Autor: Kurt O. Wörl
Die Bundesrepublik steht vor einer Weggabelung: Dauerhafte Blockade, riskanter Rechtsruck oder Eskalation? Die Brandmauer gegen die AfD hält – trotz vernichtender Wahlergebnisse, SPD und Grüne als einzige Koalitionspartner der Union im Spiel, treibt zugleich immer mehr Bürgerliche in die Arme der rechtspopulistischen Protestpartei. Doch selbst eine Öffnung zur AfD birgt Gefahren – sie könnte die Union zerreißen.
In Teil 1 habe ich die ideologischen Mechanismen beschrieben. Teil 2 von „Demokratie im Stresstest“ entwirft Szenarien für eine Gesellschaft, die zwischen Weimarer Parallelen und europäischen Vorbildern ihren eigenen Weg suchen muss.
Die Gegenwart als Sprungbrett
Wer den Zustand der Gegenwart betrachtet, sieht eine Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen zwei Kräften: einer progressiven Minderheit, die den Anspruch erhebt, kulturelle Normen zu setzen und einer bürgerlichen Mehrheit, die sich zunehmend fremdbestimmt fühlt. Das Kräfteverhältnis ist schief: Während die Mehrheit numerisch stärker ist, verfügt die Minderheit über die Institutionen – Medien, Hochschulen, Kultur, Teile der Justiz.
Dieses Ungleichgewicht ist die Quelle der Spannung. Bürgerliche fühlen sich entmachtet, Progressiven genügt es nicht, eigene Überzeugungen zu leben – sie wollen sie zur Norm für alle machen. Wer widerspricht, wird moralisch abgewertet. Das Ergebnis ist ein wachsender Druckkessel. Noch äußert er sich überwiegend in Worten, Wahlen und Empörung. Doch die Logik der Eskalation ist erkennbar: Wo Diskurs verweigert wird, wächst das Bedürfnis nach radikaler Gegenwehr.
Gesinnung über Verantwortungsethik
In einer reifen Demokratie sollten Politiker Entscheidungen nach Maßgabe der Verantwortungsethik treffen: also unter Berücksichtigung dessen, was praktisch tragbar, rechtlich vertretbar und gesellschaftlich vernünftig ist. Der öffentliche Diskurs hingegen ist von Gesinnungsideologie durchzogen. Handlungen werden nicht mehr an ihren Folgen, sondern an der Reinheit der Absicht gemessen.
So erklärt sich, weshalb Maßnahmen ergriffen werden, die offenkundig scheitern müssen:
- Energiepolitik, die zugleich Versorgungssicherheit, niedrige Preise und CO₂-Neutralität verspricht – und am Ende alle drei Ziele verfehlt.
- Migrationspolitik, die Einwanderung als moralisches Gebot behandelt, ohne Rücksicht auf Integrationsfähigkeit und kulturelle Folgen.
- Sprachpolitik, die Menschen nicht verständlicher, sondern sprachlich entfremdeter macht.
Diese Ideologie wirkt wie ein Brandbeschleuniger: Sie schließt Kompromisse aus, sucht den Konsens erst gar nicht, weil Abweichung vom moralisch Guten als Verrat verstanden wird. Politik wird dadurch starr und kompromisslos – und provoziert Gegenreaktionen, die ebenso kompromisslos ausfallen.
Mechanismus der Polarisierung
Der Mechanismus der Eskalation ist einfach und zugleich verhängnisvoll:
- Progressiver Überzug: Linke Milieus fordern radikale Maßnahmen – ob beim Klima, in der Sprache oder in der Migrationspolitik.
- Bürgerliche Irritation: Die Mehrheit empfindet diese Forderungen als übergriffig und lebensfern.
- Protest: Bürger reagieren mit Wahlentscheidungen, die primär Ausdruck von Protest und Ablehnung sind.
- Mediale Eskalation: Diese Wahlen werden wiederum von Medien als „Rechtsruck“ skandalisiert.
- Selbsterfüllende Prophezeiung: Je lauter der Vorwurf, desto stärker die Gegenreaktion.
