Autor: Kurt O. Wörl
Deutschland lebte lange vom Konsens – getragen von einer bürgerlichen Mitte, die Kompromisse möglich machte. Heute scheint diese Mitte brüchig. Gendersprache, Klimapolitik, Migration und Identität sind zu neuen Frontlinien geworden, hinter denen sich ein tieferes Ziel verbirgt: die Umformung der Gesellschaft selbst.
Dieser Teil 1 von „Demokratie im Stresstest“ führt zurück zu den Wurzeln und zeigt, weshalb Ideologie stets ein Denkgefängnis war, ist, sein wird und warum nur die bürgerliche Gesellschaft Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand sichern kann.
Vom Konsens zur Polarisierung – ein Rückblick
Die Bundesrepublik Deutschland war über Jahrzehnte geprägt von einem bemerkenswert stabilen Konsens. Trotz parteipolitischer Konkurrenz bestand eine unausgesprochene Einigung über Grundwerte und Richtung: Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft, internationale Einbindung. Konflikte gab es, gewiss, doch sie wurden im Modus des Ausgleichs geführt – getragen von einer breiten bürgerlichen Mitte, die weder radikal links noch radikal rechts verortet war.
In den letzten Jahren hat sich dieses Bild sichtbar gewandelt. Statt Konsens dominiert Polarisierung, statt nüchterner Sachpolitik bestimmen symbolisch aufgeladene Themen den öffentlichen Raum. Debatten über Gendersprache, Migration, Klima oder Identitätspolitik wirken weit stärker spaltend als ihr sachlicher Gehalt eigentlich rechtfertigen würde. Sie sind, so scheint es, zu Stellvertreterkonflikten geworden, in denen sich tieferliegende kulturelle und gesellschaftliche Brüche entladen.
Wer verstehen will, weshalb die Gesellschaft heute an einem Punkt steht, an dem ein offener Bürgerkrieg zwar nicht bevorsteht, aber in pessimistischen Szenarien denkbar erscheint, muss zurückblicken. Denn die Wurzeln der Polarisierung liegen nicht nur im Heute, sondern in historischen Mustern, die sich wiederholen – wenn auch in neuen Gewändern.
Historische Tiefenschicht: Weimar, DDR, Ostblock
Die Weimarer Republik gilt als warnendes Beispiel für das Scheitern einer Demokratie an Polarisierung. Linke und rechte Extremisten trugen den politischen Kampf mit erbarmungsloser Härte aus, während die bürgerliche Mitte zwischen den Fronten zerrieben wurde. Die KPD bekämpfte nicht etwa die NSDAP, sondern erklärte die SPD zum Hauptfeind – in der Überzeugung, nach Hitler werde die eigene Stunde schlagen. Eine fatale Fehleinschätzung: Statt zur Revolution führte die Radikalisierung ins Verderben.
Auch die DDR liefert Anschauungsmaterial. Sie beanspruchte für sich, eine „sozialistische Alternative“ zur bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Tatsächlich gründete sie auf einem ideologischen Monopol, das Freiheit, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit unterdrückte. Gleichstellung der Frauen wurde dort real vorangetrieben – allerdings nicht aus liberaler Einsicht, sondern als staatliches Verfügungsinstrument. Am Ende stand wirtschaftlicher Niedergang, politische Erstarrung und ein System, das 1989 in sich zusammenbrach.
Der weitere Blick nach Osteuropa bestätigt das Muster: Ob in Polen, Ungarn oder Tschechien – überall kollabierten die staatssozialistischen Gesellschaften, weil sie Wohlstand nicht sichern, individuelle Freiheit nicht respektieren und innere Widersprüche nicht ausgleichen konnten.
Auch die Gegenwart kennt Beispiele: Venezuela, Kuba oder Nordkorea zeigen, dass Versuche, Gesellschaft über Ideologie statt über freie Institutionen zu ordnen, am Ende nicht nur Armut, sondern Unterdrückung und Gewalt hervorbringen.
