Autor: Kurt O. Wörl
Prolog
Es beginnt mit einer Unruhe. Kein Aufruhr, keine Krise, sondern ein stilles, ahnendes Beben. Eine Frage, die mich nicht loslässt – obwohl ich sie nicht zu fassen vermag. Vielleicht ist es kein Gedanke, sondern ein Blick. Ein leiser Zweifel an dem, was ich sehe – und an dem, was ich nicht sehe.
Ich schaue auf die Welt, auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Dinge, in die Sterne – und nenne sie „real“. Doch ist das, was ich sehe, bereits das, was ist? Oder ist es lediglich das, was mir erscheint?
Ich spüre: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was sich zeigt und dem, was wirklich wirkt. Zwischen Oberfläche und Grund, Erscheinung und Wesen. Realität – das ist das, was meine Sinne erfassen. Greifbar, sichtbar, hörbar, fühlbar, riech- und schmeckbar, mithin also messbar und benennbar. Aber Wirklichkeit? Wirklichkeit ist das, was allem zugrunde liegt – auch wenn ich es nicht sehen, nicht hören, nicht festhalten kann. Sie ist nicht jenseits der Realität, aber nicht deckungsgleich mit ihr. Sie ist ihr Ursprung und ihre Bedingung.
Die Realität ist, was wir wahrnehmen –
die Wirklichkeit ist das, was wirklich wirkt
Lange hielt ich meine Sinne für Torwächter der Wahrheit. Doch sie sind Übersetzer – und wie jeder Übersetzer deuten sie, filtern und kürzen sie. Was sie mir zeigen, ist nicht falsch, aber es ist nicht vollständig. Demütig erinnere ich mich daran, dass jeder Adler besser sehen, der Hund besser riechen, die Katze besser hören kann als ich. Ich denke daran, dass meine Augen die Welt nur innerhalb des Lichtspektrums erkennen können. Wie die Welt jenseits dieses Spektrums sich zeigt, bleibt mir verborgen. Ich beginne zu begreifen: Das, was ich Welt nenne, ist nicht die Welt selbst. Es ist ein Abbild einer Ordnung, die nicht mit meinen Augen zu sehen ist – sondern mit einem inneren Sinn erahnt werden kann. –
Dieser Gedanke ist leicht zu denken – aber schwer auszuhalten. Denn er entzieht mir die Sicherheit der Oberfläche. Wenn die Dinge nicht sind, was sie zu sein scheinen – worauf kann ich dann vertrauen?
Und doch finde ich Trost in dieser Unsicherheit. Vielleicht ist Wirklichkeit gerade deshalb verborgen, weil sie nicht unter den Dingen liegt, sondern in ihnen. Ich beginne zu ahnen: Wirklichkeit ist nicht bloß ein philosophischer Begriff – sondern etwas Lebendiges. Etwas, das sich ausdrücken will.
Vielleicht – so wage ich zu denken – ist Wirklichkeit geistiger Natur. Vielleicht ist sie Geist selbst, Geist nicht im Sinne eines Gespenstes, sondern im Sinne eines wahrnehmenden Geists, wie er uns Menschen eigen ist. Wenn das, was wirkt, geistiger Natur ist, dann ist alles, was erscheint, Ausdruck dieses Geistes. Dann ist Materie nicht das Gegenteil von Geist, sondern seine Verlangsamung, seine Verdichtung, seine Sichtbarkeit – kurz geronnener Geist. Dann ist die Welt nicht bloß da – sie spricht. Und was sie sagt, richtet sich an mich.
Ich bin dann nicht nur Beobachter – ich bin Teilhaber an einem großen Gedanken. Und vielleicht bin ich nicht allein. Vielleicht ist alles Lebendige Teil dieses Prozesses. Vielleicht ist das, was wir Leben nennen, der Versuch der Wirklichkeit, des Weltganzen, des Weltengeists sich selbst zu erkennen – durch Form, durch Sinn, durch Erfahrung.
Wenn ich diesen Gedanken zu Ende denke, wird mir schwindlig. Denn dann bin ich nicht bloß Produkt von Genen, Zufällen und Umwelteinflüssen. Dann bin ich ein Ort, an dem das Wirkliche sich selbst begegnet. Nicht nur ich – auch das Tier, das pflanzliche Leben, vielleicht jede einzelne Zelle meines Körpers.
Ich will nicht behaupten. Ich will nur festhalten – dieses zarte, vielleicht heilige Ahnen, dass die Welt mehr ist als das, was ich sehe. Dass sie wirkt. Dass sie spricht. Und dass mein Denken, mein Spüren, mein Fragen nicht zufällig sind – sondern Antwortversuche auf eine Frage, die nicht von mir stammt.
Vielleicht ist genau das der Sinn: Dass der Weltengeist – wenn ich ihn so nennen darf – sich durch uns erkennt? Ich will darüber nachdenken.
