Der Kult des schlechten Gewissens

Warum uns das schlechte Gewissen lähmt – und Verantwortung befreit
Lesedauer ca. 5 Minuten

Autor: Kurt O. Wörl

Warum fällt es uns so schwer, glücklich zu sein, ohne uns dabei schuldig zu fühlen? – In einer Welt, die von Sorgenthemen lebt und mit Angst Geschäfte macht, ist das schlechte Gewissen zur sozialen Währung geworden. Medien, Werbung und Ideologien nähren einen subtilen Kult, der uns ständig einflüstert: Du tust zu wenig, Du bist zu wenig.

In diesem Essay „Der Kult des schlechten Gewissens“ beleuchte ich das schlechte Gewissen als gesellschaftlich gezüchtetes Steuerungsinstrument – und plädiere für eine Rückbesinnung auf Verantwortung, Selbstbestimmung und die befreiende Kraft des eigenständigen Denkens.

Es gibt einen Kult, der unsere Gesellschaft wie ein leiser Unterton durchzieht. Er ist nicht laut, nicht aufdringlich, er trägt keine Uniform und veranstaltet keine Aufmärsche. Aber er sitzt uns allen tief in den Gedanken: Der Kult des schlechten Gewissens.

Dieser Beitrag fordert nicht zu gewissenlosem Verhalten und Handeln auf, sondern wendet sich gegen das Übermaß an übergriffigen Appellen aus Politik, Medien, Werbung usw. an unser Gewissen, oft aus niederen Beweggründen, um politisch oder ökonomisch zu manipulieren. Er greift nicht die Gewissensgetragenheit in Selbstverantwortung an.

Schon Peter Sloterdijk, der von sich sagt, er sei „für das positive Denken, aber nicht immer in positiver Laune“, fragte sich, ob die Aufklärung – jener uralte Gedanke, dass es vernünftig wäre, glücklich zu sein – überhaupt noch eine Chance hat, sich in der Gegenwart zu verkörpern. Unsere Zeit sei, so Sloterdijk, einem unablässigen Trommelfeuer von Sorgenthemen ausgesetzt, einer Daueragitation der Unruhe.

Sloterdijk neigt zur intellektuellen Pirouette, zur Wortkaskade, die oft ins Selbstverliebt-Essayistische kippt. Aber an diesem Punkt trifft er ins Schwarze. Denn unsere Gegenwart kennt eine paradoxe Ethik: Glück ist nur moralisch, wenn es von schlechtem Gewissen begleitet wird.

Die mediale Dauerbesorgnis

„Bad news are good news.“ Dieser Satz ist längst zum Mantra der Nachrichtenmacher geworden. Nicht weil Journalisten schlechte Menschen wären, sondern weil schlechte Nachrichten Reichweite bringen. Wer Klicks zählt, der rechnet mit der Angst der Leser. Empörung, Aufregung, Empfindlichkeit – das sind die modernen Währungen der Aufmerksamkeitsökonomie.

Goethe, dem man wahrlich keinen Medienpessimismus unterstellen kann, erkannte diesen Mechanismus schon im 19. Jahrhundert. In seinen Gesprächen mit Eckermann erfand er das Wort „Lazarett-Poesie“ für jene Schriftsteller, die nicht aufhören konnten, in den Wunden der Welt herumzuwühlen. Ihnen stellte er die „tyrtäische Poesie“ gegenüber: eine Dichtung, die aufrüttelt, Mut macht, zum Handeln befähigt.

Zur Begriffserklärung: Tyrtaios, der spartanische Dichter des 7. Jahrhunderts v. Chr., verstand es, das Gleichgewicht zu wahren zwischen Kampfansage und Kulturlob. Er sang nicht nur vom Krieg, sondern von der Würde der Polis, von der Schönheit einer funktionierenden Ordnung.

Für Goethe war das Vorbild und Mahnung zugleich. Was er kritisierte, war nicht der Blick auf das Leid – sondern die Einseitigkeit, die Lust am Negativen.

