Am Anfang war nicht einmal das Nichts

Das Universum als lernender Organismus - mit Erziehungsberechtigung

Von den ersten Sekunden des Universums bis zu den kleinen Marotten unserer Zivilisation

Symbolbild von gene1970 auf Pixabay

Autor: Kurt O. Wörl

Von den ersten Sekunden des Universums bis zu den kleinen Marotten unserer Zivilisation – dieser Essay zieht einen weiten Bogen. Er zeigt den Kosmos als neugierigen Organismus, der uns mit Krisen, Zufällen und Herausforderungen füttert, um aus uns möglichst viel herauszuholen. Mal ernst, mal augenzwinkernd, mit Seitenhieben auf menschliche Eitelkeiten – ein Streifzug durch Physik, Philosophie und Alltag, der sich ebenso auf aktuelle kosmologische Modelle wie auf menschliche Schwächen stützt. Am Ende bleibt der Verdacht: Das Universum ist nicht nur genial, sondern hat auch einen ziemlich schrägen Humor.

Es gibt Sätze, die klingen harmlos, bis man sie zu Ende denkt. „Vor dem Urknall gab es nichts“ ist einer davon. Schon das erste Wort ist eine Stolperfalle: Wie will man über ein „Davor“ reden, wenn Zeit selbst – wie Stephen Hawking es formulierte – erst mit dem Urknall begann. Vorher gab es kein „Vorher“.

Physiker, sonst nüchterne Leute, müssen an dieser Stelle zu poetischen Verrenkungen greifen: Raum, Zeit, Materie, Energie – alles entsprang einer kosmologischen Singularität, einem Zustand so unfassbarer Dichte, dass er, in eine Kaffeetasse gefüllt, vermutlich den Tisch, den Kaffeetrinker und den Rest des Universums in sich verschluckt hätte.

Und doch: Wer sagt, dass nicht etwas diesem Knall vorausging? Einige kosmologische Modelle – etwa die Big Bounce-Hypothese – vermuten einen kollabierten Vorgängerzustand, vergleichbar mit einem gigantischen Schwarzen Loch, dessen Ende den Anfang markierte. Vielleicht inszenierte das Universum so die größte Quantenfluktuation aller Zeiten. Manche nennen das die „Schöpfung“, andere physikalische Notwendigkeit. Das Ergebnis war jedenfalls spektakulär: Innerhalb eines Augenblicks entstand alles – von den ersten Quarks bis zu uns, die wir heute darüber nachdenken.

Die stille Bühne des Higgsfelds

Mit dem Raum entstand auch das Higgsfeld. Unsichtbar, unfühlbar – und doch allgegenwärtig. Ein kosmisches Umkleidezimmer, in dem Teilchen ihre „Masse anprobieren“. Ohne dieses Feld wären Elektronen, Protonen und Neutronen masselos, Materie ein Gerücht.

Im Standardmodell der Teilchenphysik ist das Higgsfeld ein skalares Feld, das über den Higgs-Mechanismus Elementarteilchen mit Masse versieht. Es ist weder „Dunkle Materie“ noch „Dunkle Energie“ und auch kein interstellarer Staub – vielmehr eine Eigenschaft des Raumes selbst, so wie Temperatur eine Eigenschaft der Luft ist. 2012 gelang am Kernforschungszentrum CERN der experimentelle Nachweis des zugehörigen Higgs-Bosons, – auch „Gottesteilchen“ genannt – womit eine fast fünfzig Jahre alte Vorhersage bestätigt wurde.

Interessant wird es, wenn man bedenkt: Wird Masse in Energie umgewandelt, verschwindet das Higgsfeld nicht. Es bleibt von der Detonation unbeeindruckt – ein Grundzustand des Vakuums mit konstantem „Vakuumerwartungswert“, wie es die Physiker nennen. Oder, weniger technisch: wie ein alter Opernplatzanweiser, der nach der Vorstellung geduldig auf die nächste wartet. Ein Grundton, der nie verstummt. Vielleicht sogar ein stiller Mitspieler in der großen kosmischen Bilanz – nur übersehen wir ihn, weil unsere Sinne für das Unsichtbare nicht ausgelegt sind.

