Autor: Kurt O. Wörl
Die Ausladung des Dirigenten Lahav Shanis und der Münchner Philharmoniker vom Flanders Festival Ghent ist ein kulturpolitischer Skandal von europäischer Tragweite. Nicht die Musik, sondern die vermeintlich „nicht klar genug“ empfundene Haltung des Dirigenten gegenüber Israels Regierung wurde zum Maßstab erhoben. Shani, längst in Berlin zuhause und öffentlich um Differenzierung bemüht, wurde zum Objekt eines Kollektivurteils gemacht – und mit ihm ein ganzes Orchester.
Das Festival, der Stadtrat und die flämische Kulturministerin fielen damit in die alte Logik kollektiver Schuldzuweisung zurück. Es ist ein Lehrstück darüber, wie Antisemitismus heute im Gewand moralischer Empörung auftreten kann – und warum die Freiheit der Kunst entschieden verteidigt werden muss.
Ein Dirigent wird geächtet – kollektiv auch gleich sein Orchester
Die Absage des „Flanders Festival Ghent“, in Gent, Belgien, an den jüdischen Dirigenten Lahav Shani und die Münchner Philharmoniker markiert einen kulturpolitischen Einschnitt, der weit über den Einzelfall hinausreicht. Nicht die Musik, nicht das Werk, nicht das künstlerische Können standen zur Debatte, sondern die Einschätzung der Festivalleitung, Shanis Haltung gegenüber der israelischen Regierung wäre „nicht klar genug“. Kein konkretes Wort, kein verweigertes Bekenntnis lag vor – es genügte, dass seine bisherigen, durchaus kritischen Äußerungen zum Gaza-Konflikt nicht den Erwartungen entsprachen. Auf dieser Grundlage entzog man ihm die Bühne – und mit ihm gleich dem gesamten Orchester.
Denn die Entscheidung traf nicht allein den Dirigenten, sondern auch mehrere Dutzend Musiker, die in den Konflikten des Nahen Ostens keinerlei Rolle spielen. In einem Akt der Kollektivhaftung wurden sie ausgegrenzt, als seien sie bloße Statisten in einem politischen Spiel. Damit ist der Grundsatz individueller Verantwortung gleich doppelt verletzt: Shani wurde für die Politik seines Herkunftslandes haftbar gemacht, und das Orchester wurde in Sippenhaft genommen für die von den Veranstaltern nicht einschätzbare Haltung seines Dirigenten.
Kollektivschuld und Sippenhaft
Man darf schon fragen: Was wurde den Musikern der Münchner Philharmoniker eigentlich vorgeworfen? Sie spielen Brahms, Mahler und Schubert, sie verkörpern das Erbe einer europäischen Musiktradition, die selbst von Verfolgung und Exil geprägt ist. Keiner von ihnen hat ein politisches Bekenntnis abgelegt oder verweigert. Und doch traf sie die Ausladung wie ein Bannspruch. Die Verantwortlichen machten gleich das gesamte Ensemble zu Kollateralopfern. Es war ein Konflikt, der nicht der ihre ist.
Besonders absurd erscheint dies angesichts von Shanis Lebensumständen. Er lebt mit seiner Frau in Berlin, mitten im europäischen Kulturleben. Er hat sich längst kritisch über die israelische Regierung geäußert und ausdrücklich davor gewarnt, den Staat Israel mit seiner jeweiligen Regierung gleichzusetzen. Gerade dieser Mann, der sich der Vereinnahmung entzieht, wurde nun für die Politik Netanjahus haftbar gemacht – und mit ihm ein ganzes Orchester, dessen einzige „Schuld“ darin besteht, unter seiner Leitung zu spielen.
Reaktionen
Die Reaktionen in Deutschland und Belgien waren entsprechend deutlich. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter erklärte, die Entscheidung sei „in keiner Weise nachvollziehbar“. Kulturstaatsminister Wolfram Weimer sprach beim Berliner Ersatzkonzert gestern von einer „Schande für Europa“ und von „blankem Antisemitismus“. Charlotte Knobloch sah darin eines der „krassesten Beispiele aktuellen Judenhasses“. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, nannte die Absage „zutiefst antisemitisch“. Jürgen Kaube erinnerte in der Frankfurter Allgemeinen daran, dass Shani sich bereits zuvor von der israelischen Regierung distanziert hatte. Selbst Belgiens Premierminister Bart De Wever wandte sich gegen die flämische Kulturministerin Caroline Gennez, besuchte demonstrativ ein Konzert der Münchner Philharmoniker in Essen und erklärte, die Entscheidung habe „dem Ansehen unseres Landes schweren Schaden zugefügt“. Und im Vorstand des Festivals selbst ging die Spaltung so weit, dass Christoph D’Haese, N-VA-Politiker und Mitglied der Leitung, offen mit Rücktritt drohte, sollte die Absage nicht rückgängig gemacht werden – ein bemerkenswertes Zeichen der Solidarität im unmittelbaren Umfeld des Skandals.