Heute ist die Lazarett-Poesie omnipräsent, nur dass sie in Zeitungen, Nachrichten, Talkshows und Online-Feeds verkleidet daherkommt. Es wird analysiert, skandalisiert, moralisiert. Aber selten, sehr selten, erklingt ein Satz, der Mut macht, ohne belehrend zu sein. Eine gewisse Hoffnung bietet der konstruktive Journalismus, der seit den 2010 Jahren von verantwortungsbewussten Journalisten propagiert wird. 

Schuld als Geschäft

Die menschliche Neigung zur Angst ist keine Erfindung der Moderne. Doch klug gemanagt, wird sie zur Goldgrube. German Angst – dieses Etikett haben uns angelsächsische Medien verpasst, als sie bemerkten, mit welcher Hingabe wir uns in Worst-Case-Szenarien suhlen. Inzwischen haben Marketing und Politik gelernt, diese Angst in einen Schuldmechanismus zu verwandeln, der sich monetarisieren lässt. – Der moralische Imperativ lautet: Du sollst dich schlecht fühlen, weil du nicht genug tust. Du fliegst? Du bist mitschuldig am Klimawandel. Du fährst auf Kreuzfahrt? Du bist verantwortlich für Ozeanverseuchung. Du benutzt den falschen Weichspüler? Schäme dich! Jetzt meldet sich Dein schlechtes Gewissen. – So einfach ist die moderne Moralphilosophie.

Das ist keine Kritik an ökologischer Verantwortung. Aber der Übergang von Verantwortung zu Schuld ist fließend – und genau darin liegt die perfide Wirkung. Verantwortung zielt auf Handlung. Schuld lähmt. Und eine gelähmte Gesellschaft ist leichter zu lenken.

Das Ziel verfehlen

Die Alten Griechen kannten das Wort Hamartia. Es bedeutet: das Ziel verfehlen. In der Tragödie ist es jener Moment, in dem der Held, nicht aus Bösartigkeit, sondern aus menschlichem Irrtum, den verhängnisvollen Fehler begeht. Sünde als Zielverfehlung – ein feinsinniger Begriff, der das schlechte Gewissen nicht als ewige Schuld, sondern als Anstoß zur Korrektur begreift.

Doch unsere Gegenwart kultiviert das Verharren in der Schuld. Wir suhlen uns in einem permanenten Gefühl des Unzulänglichen. Als ob es moralisch geboten wäre, sich selbst kleinzuhalten. „Ich bin nicht gut genug“, „ich tue zu wenig“ – diese Sätze haben sich tief in unsere inneren Monologe gegraben.

Eine junge Mutter erzählte mir einmal, sie fühle sich schuldig, weil sie trotz zahlloser Aktivitäten – Tanzkurs, Sprachkurs, soziales Engagement – keine rechte Freude empfinde. Ihre Diagnose: mangelhaftes Selbstoptimierungs-Management. Doch das eigentliche Problem lag darin, dass sie ihre Freude an einem Idealmaßstab abglich, der gar nicht aus ihr selbst kam. Auch Melissa Gayle Wests Buchtitel „Wenn ich nur eine bessere Mutter wäre“ ist Symptom eines gesellschaftlich gezüchteten Selbstzweifels, der nicht auf faktischen Mängeln, sondern auf externen Erwartungshaltungen basiert.

Verantwortung statt Schuld

Verantwortung sollte das einzige Prinzip zum schlechten Gewissen sein. Während Schuldgefühle lähmen, befähigt Verantwortung. Doch dieser Begriff wurde im öffentlichen Diskurs systematisch entwertet. Verantwortung gilt heute als Pflichtbegriff, als das, was „man halt machen muss“, weil es von einem erwartet wird. Hans A. Pestalozzi brachte es auf den Punkt, als er schrieb: „Pflichterfüllung ist das Gegenteil von Verantwortung.“ Denn Pflicht ist Fremdsteuerung. Verantwortung aber bedeutet, auf die Realität eigenständig zu antworten.

Ein gutes Beispiel liefert die Pflege alter Menschen. Immer wieder hört man den Vorwurf: „Die Alten werden ins Heim abgeschoben.“ Doch ist es wirklich verantwortungsvoller, überforderte Familien in private Pflegehaft zu drängen, als einen würdigen Platz in einer guten Einrichtung zu wählen? Meine Familie hat beides erlebt. Wir haben jahrelang selbst gepflegt – mit allen physischen und psychischen Belastungen, die das mit sich bringt. Am Ende war es meine Schwiegermutter, die sich selbstbewusst für den Umzug ins Heim entschied. Ihre Entscheidung, ihre Verantwortung.