Antimaterie und ein übriggebliebener Kosmos

Nach dem Urknall entstanden Materie und Antimaterie in fast identischen Mengen – fast, errechneten die Physiker. Ein winziger Überschuss an Materie reichte, um das Universum zu füllen, in dem wir leben. Der Rest löste sich in einem gigantischen Feuerwerk zu Strahlung auf.

Das Higgsfeld verleiht Teilchen und Antiteilchen gleichermaßen ihre Masse – ein „Anti-Higgsfeld“ gab es nie. Es blieb einfach bestehen, unbeeindruckt vom großen Verschwinden, wie eine Bühne nach einer abgebrochenen Generalprobe.

Ein Überschuss an „feldhafter Präsenz“ könnte also noch immer den Raum füllen – ohne selbst Materie zu sein, aber mit Wirkung. Eine unsichtbare Gravitation, die nicht zur dunklen Materie wird, aber ähnlich wirkt. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kosmos im Hintergrund etwas verlässlich wirken lässt, während wir vorn das Drama betrachten und nichts begreifen.

Determinismus und der höfliche Zufall

„Zufall ist vielleicht das Pseudonym Gottes, wenn er nicht selbst unterschreiben will“, soll Théophile Gautier einmal gesagt haben. Das Universum braucht in meinem Modell aber gar kein Pseudonym – denn echter Zufall ist selten, zumindest in unserem Maßstab.

Wenn ich in der Stadt einen alten Freund treffe, geschieht das nicht „einfach so“, sondern weil wir beide entschieden haben, an diesem Tag dort zu sein – und weil die Wege so verlaufen, dass sie sich kreuzen mussten. Selbst der Meteor, der die Dinosaurier auslöschte, fiel nicht planlos vom Himmel: Er folgte einer Bahn, die sich schon seit Jahrmillionen grundsätzlich berechnen ließ. Tragisch nur, dass die Dinosaurier keinen Lehrstuhl für Himmelsmechanik hatten.

Die Physik gesteht dem Zufall allenfalls in der subatomaren Welt einen kleinen Auftritt zu – und selbst da ist er umstritten. Vieles, was wir für Zufall halten, ist in Wahrheit nur das Ergebnis von Fäden, die wir nicht sehen, weil unser Blick nicht weit genug reicht.

Das Universum als Informationssammler

So betrachtet, ist der Kosmos weniger ein präzises Uhrwerk als vielmehr ein Organismus – ein riesiges, geduldiges Wesen, das vor allem eines tut: Informationen sammeln. Leben beginnt mit Erbinformation, entwickelt sich zu Wahrnehmung und im besten Fall zu einer Spezies, die sich selbst und ihre Umwelt reflektiert. Wir sind, ob wir wollen oder nicht, Werkzeuge in diesem Prozess: keine Krone der Schöpfung, sondern ihre Schreiberlinge, beauftragt, jedes Detail in den großen Speicher einzutragen. (in meinem Beitrag „Die Welt ist Geist“ habe ich mich mit diesem Gedankenexperiment näher befasst).

Der Gedanke, dass das Universum über uns „lernt“, ist nicht abwegiger als die Vorstellung, dass es uns einfach so hervorgebracht hat. Wenn es Informationen „will“, dann sind wir seine neuronalen Enden, verstreut in einem Spiralarm der Milchstraße – wie Bakterien in einem Darm, die ihr kleines Universum beackern, ohne zu ahnen, welch großem Organismus sie sie wirklich dienen.

Krisen als Vitamin für die Evolution

Wer den Menschen verstehen will, sollte ihn nicht in bequemen Zeiten betrachten. Unsere größten Fortschritte entstanden nicht im Schlaraffenland, sondern unter Druck. Die Steinzeitmenschen entwickelten Werkzeuge und Waffen, weil sie weder Raubtierzähne noch schnelle Fluchtbeine hatten, um in einer gefährlichen Welt zu überleben. Städte wurden ummauert, weil es Feinde gab. Seefahrt entstand, weil das Land am Meer endete. Mangel war stets der Geburtshelfer der Genialität.

Auch im Großen zeigt sich dieses Muster: Ganze Zivilisationen sind an Überfluss und Selbstzufriedenheit – also in Dekadenz – zugrunde gegangen – Rom, Byzanz, das China der Ming-Dynastie. Man verlor den Blick für Bedrohungen, pflegte lieber Etikette und Ästhetik, bis eine Krise kam, der nichts mehr entgegengesetzt werden konnte, weil niemand darauf vorbereitet war.

