Autor: Kurt O. Wörl
Stelle Dir eine Welt vor, in der alle einer Meinung sind.
Klingt verlockend, – wäre aber die Hölle.
Denn wo Einigkeit herrscht, da stirbt der Verstand.
Und wo alle dasselbe sagen, ist die Wahrheit längst verhungert.
Toleranz ist das Gegenteil von Einigkeit.
Toleranz bedeutet: Ich ertrage, dass du anders bist, dass du anders denkst.
Und schlimmer noch: Ich halte es aus, dass du rechthaben könntest und nicht ich.
Toleranz ist kein Kuschelwort.
Sie klingt warm, aber sie kratzt.
Sie wird gerne auf Kaffeetassen gedruckt, aber selten in Konferenzen gelebt.
Toleranz beginnt mit dem Zuhören, nicht mit dem Zustimmen.
Aber Zuhören ist heute eine unterschätzte Kulturtechnik.
Die meisten hören nicht zu, sie warten nur auf ihren Einsatz – vor allem in Talkshows.
Wer tolerant ist, wartet nicht tauben Ohres. Er hört. Und schweigt vielleicht auch mal.
Die Intoleranz dagegen hat es bequem.
Sie kommt ohne Nachdenken aus.
Ohne Zweifel, – ohne Grautöne.
Intolerante Menschen sehen die Welt in Schwarz und Weiß –
und malen mit dem Edding-Filzstift.
Ein intoleranter Mensch sagt: „So ist es!“
Ein toleranter fragt: „Ist es wirklich so?“
Und manchmal sagt er auch: „Mag sein – aber ich sehe es anders.“
Toleranz verlangt Mut.
Denn wer tolerant ist, macht sich angreifbar.
Er widerspricht nicht sofort.
Er ruft nicht gleich nach der Polizei der Moral.
Er denkt erst – und spricht dann.
Das ist heute schon fast revolutionär.
Ein Beispiel:
Ein Kollege äußert in der Kantine politische Ansichten, die du nicht teilst.
Vielleicht empfindest du sie sogar befremdlich.
Er wählt eine Partei, die du niemals wählen würdest.
Du könntest nun die Kantine wechseln.
Oder die Sitzordnung sabotieren.
Oder – du redest mit ihm.
Du stellst Fragen.
Du hörst zu.
Du argumentierst.
Und dann gehst du nach Hause.
Ohne einen Sieg. Ohne eine Niederlage.
Nur mit dem Gefühl: Ich bin ein bisschen gewachsen.
Sich einig zu sein, dass man sich uneins ist, kann ein sehr guter Gesprächsabschluss sein.
Toleranz ist kein Sofa, auf dem sich die Welt ausruhen kann.
Sie ist eine Zumutung, eine Einladung zur Unbequemlichkeit.
Sie zwingt uns, das Andere zu dulden.
Nicht lieben. Nicht feiern. Nur dulden.
Das genügt vollkommen.
Ein zweites Beispiel:
Eine junge Frau steht mit Kopftuch in der Straßenbahn.
Ein anderes Gesicht, eine andere Sprache, ein fremder Blick.
Toleranz heißt: Ich sehe sie. Und ich sehe nur sie – und nicht das Klischee.
Ich urteile nicht sofort.
Ich frage nicht, ob sie hierher gehört.
Ich erkenne sie als Teil einer Welt, die größer ist als mein Vorgarten.
Toleranz ist nicht Gleichmacherei.
Sie setzt nicht voraus, dass alle gleich sind.
Im Gegenteil: Sie anerkennt die Unterschiede –
und erklärt sie für ertragbar.
Sie sagt: Du bist anders.
Aber du bist nicht weniger wert.
Du bist nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Du bist Du.
„Toleranz heißt nicht, dass wir keine Meinung haben.
Sie heißt nur, dass wir dem anderen seine lassen.“
Natürlich hat Toleranz Grenzen.
Sie endet dort, wo Menschen anderen ihre Würde nehmen.
Wo Gewalt ins Spiel kommt.
Wo Fanatismus die Tür eintreten will.
Wo die Freiheit der einen zur Unfreiheit der anderen wird.
Aber Achtung:
Nicht jede Unbequemlichkeit ist ein Angriff.
Nicht jede schrille Meinung ist eine Gefahr.
Nicht jedes Anderssein ist bedrohlich.
Manche Dinge sind einfach nur – anders.
Und das muss genügen.
Toleranz verlangt Unterscheidungsvermögen.
Sie verlangt Reife.