Die Schwelle zwischen Realität und Wirklichkeit
Vielleicht war es in einem jener stillen Augenblicke, in denen man innehält, nicht weil man will, sondern weil etwas im Inneren innehält. Etwas, das nicht fragt: „Was sehe ich?“ – sondern: „Was sehe ich wirklich?“
Die Dinge lagen vor mir wie immer. Die Hand auf der Tischplatte, der Schatten des Fensters, das Licht auf dem Boden. Und doch – nichts schien selbstverständlich. Ich schlug mit der Hand leicht auf den Tisch, hörte den dumpfen Ton, spürte den Widerstand, sah die Bewegung meiner Finger. „Realität!“, sagte ich zu mir. Doch dann begann etwas in mir zu fragen: „Was ist es, das da wirkt?“ Was hält meine Hand auf? Was bedeutet dieser Stoß? Ist es die Härte des Holzes – oder ist es etwas anderes?
Und plötzlich war die Wirklichkeit da. Nicht als sichtbare Größe – sondern eher als Ahnung: Dass nicht das Holz meine Hand stoppt, sondern Kräfte, Felder, die sich abstoßen, weil gleiches sich von gleichem trennt. Dass das, was ich „Berührung“ nenne, in Wahrheit Abstand ist. Dass das, was ich „Sehen“ nenne, nur der Reflex von Licht ist, das irgendwo anders geboren wurde. Dass das, was ich „Welt“ nenne, vielleicht nur die Oberfläche eines tieferliegenden Seins, eine Erscheinung ist.
Ich begann, Wirklichkeit und Realität zu unterscheiden. Realität – das ist das Sichtbare, das Messbare, das, was unsere Sinne erfassen können. Wirklichkeit – das ist das, was wirklich wirkt, unabhängig davon, ob ich es wahrnehme. Was wirklich wirkt, ist nicht sichtbar – aber ohne das Wirkende gäbe es nichts zu sehen.
Und so trat ich ein in einen Gedankengang, der mich nicht mehr losließ. Was, wenn das, was wir Materie nennen, gar keine Substanz ist, sondern nur Wirkung? Was, wenn all die Dinge, die wir als fest, massiv, stofflich erfahren, in Wahrheit nur Bewegungsformen eines Unsichtbaren sind?
Was, wenn alles, was ist, nur eine Art ist, wie der Geist sich selbst zur Erscheinung bringt?
Der Blick des Wirkenden
Ich wandte meinen Blick nach außen – zu den Sternen. Sie schienen mir fest, ewig, majestätisch. Doch ich wusste: Ich sehe nicht den Stern – ich sehe sein Licht. Es war Jahrtausende, vielleicht Jahrmillionen unterwegs. Ich sehe eine Realität – aber nicht die Wirklichkeit des Sterns. Ich sehe ihn – aber nicht das Wirkende. Was ich sehe, ist die Spur. Das Wirkliche selbst bleibt mir verborgen. Und so kam mir der Gedanke: Was, wenn die Welt in ihrem tiefsten Wesen nicht aus Materie besteht – sondern in Wahrheit aus Geist? Nicht Geist als Meinung oder Gefühl – sondern Geist als Prinzip des Wirkens. Geist als Ordnung, als Beziehung, als Information. Geist als das, was allem Form gibt, bevor Form im Realen erscheint. Materie, so begriff ich, könnte das Sichtbarwerden des Geistes sein – eine geronnene, verlangsamte Erscheinung dessen, was in Wahrheit immer in Bewegung ist.
Das Lebendige als Spiegel des Ganzen
Ich begann, das Lebendige neu zu sehen. Nicht nur den Menschen – alles, was lebt. Die Katze am Fenster, die Fliege auf dem Glas, den Baum am Straßenrand. Was tun sie, wenn ich sie nicht betrachte? Was wissen sie? Was spüren sie? Der Baum hat keine Augen. Aber er spürt das Licht. Er wächst – nicht in den Raum, sondern zum Sinn. Die Pflanze lockt Insekten, sendet Duft, sichert ihre Art. Sie reagiert auf Jahreszeiten, schützt sich, kommuniziert. Sie erinnert sich – nicht wie ein Mensch, aber wie ein Wesen, das Teil hat an einer Ordnung.
Ist Bewusstsein nur dann Bewusstsein, wenn es „Ich“ sagen kann? Oder ist auch das, was stumm ist, teilhaftig an einer Form des Wissens, die wir nur nicht erkennen, weil sie ohne Sprache ist? Dann begann ich, den Tieren zuzuhören – nicht mit den Ohren, sondern mit einer anderen Art von Hören. Einem Hören für Bedeutung ohne Worte. Ich begriff: Wenn das Wirkende in allem Lebendigen wirkt, dann ist das Lebendige selbst das Auge, das Ohr, die Hand – des Geistes, der sich selbst erfährt.