Vielleicht ist das der heimliche Plan des Universums: seinen vielversprechenden Projekten nie zu lange Ruhe zu gönnen. Irgendwann klingelt es an der Tür – mal mit Krieg, mal mit Seuche, mal mit einem Meteor. Und der Wecker kennt keine Snooze-Taste.

Klimawandel: Feind oder Fitnessstudio?

Vielleicht ist der Klimawandel gar nicht der Weltuntergang, den die Apokalyptiker beschwören, sondern ein gnadenloses Fitnessprogramm. Er zwingt uns, Technologien zu erfinden, die uns auch unter Extrembedingungen am Leben halten – von wasserunabhängiger Landwirtschaft über CO₂-neutrale Energiequellen bis hin zu ersten Versuchen, fremde Planeten bewohnbar zu machen.

Gesellschaftlich heißt das: kooperieren lernen, Migration ordnen, Ressourcen schonen. Ohne diese Krise hätten wir manches davon vielleicht noch Jahrhunderte vor uns hergeschoben. Aus Sicht eines informationshungrigen Universums ist das ein gutes Geschäft: ein paar Jahrzehnte Schweiß und Tränen – für einen gewaltigen Sprung im kollektiven Erfahrungsschatz.

Die naive Sehnsucht nach außerirdischen Gesprächspartnern

Wir schicken Sonden, Signale und Grußbotschaften hinaus ins All, als würden wir dem Nachbarn über den Gartenzaun zuwinken – nur dass dieser „Nachbar“ vielleicht Millionen Lichtjahre entfernt wohnt. Oder noch gar nicht geboren ist. In kosmischen Maßstäben ist Gleichzeitigkeit schließlich eine seltene Laune.

Und selbst wenn irgendwo eine Zivilisation unsere Botschaft empfängt – warum sollte sie uns freundlich gesinnt sein? Vielleicht betrachten sie uns wie eine Pavianhorde auf einer hübschen Lichtung: interessant, aber problemlos zu ersetzen. Die Vorstellung, dass „die da draußen“ nur auf Smalltalk warten, ist charmant. Aber womöglich auch nur ein schneller Weg, sich für den intergalaktischen Darwin-Award zu qualifizieren.

Die Luxuskrankheit der Zivilisation

Ohne echte Herausforderungen neigt der Mensch dazu, sich in Nebenschauplätzen zu verlieren. Dann streitet man über Gender-Sternchen, definiert Geschlecht zur freien Auswahl um und macht aus kleinsten Kränkungen gesellschaftliche Großereignisse. Was in Maßen kultivierte Zivilisiertheit ist, kann in Extremen zur Selbstparodie werden – eine Gesellschaft, die mehr Zeit für die Gestaltung von Toilettenpiktogrammen als für die Wartung ihrer Stromnetze verwendet.

Komfort macht empfindlich, Empfindlichkeit senkt die Belastbarkeit. Wir verlernen den Umgang mit Widrigkeiten, züchten eine „Gesellschaft von Zerbrechlichen“ heran, die schon eine schlechte Schulnote als Traumata empfindet – und beim nächsten echten Sturm dasteht wie ein empörter Premierenbesucher auf einem sinkenden Schiff.

Das Universum schreibt weiter

Für mich ist der Kosmos weder wohlwollender Vater noch strafende Mutter, sondern ein unstillbar neugieriger Chronist. Er will sehen, wie wir mit den Karten spielen, die er uns zusteckt – und mischt sie neu, wenn wir zu lange im selben Blatt verharren.

Krisen sind seine Aufforderung, den nächsten Absatz zu schreiben. Kein Strafgericht, sondern Rohmaterial für das große Buch, das seit dem Urknall gefüllt wird. Wir sind darin nicht der Held der Geschichte – vielleicht nicht einmal ein Kapitel –, aber eines, das umso spannender wird, je mehr wir aus unseren Prüfungen machen.

Der Mensch als Darmbakterium des Kosmos

Wenn ich den Menschen mit einem Darmbakterium vergleiche, ist das keine Beleidigung. Bakterien sind effizient, anpassungsfähig und unverzichtbar – und völlig ahnungslos, dass sie Teil eines größeren Organismus sind, der ohne sie nicht leben könnte.

