Autor: Kurt O. Wörl
Es gibt Tage, da wacht man auf, und schon beim Zähneputzen wird man belehrt. Von einer Stimme im Radio, die sich als „Expertin für frühkindliche Ernährung im Diskursfeld nachhaltiger Kognition“ vorstellt. – Noch vor dem ersten Kaffee weiß man dann: Der Tag ist verloren. – Denn wenn Experten regieren, hat der gesunde Menschenverstand Hausverbot.
Sie sind überall. – Sie sind wie Fruchtfliegen auf überreifem Denken. Sie setzen sich auf jedes Thema, hauen ein paar Schlagworte heraus, schwirren weiter zur nächsten Kamera. Sie sind die Multiplikatoren des Halbwissens, die Profis im Möglichkeitsmodus, die Lautsprecher der Unverbindlichkeit.
Früher hieß es: „Ich bin Experte, weil ich etwas erlebt oder gelernt habe.“
Heute heißt es: „Ich bin Experte, weil ich bei Markus Lanz saß und das Studio nicht eigenhändig abgefackelt habe.“
Der Experte von heute hat kein Fach. Er hat ein Themengebiet mit Sendezeitpotenzial. – Er war vielleicht mal Journalist, vielleicht Beamter, vielleicht Praktikant beim Verfassungsschutz. Aber dann – oh Wunder! – schrieb er einen Aufsatz in einer Zeitschrift, die kaum jemand liest, und plötzlich wurde er zitiert.
Denn Zitat ersetzt Qualifikation. Wenn einer einmal zitiert wird, dann wird er wieder zitiert. Und wenn er dreimal zitiert wurde, dann lädt ihn das ZDF ein. – Und wenn das ZDF ihn einlädt, dann ist er – zack! – „Deutschlands führender Experte für Bedrohungslagen“.
Das ist wie bei Adligen: Wer einmal „von“ heißt, wird nie wieder „Herr Müller“ genannt.
Ich frage Sie:
Was genau muss man getan haben, um „Terrorexperte“ fürs Fernsehen zu werden?
Muss man selber einen Terrorakt geplant oder gar durchgeführt haben?
Muss man mal eine Bombe entschärft haben?
Muss man mit dem IS Strip-Poker gespielt haben?
Muss man wenigstens eine Tonne TNT im Darknet gekauft haben?
Nein!
Man muss Interviews gegeben haben.
Man muss den Unterschied zwischen „islamistisch“ und „islamisch“ kennen,
man muss sagen können:
„Die Lage bleibt angespannt.“
„Ein Anschlag ist jederzeit möglich.“
Und man muss sich trauen, Sätze zu sagen wie:
„Wir müssen mit allem rechnen.“
Mit allem? Auch mit der Möglichkeit, dass der Experte keine Ahnung hat? – Nein, das nicht. Das wäre ja ehrlich.
Und was ist mit den Promi-Experten?
Ach, diese elende Spezies. Menschen, deren Berufsbild ausschließlich auf dem Wissen basiert, wer wann mit wem in Saint-Tropez auf einem Boot gesichtet wurde. Sie sind wandelnde Illustrierte mit Augenringen. Sie kennen alle Affären, alle Ehen, alle Botox-Bekundungen – aber keinen Satz ohne „Insiderinformationen“. Was genau ist ein Insider, bitte? Der Friseur? Die Putzfrau? Der Algorithmus von Instagram?
Und die Royals-Experten!
Heilige Einfalt! – Die erzählen mit ernster Miene, ob Harry und Meghan die Queen zu Weihnachten eingeladen haben, ob Kate traurig war, ob Charles nochmal aufsteht, und das alles, als ginge es nicht um eine dekadente Seifenoper, sondern um den geopolitischen Zustand der Welt.
Wüssten diese Leute auch nur ein einziges Mal, wie lächerlich sie sich machen – sie würden schweigend in den nächsten Baumarkt gehen und dort für immer als Laminatberater arbeiten.
Aber sie machen weiter.
Denn sie werden gebraucht.
Nicht von der Wahrheit, sondern von den Medien.
Denn Medien hassen eines mehr als Fehlmeldungen: Stille!
Und wer füllt die Stille? Der Experte. Er spricht. Und spricht. Und wenn nichts zu sagen ist, dann sagt er es besonders eloquent.
Was ich fordere? Ich fordere ein Gesetz: Jeder, der sich als „Experte“ in Mikrofone ergießt, muss eine Stunde von dem tun, worüber er redet.
Der Terrorexperte soll Sprengstoff schnuppern oder eine Bombe entschärfen.
Der Royals-Experte soll bei King Charles den Tee servieren.
Der Promi-Experte soll mit Harald Glööckler frühstücken.
Dann, und nur dann, reden wir weiter. Bis dahin gilt: Ein bisschen weniger Gewäsch. Ein bisschen mehr Realität. Und vor allem: Kein Mikrofon für Leute, die man googeln muss, um zu wissen, warum man sie nicht braucht.
Denn wenn die „Experten“ reden, ist es an der Zeit, den Fernseher abzuschalten und ein gutes Buch zur Hand zu nehmen.