Verantwortung ist kein starres Pflichtenheft. Sie ist lebendige Beziehung zur Wirklichkeit. Sie verlangt Wahrnehmung, Abwägung, Einsicht – und den Mut, auch unkonventionelle Antworten zu finden.

Über Schuld und Narzissmus

Eines der beliebtesten Totschlagargumente gegen Lebensfreude ist der Vorwurf des Narzissmus. Wer sich selbst bejaht, wer Freude empfindet, gilt schnell als egoistisch. Dabei verkennen wir, dass Selbstbejahung nicht Selbstverliebtheit ist.

Narzissmus – das wissen wir aus der Mythologie – ist die krankhafte Selbstverspiegelung, die den Blick für andere versperrt. Doch Freude, Dankbarkeit, Lebensbejahung sind das Gegenteil. Sie öffnen uns für das, was um uns ist. Wer Freude empfinden kann, wer das Schöne sieht, ist nicht blind für das Leid der anderen. Er ist gerade dadurch empfänglich für echte, tätige Verantwortung.

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung nennt das Streben nach Glück ein Menschenrecht. Bhutan hat das Glück zum Staatsziel erklärt. Beides sind Versuche, den Begriff des Glücks aus der Schmuddelecke der bloßen Selbstsucht zu befreien.

Die manipulative Kraft der Schuld

Die Werbung hat längst gelernt, das schlechte Gewissen zur Verkaufsstrategie zu machen. Wer erinnert sich nicht an jene legendäre Weichspüler-Werbung, in der das „Gewissen“ der Ehefrau astralgestaltig neben ihr auftaucht, weil der Ehemann über einen kratzenden Pullover klagt? Das Motto: Kein Lenor = schlechtes Gewissen. Doch dieses Prinzip funktioniert nicht nur beim Weichspüler. Auch bei anderen Konsumentscheidungen, bei politischer Correctness, bei Lifestyle-Trends wirkt die stille Erpressung des Gewissens. Wer das Spiel nicht mitmacht, wird nicht argumentativ widerlegt, sondern moralisch disqualifiziert.

Begriffe wie „Flugscham“ und „Kreuzfahrtscham“ sind nicht zufällig erfunden. Sie sind Instrumente einer öffentlichen Moralisierung, die mit der suggestiven Kraft des schlechten Gewissens arbeitet. Sie setzen nicht auf Einsicht, sondern auf Beschämung. Doch Scham ist kein geeigneter Erziehungsratgeber für eine freie Gesellschaft. Scham kann soziale Disziplin erzeugen, aber sie führt selten zur aktiven Verantwortung. Sie lähmt mehr, als sie aktiviert.

Die Freiheit zur Verantwortung

Verantwortung ist die Fähigkeit, auf das, was ist, eine angemessene Antwort zu geben. Diese Fähigkeit lässt sich nicht dekretieren, sie wächst im eigenen Bewusstsein. Sie erfordert die Bereitschaft, eigene Maßstäbe zu entwickeln, sich von der Fremdbestimmung zu emanzipieren. Wer Verantwortung übernimmt, der handelt nicht prinzipientreu um der Prinzipien willen, sondern situationsgerecht. Er lässt sich nicht von allgemeinen Normen und moralischen Imperativen dirigieren, sondern urteilt im Hier und Jetzt.

Das schlechte Gewissen, so wie es heute kultiviert wird, ist das Gegenteil davon. Es ist ein diffuses Gefühl des Unzulänglichen, das uns wehrlos macht gegenüber jenen, die uns sagen wollen, was wir zu tun haben. Der Weg aus diesem Dilemma führt über die Selbsterkenntnis. Über das Abnehmen der Augenbinde. Verantwortung ist keine bequeme Haltung. Aber sie ist befreiend. Sie lässt uns wieder aufrecht stehen – ohne das bleierne Gewicht eines schlechten Gewissens auf den Schultern.


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