Die neuen Spaltthemen: Gender, Migration, Klima, Identitätspolitik
Die heutige Polarisierung speist sich aus Themen, die objektiv sehr unterschiedlich gelagert sind, in der Wirkung jedoch dasselbe Muster teilen: Sie greifen in Grundfragen des Alltagslebens ein und werden mit moralischem Absolutheitsanspruch vorgetragen.
Gendern:
Was als sprachpolitische Maßnahme zur Sichtbarmachung von Frauen begann, hat sich zu einem Kampf um Deutungshoheit über die Sprache selbst entwickelt. Grammatische Kategorien werden mit biologischen verwechselt, und aus einer ursprünglich akademischen Debatte ist eine gesellschaftliche Spaltungslinie geworden.
Migration:
Statt nüchterner Steuerung erlebte Deutschland seit 2015 eine weitgehend unkontrollierte Einwanderung. Die Folge sind überlastete Schulen, Integrationsprobleme, Mietraumverknappung und eine öffentliche Diskussion, die zwischen „offenen Grenzen“ und „Festung Europa“ kaum Zwischentöne kennt.
Klima:
An sich eine naturwissenschaftliche Herausforderung, wird das Thema in politischen Milieus zu einer quasi-religiösen Frage stilisiert. Wer die Maßnahmen kritisiert, gilt als „Klimaleugner“ – ein Begriff, der bereits das argumentative Feld moralisch ausgrenzt.
Identitätspolitik:
Ursprünglich aus den USA übernommen, wird das gesellschaftliche Feld zunehmend entlang von Opfergruppen strukturiert. Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung werden zur Primärkategorie politischer Teilhabe erklärt. Das Resultat ist weniger Gleichheit, sondern neue Hierarchien – teilweise mit rassistischen Aspekten.
Gemeinsam ist all diesen Themen: Sie lassen wenig Raum für pragmatische Zwischentöne und Konsens. Die Logik lautet: Wer widerspricht, ist nicht andersdenkender Mitbürger, sondern moralisch diskreditiert.
Das Ziel: Die Dekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft
Die Spaltthemen sind nicht zufällig gewählt. Sie folgen einer theoretischen Linie, die sich seit den 1960er Jahren etabliert hat. Die „68er“-Bewegung verstand sich nicht nur als Protest gegen konkrete Missstände, sondern als Projekt zur Dekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft selbst.
Antonio Gramsci, der marxistische Theoretiker, hatte den Weg gewiesen: Wer Macht erobern will, muss zuerst die kulturelle Hegemonie gewinnen – Sprache, Medien, Universitäten. Herbert Marcuse ergänzte, dass „repressive Toleranz“ gebiete, konservative Stimmen nicht nur zu bekämpfen, sondern ihnen grundsätzlich die Legitimität abzusprechen. Und Rudi Dutschke formulierte den „langen Marsch durch die Institutionen“, der über Jahrzehnte hinweg die kulturellen Schaltstellen prägen sollte.
Das Ziel war nie nur Reform, sondern eine tiefgreifende Umgestaltung: Familie, Nation, Religion, Geschlecht – all das sollte aufgelöst, dekonstruiert, überwunden werden. Was an ihre Stelle treten sollte, blieb vage. Sicher war nur: Die bürgerliche Gesellschaft, wie sie sich nach 1945 etabliert hatte, galt als Feindbild.
Ein besonders drastisches Beispiel liefert die Frühphase der Grünen. In ihrem Bundesprogramm von 1980 fanden sich Passagen, die „einvernehmliche Sexualität“ auch zwischen Erwachsenen und Kindern straffrei stellen wollten. Hinter dieser Forderung stand die Einflussnahme pädophiler Strömungen, die in den Anfangsjahren der Partei offen mitwirkten.
Nichts hätte die bürgerliche Gesellschaft stärker erschüttern können als die Aufweichung des Schutzes von Kindern – dem wohl elementarsten Fundament jeder zivilisierten Ordnung. Erst Jahrzehnte später räumte die Partei diesen „schweren politischen Fehler“ ein und distanzierte sich. Dass eine solche Position überhaupt programmatisch formuliert werden konnte, zeigt aber drastisch, wie weit Teile des links-alternativen Milieus bereit waren, das Bestehende zu dekonstruieren – selbst um den Preis fundamentaler Schutzrechte.