Der Mensch als Schwelle
So kam ich auf den Menschen zurück. Auf mich. Auf uns. Wir, die wir fragen. Wir, die wir begreifen wollen, warum wir begreifen können. Wir, die wir in den Sternenhimmel sehen und wissen, dass wir sehen. Was unterscheidet uns vom Baum, vom Tier, von der Zelle? Wir sind nicht nur Wahrnehmende – wir sind Deuter. Wir erkennen – und wir stellen unsere Erkenntnis in Frage.
Ist das, was wir „Bewusstsein“ nennen, nicht in Wahrheit der Moment, in dem der Weltengeist sich selbst ins Gesicht blickt? Vielleicht sind wir nicht der Gipfel der Evolution – sondern ihr Spiegelpunkt. Der Moment, an dem das Werden sich umwendet und das Sein fragt: „Was bin ich?“ – und sich antwortet: „Ich bin Du selbst.“
Das Wissen der Zellen
In dieser Größe kam mir der Zweifel. Was, wenn nicht wir denken – sondern gedacht werden? Was, wenn unser Geist Produkt eines tiefer liegenden Wirkens ist? Ich blickte in mich, in meine Biologie, in den Körper, in seine Milliarden Zellen. Jede dieser Zellen lebt, stirbt, reagiert, erinnert, kommuniziert. Sie weiß nicht, was ein Mensch ist – aber sie handelt als wüsste sie es. Das, was wir als „Ich“ erleben, ist nur die sichtbare Spitze eines lebendigen Verbundes. Ich bin nicht „Ich“ – ich bin ein Chor von Teilhabe. Ein Organismus aus Geist, in dem das Wirkende sich selbst strukturiert.
Bei diesem Gedanken kommt mir Goethes Gedicht „Epirrhema“ in den Sinn:
„Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.“
Wozu dieser Aufwand?
Die Frage drängt sich auf: Wozu dieser Aufwand? Milliarden von Zellen, Geburten, Tode? Ich blickte in die Gene – nicht als Moleküle, sondern als Erinnerung. Als Wissen des Lebens über sich selbst. Als fließende Information, immer ausgerichtet. Nicht auf ein „Was“ – sondern auf ein „Dass“. – Dass Leben weitergeht. – Dass Form nicht vergeht. – Dass das Wirkliche alles Seiende durchfließt.
Vielleicht ist das Universum nicht nur da, dass etwas ist – sondern damit etwas erkennt, dass es ist?
Religion als Frühform des Erkennens
Ich dachte an die Religionen – Mythen, Gebete, Tränen. Lange sah ich sie als Ersatz für Wissen. Doch nun begreife ich: Religion war vielleicht nie Antwort – sondern der erste Versuch, die Frage nicht zu verlieren. Wenn der Weltengeist sich in Stufen erkennt, vielleicht ist Religion das erste Ahnen? Bevor der Mensch wusste, was er wusste, wusste er, dass da etwas Größeres ist. Etwas, das sich meldet – in der Stille, im Staunen, im Schrei.
Der Sinn im Ganzen
Und so stehe ich nun da – nach einem langen inneren Weg. Ich frage nicht mehr: Was ist das Universum? Ich frage: Was ist das Universum an mir? Ich frage nicht mehr: Was bedeutet das Ganze? Sondern: Wo bin ich in dieser Bedeutung? Und ich höre eine Antwort – nicht mit Ohren, sondern mit innerem Stillwerden: Du bist der Punkt, an dem das Ganze sich selbst erkennt. Du bist der Blick, mit dem das Wirkende sich selbst sieht. Du bist nicht außerhalb – Du bist das Wirkliche, in einem Moment seiner selbstbewussten Form.
Epilog
Ich schließe diesen Monolog mit der Erkenntnis: „Wirklichkeit ist das, was wirkt – Realität nur das, was erscheint.“ Unsere Realität ist zu Materie geronnener Geist. Wir selbst sind daraus geformt und benötigen sie, damit wir im wahrsten Sinne etwas „begreifen“ können, – weil wir in ihr leben.
Wirklichkeit aber besteht aus Kräften, aus Teilchen ohne Masse, aus Feldern, Quanten und Quarks in den Atomen, die nicht aus Materie sind, sondern zu 99,99999999… Prozent aus Vakuum bestehen, aus fast nichts also – wie der Gedanke, der unserem Geist entspringt. Das heißt aber auch: Das Universum beginnt erst zu existieren, wenn es von einem Geist wahrgenommen – von unserem Geist und über uns vom Weltengeist – und damit zur Realität wird.
Ich kann das alles nicht beweisen. Ich will es auch nicht. Denn Wahrheit ist nicht nur das, was bewiesen werden kann. Die Quantenphysiker sind meiner Ahnung aber dicht auf der Spur. Denn: Wahrheit ist auch das, was wirkt – was wandelt – was bleibt, wenn alle Fragen still werden und nur noch Staunen bleibt. Und in diesem Staunen bin ich sicher, dass der Weltengeist in mir und mit mir sein eigenes Bild betrachtet. Dass ich dieses Bild nicht besitze – sondern bin.