausgeladen?
Das war nicht immer so. Früher saßen Naturwissenschaftler und Philosophen Seite an Seite in den großen Salons der Aufklärung. In Wien, Berlin, Paris oder London diskutierte man Fragen des Seins und Werdens, der Materie und der Moral – gemeinsam, nicht getrennt nach Fakultäten. Der Physiker brachte das Experiment, der Philosoph die Einordnung. Die Welt wurde im Gespräch gedeutet, nicht in getrennten Labors und Lesezirkeln seziert.
Heute aber: Stille im philosophischen Eck. Nicht weil die Naturwissenschaften die Philosophie verdrängt hätten – sondern weil sich die Philosophie selbst entpflichtet hat. Sie hat sich von den Salons selbst ausgeladen. Freiwillig. Aus Angst, sich zu vereinfachen. Aus Arroganz gegenüber Verständlichkeit. Aus Gewöhnung an die Echokammer der Zitierten und Zitierenden.
Während die Physiker heute über Raum und Zeit philosophieren, über Bewusstsein, Freiheit und Wirklichkeit – tun Philosophen genau das Gegenteil: Sie erklären diese Fragen zu naiv, zu präreflexiv, zu nichtanalytisch. Und verzichten damit auf das Recht zur Mitgestaltung des Weltbildes. Wenn Philosophen heute noch etwas zu sagen hätten, würden sie es nicht tun – sie würden es publizieren, in einem Journal mit Peer-Review, das nur sechs andere lesen, alle davon Kollegen.
Sie haben sich aus dem großen Diskurs verabschiedet – nicht aus Feigheit, sondern aus reiner Selbstverliebtheit. Sie wurden nicht verstoßen, sie sind selbst gegangen – freiwillig in die methodologische Gefangenschaft, als hätten sie Angst vor der eigenen Wirkungsmacht. Sie haben sich aus den Salons verabschiedet wie ein melancholischer Onkel, der merkt, dass man ihn zwar noch einlädt, aber keiner mehr zuhört.
Das Gespräch über die Welt findet weiterhin statt. – nur eben ohne sie. Früher war der Philosoph ein Deutungs-Gourmet, ein Welterklärer eben. Heute ist er Fußnotenlieferant in der methodisch desinfizierten Gedankenfabrik.
Epilog: Schluss mit dem Selbstverrat
Man stelle sich vor: Ein Immanuel Kant heute würde im Blogformat schreiben, ein Friedrich Nietzsche auf Substack publizieren, eine Hannah Arendt im Podcast sprechen. Und sie alle würden dafür gesperrt, gestrichen – aus dem Förderprogramm, dem Tagungsband, dem Wirkungskreis. Cancel culture auf höchstem „Niveau“. – Denn Denken ist heute verdächtig, wenn es die Menschen außerhalb des Elfenbeinturms erreicht.
Die Philosophie hat vergessen, dass ihr Wert nicht in der Vielzahl der Fußnoten liegt, sondern in der Reichweite des Gedankens. Precht wird nicht trotz, sondern wegen seines Erfolges abgelehnt – weil er sichtbar macht, was der akademische Betrieb verlernt hat: Denkend zu sprechen, statt sprechend zu denken.
Liebe Philosophen auf dem akademischen Hochsitz: Hört auf zu zitieren, zählt nicht ständig, wie oft ihr zitiert werdet, das ist pure Eitelkeit. Fangt an wieder zu philosophieren und lasst die Welt da draußen teilhaben. Vorbilder gibt’s in der Philosophiegeschichte mehr als genug. Stellt wieder lehrend Fragen wie Sokrates oder nutzt bildhafte Metaphern wie Platon, lasst gerne auch Humor erkennen wie Schopenhauer. Nur verlasst das Turmzimmer – geht auf den Marktplatz, wo euer Platz wäre. Schreibt Sätze, die Menschen auch verstehen – nicht nur für die Redaktionen eurer Fachmagazine oder eure Peer-Review-Partner.
Und wenn ihr Precht nicht mögt, dann fragt euch erst einmal, warum er euch stört. Vielleicht, weil er noch macht, was ihr längst aufgegeben habt: Philosophie für alle?
Abbitte
Ich will nicht ungerecht sein. Richard David Precht nannte ich oben als gutes Vorbild, weil ich weiß, dass er die Denker in ihren Elfenbeintürmen ärgert und zur Weißglut bringt. Aber neben ihm gibt und gab es schon noch Vorbilder, die sich ihrer Aufgabe als Philosophen bewusst sind – oder zumindest waren – und sehr gerne nenne ich sie als Vorbilder ganz zum Schluss, als da beispielsweise wären: Karl Popper, Peter Singer, Paul Watzlawick, Carl Jaspers, Bertrand Russel, Erich Fromm …