Das Resultat: Ein Kreislauf der Spaltung und Polarisierung, in dem jede Seite ihre Existenzberechtigung aus der Übertreibung der Gegenseite zieht. Ohne Linksextremismus keine AfD-Erfolge, ohne AfD kein überzogener Moralismus – beide sind komplementär, wenn man so will, die beiden Seiten ein- und derselben Medaille.
Medien als Brandbeschleuniger
Die Rolle der Medien ist in diesem Mechanismus zentral. Klassische Print- und Rundfunkhäuser kämpfen um Aufmerksamkeit in einer digitalen Welt, in der Klicks und Quoten ihr Überleben sichern. Soziale Netzwerke verstärken diesen Effekt, indem ihre Algorithmen Empörung und Extreme belohnen.
Die Folge:
- Lautstarke Minderheiten dominieren die Schlagzeilen.
- Extreme Stimmen wirken repräsentativer, als sie sind.
- Konsensorientierte Positionen verschwinden aus der Wahrnehmung, weil sie keine Aufregung generieren.
In dieser Logik ist ein „Skandal“ wertvoller als ein Kompromiss, eine Provokation interessanter als eine Lösung. Medien reproduzieren damit das Muster der Polarisierung – ob bewusst oder strukturell gezwungen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Auch Weimar litt unter Boulevardpresse und parteigebundenen Blättern, die Radikale groß machten. Doch die heutigen sozialen Medien multiplizieren diese Dynamik in Echtzeit und global. Was in den 1920ern Tage oder Wochen brauchte, geschieht heute in Sekunden.
Europa im Wandel
Die Bundesrepublik ist nicht isoliert. Überall im Westen lässt sich beobachten, wie linke Überdehnung rechte Gegenreaktionen erzeugt.
- Italien: Giorgia Meloni, einst als „Postfaschistin“ gebrandmarkt, regiert seit 2022 erstaunlich stabil. Ihre Regierung hat Italien nicht destabilisiert, sondern pragmatisiert.
- Frankreich: Marine Le Pen hat sich vom radikalen Image ihres Vaters gelöst und könnte 2027 Präsidentin werden. Je stärker Macron gegen „Rechtsruck“ mobilisiert, desto mehr Zulauf erhält sie.
- Niederlande: Geert Wilders, lange als untragbar verschrien, gewann 2023 die Wahl. Auch hier: Überdruss an links-liberalen Experimenten.
- Schweden und Finnland: Rechtskonservative Parteien sind längst Teil von Regierungskoalitionen – pragmatisch eingebunden, nicht ausgegrenzt.
- USA: Donald Trump ist trotz juristischer Prozesse erneut Präsident. Sein Erfolg basiert weniger auf inhaltlicher Programmatik als auf der Wahrnehmung, das linksliberale Establishment habe die Kontrolle verloren.
Das Muster ist eindeutig: Überall, wo linke Milieus kulturell dominieren, reagieren bürgerliche Mehrheiten mit der Wahl von Rechtsaußenparteien. Deutschland ist Teil dieses Trends – nur, dass hier die politische Kultur eine Kooperation mit Rechts bislang tabuisiert.
Deutschland als Sonderfall
Deutschland nimmt im westlichen Vergleich eine eigentümliche Sonderstellung ein. Während in Italien, Schweden oder Finnland rechte Parteien längst regierungsfähig geworden sind, hält die Bundesrepublik am Prinzip der „Brandmauer“ fest. CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke eint die Abgrenzung gegenüber der AfD.
Das Resultat: Umfragewerte für die AfD – inzwischen weit über 20 % – werden im politischen System nicht abgebildet. Stattdessen entstehen Koalitionen, die nicht Ausdruck des Mehrheitswillens, sondern Resultat politischer Ausschlüsse sind. Dieses Missverhältnis erzeugt ein Gefühl von demokratischer Entfremdung.
Doch diese Blockade ist nicht allein politisches Kalkül, sondern auch historisch begründet. Deutschland ist das einzige Land Europas, das eine grauenhafte nationalsozialistische Diktatur erlebt hat. Der Nationalsozialismus hat ein Trauma hinterlassen, das bis heute das politische Denken bestimmt. „Ein gebranntes Kind scheut das Feuer“ – die Erfahrung von Diktatur, Rassenwahn und Völkermord erklärt, warum die deutsche Öffentlichkeit gegenüber Rechtsparteien grundsätzlich weit misstrauischer reagiert als Italiener, Franzosen oder Schweden.