Vielleicht sind auch wir so: Wir forschen, entdecken, streiten – und ahnen nicht, welchem gewaltigen Organismus wir in Wahrheit dienen. Vielleicht ist das Universum selbst dieser Organismus, und wir sind nur ein winziger Teil seines mikrobiellen Nervensystems. Eine charmante Demütigung, wenn man bedenkt, wie sehr wir uns als „Krone der Schöpfung“ inszenieren.

Gott, das Universum und der Hunger nach Erfahrung

Religiöse Menschen verzweifeln oft daran, dass ihr „lieber Gott“ Gebete unerhört lässt. Priester trösten dann gern mit dem Satz: „Gottes Wege sind unergründlich.“

In meinem Modell – in dem „Gott“ nur ein Platzhalter für das lernende Universum ist – ist dieser Wille gar nicht so unergründlich. Zugleich löst es das Theodizee-Problem in bloßes Nichts auf. Das Universum hat kein besonderes Interesse an unserem persönlichen Glück – aber es will erfahren.

Zu diesem Erfahrungsschatz gehört nun einmal auch das Erleben von Schmerz, Hunger, Verlust, Gewalt und Katastrophen. Grausam aus unserer Sicht, ja – aber Teil der Vollständigkeit. Ein Universum, das nur Sonnenschein und Harmonie kennt, wäre so begrenzt wie ein Koch, der sein Leben lang nur Nudeln mit Tomatensoße serviert.

Die Lehre daraus: Sollte es je einer Gesellschaft gelingen, sich ein Schlaraffenland zu kreiern, es würde durch die Realität des Weltenbaus nicht lange bestehen können.

Krieg als Kosmos-Personaltrainer

Heraklit nannte den Krieg den „Vater aller Dinge“. In meinem Modell ist er eher der Personaltrainer des Universums – sehr unangenehm, aber überaus wirkungsvoll. Er zwingt Gesellschaften, neu zu denken, Ressourcen neu zu verteilen, Technologien schneller voranzutreiben.

Putins Angriffskrieg hat Europa aus der bequemen Friedensillusion gerissen und das Bewusstsein für eine notwendige Wehrhaftigkeit zurückgebracht. Trumps politische Disruptionen – ob man sie schätzt oder nicht – haben Debatten wiederbelebt, die in selbstzufriedenen Demokratien oft nur noch als Pflichtübung galten. Das Universum scheint ein Gespür für solche unbequemen Weckrufe zu haben.

Ein Universum mit Humor (nur nicht unserem)

Falls das Universum Humor hat, dann wohl in einer Form, die wir nicht erkennen – nicht, weil er zu plump wäre, sondern zu groß. Für uns ist er wie ein Insider-Witz, den nur versteht, wer seit 13,8 Milliarden Jahren im Publikum sitzt. Uns bleibt aber nur der Wimpernschlag im Raum-Zeit-Gefüge von 80, wenn’s gut läuft 90 Jahren.

Vielleicht schmunzelt es, wenn wir stolz verkünden, „das Weltall verstanden“ zu haben – nur um Jahre später festzustellen, dass unsere großartige Theorie nicht einmal den eigenen Keller aufräumen konnte. Vielleicht grinst es, wenn wir seine Schönheit in mathematische Gleichungen pressen, als könnte man einen Walzer auf einen Triangel-Ton reduzieren.

Besonders amüsant dürfte es finden, wenn wir versuchen, es direkt anzusprechen – über riesige Radioteleskope, hochkonzentriert, technisch perfekt. Und dann kommt … nichts. Keine Antwort. Kein „Guten Tag“. Vielleicht ist niemand am anderen Ende – oder schlimmer: Vielleicht ist jemand da, hört zu und denkt sich: „Ach, die Menschlein. Wie süß. Lass sie noch ein bisschen zappeln.“

Das erinnert an die Ironie Blaise Pascals: „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm von deinen Plänen.“ Ersetzt man „Gott“ durch „Universum“, bekommt der Satz eine neue Dimension – wie eine Bühne, auf der wir die Witze liefern und der Kosmos das Gelächter. Nur leider ist dieses Gelächter so leise, dass es im Rauschen der Hintergrundstrahlung für uns kaum wahrnehmbar ist. Aber wer sich bemüht, kann es vielleicht doch zumindest als Ahnung wahrnehmen.


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