Sie verlangt die Fähigkeit, zu sagen:
„Ich finde das falsch. Aber ich verbiete es dir nicht.“
Noch ein Beispiel:
Eine Frau trägt Bart.
Ein Mann trägt Kleid.
Ein Schüler sagt „divers“ – und die Lehrerin fragt: „Was bedeutet das?“
Die Klasse lacht.
Toleranz heißt hier: Nicht lachen.
Oder: Lächeln – aber liebevoll.
Nicht alles sofort etikettieren. Nicht alles bewerten.
Zuerst: verstehen.
Dann: einordnen.
Und dann vielleicht – mitdenken.
Der intolerante Mensch sagt: „Ich bin offen. Aber das geht zu weit, ich verbiete dir das.“
Der Tolerante sagt: „Ich verstehe es nicht. Aber ich höre dir zu.“
Zwischen diesen beiden Haltungen liegt der ganze Unterschied zwischen Dialog und Dogma.
„Toleranz ist das Zugeständnis, dass auch der andere ein Mensch ist –
trotz seiner Ansichten, die uns fremd sein mögen.“
Toleranz ist nicht nur moralisch sinnvoll. Sie ist auch ethisch klug.
Denn sie verhindert die Eskalation.
Sie fördert Vielfalt.
Sie schützt das Gemeinsame im Verschiedenen.
Wo Toleranz fehlt, wird alles sofort ideologisch, zum Kriegsschauplatz.
Dann wird aus einem Kinderlied aus alter Zeit ein Politikum.
Aus einem Kostüm eine Provokation.
Aus einem Satz ein Shitstorm.
Wer tolerant ist, erlaubt dem anderen, nicht perfekt zu sein.
Und erlaubt sich selbst, nicht immer rechtzuhaben.
Toleranz heißt: Ich verteidige deine Freiheit, auch wenn du sie anders nutzt als ich.
Ich widerspreche dir – aber ich lasse dich sprechen.
Ich ärgere mich – aber ich greife nicht zum Verbot.
Ein letztes Beispiel:
Ein alter Herr sagt: „Früher war alles besser.“
Ein junger Mann sagt: „Früher war alles toxisch.“
Beide irren.
Beide leben.
Und beide dürfen reden.
Toleranz heißt: Beide haben einen Stuhl am Tisch.
Und keiner wird rausgeworfen.
Toleranz ist nicht modisch.
Sie ist nicht spektakulär.
Sie ist kein Twitter-Trend und kein Instagram-Filter, kein TikTok-Trend.
Sie ist Arbeit.
Sie ist innere Haltung.
Sie ist Selbstüberwindung.
Aber vor allem ist Toleranz eines: Immer freiwillig!
Wer Toleranz einfordert, hat sie nicht verstanden und ist ihrer ganz sicher nicht wert.
Denn das Wesen der Toleranz liegt im Gewähren – nicht im Erzwingen.
Toleranz ist keine Pflicht, sondern ein Geschenk.
Sie setzt voraus, dass ich auch das Recht hätte, nicht zu tolerieren.
Nur dann ist sie Tugend – und kein bloßer Reflex.
Wer mit erhobener Stimme „Toleranz!“ ruft, will in Wahrheit keine Duldsamkeit –
sondern Unterwerfung.
Er duldet nur die eigene Sicht – und verlangt dafür Beifall.
Nicht Akzeptanz, sondern Affirmation.
Nicht Gespräch, sondern Gehorsam.
Man erkennt den Intoleranten nicht an seiner Meinung,
sondern an der Heftigkeit, mit der er Toleranz einfordert –
und anderen aber versagt.
Das ist keine Toleranz.
Das ist moralische Erpressung.
Toleranz wird so zur Tyrannei.
Deshalb gilt:
Wahre Toleranz zeigt sich nicht im Fordern.
Sondern im Lassen.
Im Aushalten.
Im Gewähren.
Und darin, dass ich auch Nein sagen könnte –
aber es nicht tue.
Und vielleicht ist dies das Schönste an der Toleranz:
Dass sie uns lehrt, Menschen nicht auf ihre Meinung zu reduzieren.
Sondern auf das, was sie sind:
Menschen.
Zum Schluss ein alter, klarer Gedanke:
Voltaire soll gesagt haben:
„Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.“
(Das hat er zwar nie gesagt, es beschreibt nur seine Haltung, aber sie bleibt richtig und wahr.)
Leider scheint man Voltaires Haltung in unserer Zeit nicht mehr in Breite zu schätzen.
Und falls Ihr nun anderer Meinung seid, – ich halte das aus, versprochen!