Hinzu kommt: Die AfD unterscheidet sich tatsächlich von vielen ihrer europäischen Pendants.
- Inhaltlich: Sie ist weitaus völkischer und EU-feindlicher aufgestellt als etwa Giorgia Melonis Fratelli d’Italia oder Marine Le Pens Rassemblement National.
- International: Während Le Pen sich europapolitisch mäßigt, um Bündnisfähigkeit zu gewinnen, pflegt die AfD eine offen konfrontative Haltung gegenüber Brüssel.
- Personal: Mit Figuren wie Björn Höcke, die man juristisch unangefochten als „Faschisten“ oder „Nazis“ bezeichnen darf, trägt die AfD Gesichter, die jenseits bürgerlicher Anschlussfähigkeit stehen.
- Isolation: Selbst andere rechte Parteien in Europa meiden eine Zusammenarbeit. Das Rassemblement National in Frankreich etwa grenzt sich explizit von der AfD ab, um nicht in deren Schatten gezogen zu werden.
Die deutsche Brandmauer wird also durch zwei Faktoren stabilisiert:
- Die historische Last des Nationalsozialismus.
- Das Wirken der AfD selbst, die durch ihre Sprache, Personalien und Positionen eine Nähe zur völkisch-rechtsextremen Tradition offenbart, die in anderen Ländern so nicht existiert.
In dieser Doppelrolle – als Wiedergänger der Geschichte und als Architekt der eigenen Isolation – unterscheidet sich die AfD fundamental von den europäischen Rechtsparteien. Genau deshalb ist die Diskussion über ihre Regierungsfähigkeit hierzulande eine andere als in Rom, Den Haag oder Paris.
Die Brandmauer als Machtinstrument
Die politische Wirkung der Brandmauer ist ambivalent. Offiziell wird sie mit der Abwehr rechtsextremer Tendenzen begründet. Faktisch aber stabilisiert sie vor allem die Machtoptionen von SPD und Grünen. Beide Parteien kämen ohne diese Abgrenzung kaum nicht mehr in Regierungsverantwortung, da ihre Wahlergebnisse in der Gesellschaft zu schmal geworden sind. Die Union wiederum ist gezwungen, sich auf Koalitionen mit SPD oder Grünen einzulassen und damit zentrale bürgerliche Positionen aufzugeben. Nicht wenigen erscheint die Union deshalb wie ein Chamäleon, das sukzessive in der Regierung die Farbe der Koalitionspartner annimmt.
Das erzeugt bei vielen Wählern den Eindruck, dass bürgerliche Politik im eigentlichen Sinn – also ohne Zugeständnisse an Links – nicht mehr möglich ist. Die Folge: Immer mehr Bürgerliche wählen AfD, nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern vor allem, um durch Wahlergebnisse eine Regierungsbeteiligung von SPD und Grünen zu verhindern. So wird die Brandmauer selbst zum Motor für das Wachstum der AfD.
Szenario 1: Dauerhafte Blockade
Das erste Szenario ist eine Verhärtung des Status quo. Die etablierten Parteien halten ihre Brandmauer aufrecht, die AfD bleibt isoliert, Umfragewerte und Wahlergebnisse über 20 % ändern daran nichts.
Folgen:
- Regierungen bilden sich nur noch in Konstruktionen, die rechnerisch schwach und inhaltlich zerrissen und vom Wähler nicht gewollt sind.
- Die Politik verliert an Handlungsfähigkeit.
- Bürger erleben einen Staat, der große Probleme nicht löst – Migration, Energie, Sicherheit.
- Das Vertrauen in die Demokratie sinkt weiter.
Dieses Szenario wäre eine deutsche Variante der „blockierten Demokratie“ – ähnlich wie in der späten Weimarer Republik, wo das Parlament zwar gewählt wurde, aber keine stabilen Mehrheiten zustande kamen.
Szenario 2: Rechtsruck bis in die Regierung
Das zweite Szenario ist ein Bruch mit dem Tabu. CDU/CSU öffnen sich in Teilen für Kooperation mit der AfD – sei es auf Landesebene (zunächst informell bei Abstimmungen) oder auf Bundesebene (Koalition oder Tolerierung).