All dies zeigt: Es ging nicht um legitime Kritik an der Politik Israels, sondern um eine unzulässige Gesinnungsprüfung.
Das Schweigen der Kollegen
Ich hätte erwartet, dass andere Künstler, die am Genter Festival teilnehmen, sich mit Shani und den Münchner Philharmonikern solidarisch erklären. Wenigstens ein öffentlicher Protest, besser noch die Absage eigener Auftritte, wäre ein deutliches Zeichen gewesen. Tatsächlich gab es Unterschriftenlisten, Petitionen und Stellungnahmen namhafter Musiker wie Martha Argerich, András Schiff oder Mischa Maisky. Doch blieb die Solidarität symbolisch. Es ist kein dokumentierter Fall bekannt, in dem ein Künstler tatsächlich auf seinen Auftritt in Gent verzichtet hätte.
Geradezu frappierend ist das Schweigen vieler Musiker-Kollegen. Es gab zwar die oben erwähnten Petitionen und prominente Unterschriftenlisten, doch blieben diese Gesten folgenlos. Die Konzerte fanden und finden noch statt, als wäre nichts geschehen. Damit wurde das Signal ausgesandt: Die Ausgrenzung eines jüdischen Dirigenten wird zwar missbilligt, ist aber offenbar nicht gravierend genug, um persönliche Konsequenzen zu ziehen. Dieses Ausbleiben einer spürbaren Reaktion offenbart eine Schieflage, denn wer wirklich für Shani und seine Musiker einstehen wollte, hätte seinen eigenen Auftritt riskiert. Stattdessen überwog die Furcht vor dem Konflikt und Anpassung – und so ließ man das Orchester mit einer unwürdigen Stigmatisierung allein.
Moralismus als Vorwand
Die Verantwortlichen in Gent rechtfertigten ihr Vorgehen mit Verweis auf Israels Regierung und deren Vorgehen im Gaza-Krieg. Doch in der Ironie der Geschichte handelten sie nicht anders als jener Ministerpräsident, von dem sie eine Distanzierung verlangen. Netanjahu attackiert die Hamas und nimmt dabei zahllose zivile Opfer als Kollateralschaden in Kauf. Gent attackierte Shani – und nahm in derselben Logik gleich ein ganzes Orchester in Sippenhaft. Die Münchner Philharmoniker wurden zu Kollateralopfern eines linken Antisemitismus, der sich hinter dem Schleier moralischer Empörung verbirgt.
Der Skandal daran ist: wer im Namen der Humanität handelt, darf nicht selbst inhuman agieren. Wer moralische Reinheit einfordert, darf nicht in die Logik kollektiver Schuldzuweisung zurückfallen. Gent hat die Kunst geopfert, um ein Zeichen zu setzen und dabei gezeigt, wie schnell Empörung in Unrecht umschlagen kann.
Juden werden ausgegrenzt, weil sie Juden sind
Vergleiche mit der Nazizeit sind stets heikel, doch in diesem Fall drängt sich eine Parallele auf, die Logik ist erschreckend ähnlich. Auch damals verloren jüdische Musiker ihre Bühnen nicht wegen individuellen Fehlverhaltens, sondern nur, weil sie Juden waren. Heute geschieht es wieder: Ein Dirigent wird ausgeschlossen, weil er Jude ist – und ein Orchester wird gleich mit ihm ausgegrenzt, weil es einen jüdischen Dirigenten hat. Wer glaubt, dies sei bloß eine isolierte Nichtigkeit, verkennt die Tragweite. Es zeigt, wie Antisemitismus heute im Gewand linker Moral immer aggressiver auftritt.
Die Lehre kann nur lauten: Kunst darf nicht durch Gesinnungsprüfungen korrumpiert werden. Sie ist frei – oder sie ist gar nichts. Gent hat versagt, und jeder täte gut daran, diesen Skandal nicht kleinzureden, sondern ihn zum Anlass zu nehmen, die Freiheit der Kunst und die Würde des Einzelnen entschieden zu verteidigen.
Tröstendes zu Schluss
Als Trost bleibt mir, dass ich gestern die Liveübertragung aus Berlin, das kurzfristig anberaumte Ersatzkonzert der Münchner Philharmoniker, unter der Leitung von Lahav Shani und mit der großartigen Violinistin Lisa Batiashvili, genießen durfte. Es war ein Konzert von erlesener Schönheit: wie einfühlsam Shani das Orchester atmen ließ, wie brillant und zugleich zart Batiashvili ihre Violine den Raum erfüllen ließ. Das war ein musikalischer Augenblick von Vollendung. Das Berliner Konzert zeigte, was Gent verloren hat: große Kunst in Freiheit – und frei von Antisemitismus.