Strategien des links-grünen Spektrums:
Institutionen als Hebel
Wer die kulturelle Deutungshoheit erlangen will, muss die Institutionen beherrschen, die Gesellschaft prägen: Schulen, Universitäten, Medien, Justiz. Genau hier setzte die Strategie des „langen Marschs durch die Institutionen“ an.
Öffentlich-rechtliche Medien:
ARD und ZDF verstehen sich offiziell als „überparteilich“ und „ausgewogen“. In der Praxis haben sich aber über Jahrzehnte Strukturen herausgebildet, die bestimmte Narrative privilegieren: Diversität, Gender, Migration, Klimapolitik. Wer innerhalb der Redaktionen diesen Kurs kritisch infrage stellt, riskiert Karriereknicke. So entsteht eine subtile, aber wirksame Selbstdisziplinierung: Man sendet, was in der Redaktion als „Common Sense“ gilt – und dieser Common Sense ist deutlich links der Mitte verortet.
Universitäten:
Der akademische Raum gilt traditionell als Labor neuer Ideen. In den letzten Jahrzehnten ist er in Teilen jedoch zum Biotop für Identitätspolitik geworden. Lehrstühle für Gender Studies, Postcolonial Studies oder Queer Theory genießen eine kulturelle Reichweite, die weit über ihre wissenschaftliche Substanz hinausgeht. Sie prägen die Sprache, in der gesellschaftliche Debatten geführt werden, und erzeugen einen normativen Druck: Wer widerspricht, gilt als „reaktionär“ oder „strukturell diskriminierend“.
NGOs und Stiftungen:
Viele Nichtregierungsorganisationen sind nicht neutral, sondern weltanschaulich klar positioniert. Sie setzen politische Agenden – von Klimapolitik über Migrationsförderung bis zur Sprachregelung. Unterstützt von staatlichen Fördermitteln wirken sie wie Verstärker einer bestimmten Ideologie.
Justiz und Rechtspolitik:
Auch im juristischen Bereich hat die ideologische Prägung Einzug gehalten. Urteile und Rechtskommentare spiegeln zunehmend eine Gesinnungsethik wider: etwa im Bereich des Antidiskriminierungsrechts oder bei der rechtlichen Legitimation von Trans-Selbstbestimmung. Kritische Stimmen beklagen, dass das Recht nicht mehr primär dem Prinzip der Normenklarheit, sondern einem politisch gewünschten Ergebnis folgt.
Ein besonders aufschlussreiches Beispiel bot zuletzt die Personalie Frauke Brosius-Gersdorf. Die Juristin genießt in Fachkreisen zwar Anerkennung, hat sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit jedoch vor allem mit der verfassungsrechtlichen Legitimation links-progressiver Projekte befasst – von Genderfragen über Gleichgeschlechtliche Ehe, Schwangerschaftsabbruch, Ehegattensplitting, Frauenquote und Paritätsgesetz, Kopftuch im Staatsdienst, Impflicht bis hin zum AfD-Verbotsverfahren.
Als die SPD sie heuer für das Amt einer Bundesverfassungsrichterin vorschlug, stieß dies bei Abgeordneten der Union auf Widerstand. Nicht weil ihre juristische Qualifikation bestritten wurde, sondern weil man eine weitere ideologische Verschiebung am höchsten Gericht befürchtete. Der Versuch scheiterte – und führte erwartungsgemäß zu einer wütenden Intervention der Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann im Bundestag, die den Vorgang als skandalös brandmarkte. Gerade dieser Konflikt zeigt, wie stark das Ringen um Deutungshoheit inzwischen auch die Rechtsprechung erfasst hat.