Neulich beim Symposium für angewandte Ahnungslosigkeit
Ich war dort.
Man hat mich eingeladen.
Vermutlich versehentlich.
Oder als Kontrollgruppe.
Denn ich bin kein Experte. Ich kann Dinge nur denken – nicht „für andere einordnen“.
Aber da saß ich nun, im feierlich dekorierten Tagungssaal eines Instituts für Zukunftsfragen, das seinen Namen jährlich wechselt, um Zuschüsse zu optimieren. Es war das erste „Symposium für angewandte Ahnungslosigkeit“, organisiert vom Zentralverband für narratives Einschätzungs-Framing unter dem Motto:
„Zwischen Wissen und Wirken: Die Rolle der Stimme in der Analyse des Ungewissen.“
Klingt nach nichts? Soll es auch!
9:00 Uhr – Eröffnung
Ein Herr mit Dreitagebart und Sakko ohne Hemdkragen tritt ans Mikrofon. Er ist Professor für „Krisenkommunikative Transformationsrhetorik“. Er sagt:
„Expertise bedeutet heute nicht mehr Wissen, sondern Präsenz.
Unsere Rolle ist es, sichtbar zu sein, während andere handeln.
Wir erzeugen Relevanz durch Rhetorik.“
Er meint das ernst. – Ich beginne zu schwitzen.
10:30 Uhr – Paneldiskussion: „Terror als Metapher – Deutungsmacht im Frühstücksfernsehen“
Auf dem Podium:
- ein „Terrorexperte“, der nie das Haus ohne Kugelschreiberweste verlässt,
- eine Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt „Radikalisierungsnarrative in der Grundschule“,
- ein ehemaliger Innenminister ohne Erinnerung an seine Amtszeit.
Alle nicken sich zu.
Der Experte sagt: „Wir müssen davon ausgehen, dass wir von vielem nicht wissen, dass wir es wissen müssten.“
Die Professorin ergänzt: „Radikalisierung beginnt da, wo der Diskurs aufhört.“
Der Ex-Minister murmelt: „Ich war gewarnt, aber nicht zuständig.“
Applaus. – Ich erleide innerlich einen kleinen Schwächeanfall.
12:00 Uhr – Workshop: „Wie werde ich Experte?“
Ein junger Mann erklärt mit PowerPoint, wie man durch präzise Unverbindlichkeit Karriere macht. Er stellt die SATVA-Methode vor. SATVA ist eine Abkürzung und bedeutet „Sicheres Auftreten trotz völliger Ahnungslosigkeit“.
Die Teilnehmer können sich im Rahmen eines Rollenspiels, genannt „PowerPoint-Karaoke“, in SATVA ausprobieren. Tipps gibt es auch noch:
Niemals sagen: „Ich weiß es.“
Immer sagen: „Es könnte sich zeigen, dass …“
Wichtige Formulierungen:
„Man darf nicht vergessen …“
„Wir müssen differenzieren …“
„Das ist komplex.“
Er zeigt zum Abschluss ein Tortendiagramm über Meinungen zur Meinungsvielfalt. Darunter steht: „Quelle: Eigene Beobachtung.“
Ich fliehe in die Kaffeepause.
14:00 Uhr – Vortrag: „Royals und Realpolitik – Monarchie als emotionaler Stabilisator“
Eine Frau mit Opernfrisur trägt vor, wie die Schwangerschaft von Prinzessin Kate den Brexit-Stress der britischen Bevölkerung psychologisch kanalisiert habe.
Ein Mann aus dem Publikum fragt: „Und welche Rolle spielte der Corgi?“
Sie antwortet ernst: „Ein unterschätzter Faktor.“
Man notiert es im Protokoll. Ich beiße in einen glutenfreien Keks und wünsche mir er wäre Sprengstoff.
16:00 Uhr – Abschlussplenum mit Bundespräsident a.D.
Der Bundespräsident a.D. hält ein Grußwort.
Er sagt:
„In Zeiten wie diesen brauchen wir mehr Menschen, die sich trauen, nichts zu wissen, aber dennoch zu sprechen.“
Das Publikum erhebt sich.
Man vergibt Standing Ovations für den Mut zur Belanglosigkeit.
Fazit:
Ich habe das Symposium überlebt, aber ich bin beschädigt. Denn was ich dort gesehen und gehört habe, war die professionalisierte Ahnungslosigkeit, hochdotiert, wohlorganisiert, mikrofonverstärkt.
Die Experten saßen zusammen und begutachteten die Welt, wie Zoologen einen Käfig, nur dass niemand gemerkt hat, dass sie selbst in selbigem sitzen.
Und während draußen das Reale Realität spielt, wird drinnen diskutiert, moderiert, und poststrukturell differenziert, bis die Welt sich auflöst – und jeder denkt:
„Hauptsache, jemand hat etwas gesagt.“
Mir wurde auch klar, warum „Symposium“ (auch Symposion) früher synonym für „geselliges Besäufnis“ stand. Sowas kann man doch nur im Suff überleben.