Die Zerreißprobe der Union
Doch selbst wenn es zu einem solchen Bruch mit dem Tabu käme, wäre die Union damit noch längst nicht konsolidiert. Als letzte verbliebene Volkspartei vereint sie sehr unterschiedliche Strömungen – von wertkonservativ über wirtschaftsliberal bis hin zu christlich-sozial. Eine offene Zusammenarbeit mit der AfD würde diese Spannungen unweigerlich zum Ausbruch bringen. Teile der Partei würden einen solchen Schritt als notwendigen Realismus befürworten, andere als Verrat an den Grundwerten der Union brandmarken. Damit droht weniger eine Normalisierung, als vielmehr die Gefahr einer Spaltung der Union selbst. Gerade das erklärt, weshalb ihre Führungsspitze – trotz steigenden Drucks von Wählern – bislang jede Öffnung kategorisch ablehnt.
Folgen:
Sollte es dennoch zu einer Öffnung kommen, hätte dies weitreichende Konsequenzen. Zum ersten Mal seit 1945 würde eine rechtspopulistische, teils rechtsextreme Kraft Regierungsverantwortung übernehmen. Die AfD verlöre ihre bequeme Opferrolle und müsste beweisen, dass sie zu pragmatischer Politik fähig ist. Eine Entwicklung wie in Italien unter Giorgia Meloni wäre nur vielleicht denkbar: Der Ton bliebe scharf, die Praxis aber würde von Realpolitik geprägt – mit dem Unterschied, dass die AfD europäisch deutlich isolierter stünde als Fratelli d’Italia. Zugleich stünde Deutschland unter erheblichem internationalen Druck – vor allem aus Brüssel und Paris –, und innerhalb der Union drohte eine Zerreißprobe, die ihre Rolle als Volkspartei in Frage stellen könnte.
Dieses Szenario würde die deutsche Parteienlandschaft nachhaltig verändern, könnte aber paradoxerweise auch eine Entschärfung der Polarisierung bewirken: Weil Protest nicht länger blockiert, sondern in Regierungsverantwortung eingebunden würde.
Szenario 3: Bürgerkriegsähnliche Eskalation
Das dritte Szenario ist die Radikalisierung der Polarisierung. Die etablierten Parteien verweigern jede Öffnung, während die AfD weiter wächst. Die Spaltung vertieft sich.
Mögliche Folgen:
- Bei den nächsten Wahlen könnte eine Regierungsbildung ohne die AfD nicht mehr möglich sein.
- Straßendemonstrationen eskalieren zu Gewalt.
- Teile der Bevölkerung ziehen sich aus den Institutionen zurück, organisieren sich in Parallelstrukturen.
- Staatliche Autorität wird in bestimmten Bereichen (Schulen, Stadtviertel, Polizei) zunehmend in Frage gestellt.
- Es entstehen Zonen permanenter Konfrontation zwischen Aktivisten beider Lager.
Ein „Bürgerkrieg“ im klassischen Sinn ist zwar eher unwahrscheinlich – dafür ist die Bundesrepublik zu stabil. Aber bürgerkriegsähnliche Zustände in den Städten, in Form chronischer innerer Konflikte, permanenter Gewaltbereitschaft und politisch motivierter Übergriffe sind in einem solchen Szenario nicht mehr auszuschließen.
Gefährdung der Mitte
Das größte Risiko aller Szenarien liegt in der Erosion der Mitte. Demokratie lebt vom Kompromiss, nicht von der Vernichtung des Gegners. Wenn jedoch beide Lager – links wie rechts – ihre Legitimität aus der Gegnerschaft beziehen, bleibt für die Mitte kaum noch Raum.
Die bürgerliche Gesellschaft, die seit 1949 Stabilität, Wohlstand und Freiheit getragen hat, droht zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Was Weimar zerstörte, war nicht allein die Stärke der Extreme, sondern die Schwäche der Mitte. Ein ähnliches Muster zeichnet sich heute ab: Je mehr die Mitte schweigt und sich machtlos fühlt, desto lauter werden die Extreme.
- Teil 1: Demokratie im Stresstest – Vom Konsens zur Polarisierung
- Teil 3: Demokratie im Stresstest – Demokratie als Kunst des Aushandelns