Das gemeinsame Muster lautet: Schritt für Schritt wird ein Deutungsrahmen geschaffen, in dem das Bürgerliche nicht mehr „normal“, sondern „problematisch“ erscheint. So verlagert sich das Koordinatensystem: Nicht mehr das Extreme steht im Abseits, sondern die bürgerliche Mitte gerät unter Rechtfertigungsdruck.
Ideologie als Denkgefängnis
Ideologien haben die Eigenschaft, sich selbst gegen Kritik zu immunisieren. Sie bieten nicht nur Antworten, sondern auch Schutzmechanismen gegen Gegenargumente. Wer innerhalb der Logik denkt, kann sich kaum mehr von außen hinterfragen lassen. – So vermeidet man, dass die Realität die eigenen Vorstellungen infrage stellen kann.
Im links-grünen Spektrum zeigt sich das exemplarisch. Wer etwa darauf hinweist, dass die deutsche Sprache zwischen grammatischem und biologischem Geschlecht unterscheidet, stößt nicht auf sachliche Diskussion, sondern auf die Replik: „Das ist strukturell unsensibel und diskriminierend.“ Wer Integrationsprobleme benennt, hört sofort: „Das ist rassistisch.“ Wer die ökonomischen Kosten der Klimapolitik anspricht, wird als „Klimaleugner“ abgestempelt.
Die Mechanik ist stets dieselbe: Argumente werden nicht widerlegt, sondern moralisch diskreditiert. Damit entzieht sich das Spektrum jeder rationalen Überprüfung. Eine Ideologie ist nicht mehr nur eine Sichtweise unter mehreren, sondern ein geschlossenes Weltbild, das nur Zustimmung akzeptiert. – Toleranz hat in so einem Klima keinen Stellenwert.
Diese Immunisierung gegen Kritik ist kein Zufall, sondern Teil der Strategie. Herbert Marcuse sprach davon, dass man „reaktionären“ Stimmen nicht gleiche Freiheit gewähren dürfe, da sie sonst die Emanzipation verhindern würden. In dieser Logik ist es nicht nur erlaubt, sondern geboten, konservative Stimmen mundtot zu machen – sei es durch sozialen Druck, durch Sprache oder durch institutionelle Regeln.
So entsteht ein Denkgefängnis: Nach innen vermeintlich stabil, nach außen abweisend. Doch genau darin liegt die Gefahr. Denn eine Gesellschaft, die sich weigert, Kritik aufzunehmen, produziert Gegenreaktionen. Wo Argumente nicht mehr gehört werden, werden sie irgendwann geschrien – oder gewählt.
Kontrast: Bürgerliche Gesellschaften
als Garant von Freiheit und Wohlstand
Der Blick auf die Gegenbeispiele macht die Tragik deutlich. Sozialistische Systeme, ob in der DDR, im Ostblock oder aktuell in Venezuela, führen regelmäßig zu Armut, Unterdrückung und Unfreiheit. Bürgerliche Gesellschaften hingegen – liberal, rechtsstaatlich, marktwirtschaftlich – haben Freiheit, Wohlstand und Stabilität hervorgebracht.
Die Bundesrepublik selbst ist der beste Beleg: Aus Trümmern erhob sich ein freiheitlicher Rechtsstaat, getragen von bürgerlicher Kultur, wirtschaftlicher Dynamik und politischem Pragmatismus. Nie war dieses Land reicher, freier, sicherer als in den Jahrzehnten, in denen eine bürgerliche Konsenspolitik dominierte.
Der Kontrast ist eindeutig:
- Sozialistische Experimente: Wenn Ideologie über Realität steht → Unfreiheit, Unrecht, Zwang, Untergang.
- Bürgerliche Gesellschaften: Wenn Realität über Ideologie steht → Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand, Stabilität.
Und dennoch wird ausgerechnet die bürgerliche Gesellschaft heute von jenen Kräften dekonstruiert, die vorgeben, für Freiheit und Gleichheit zu kämpfen. Hier liegt das Paradox der Gegenwart.
- Teil 2: Demokratie im Stresstest – Der Mechanismus der Eskalation
- Teil 3: Demokratie im Stresstest – Demokratie als Kunst des Aushandelns