Die Welt ist Geist

Ein philosophisches Fragment:
Lesedauer ca. 5 Minuten

Autor: Kurt O. Wörl

Diesen Text fasste ich zusammen, nachdem ich in einem Sozialen Netzwerk eine Rückmeldung zu meinem Beitrag „Ein Credo“ erhielt. Der Kommentator schrieb, dass ihm darin „die Einordnung und Anbindung dieser Ethik an ein größeres Ganzes, das den subjektiven Maßstab übersteigt und umfängt“ fehle. Nun, mit „Ein Credo“ wollte ich auch nur aufzeigen, auf welche Weise ich mich persönlich in unserer komplizierten Welt voller Widersprüchlichkeiten zu bewegen versuche, was mir dabei wichtig und weniger wichtig scheint. Aber ja, die Frage danach, welche Weltsicht mich zu den wenigen Worten getragen hat, ist durchaus berechtigt, weil die Antwort darauf meine Haltung präzisiert.

Inspiriert zu meinen Überlegungen hat mich vor Jahren der Nachfolger Werner Heisenbergs am Max-Plank-Institut für Physik, Garching, Prof. Hans-Peter Dürr, der in seiner Eigenschaft als Physiker sich auch mit dem Thema Geist und Materie intensiv befasste.

Der folgende Text ist eine stark komprimierte, zusammenfassende Ausgabe eines meiner längeren Vorträge.

Die Welt ist Geist

Prolog: Das Wort vor der Welt

Was ich hier zu sagen wage, ist nicht These, nicht Dogma, nicht System. Es ist ein tastendes Denken über die Möglichkeit, dass die Welt nicht das ist, was sie zu sein scheint. Vielleicht ist sie viel mehr als kosmisches Vakkum und Materie. Vielleicht ist sie nur Geist – und Materie nur eine geronnene Erscheinung davon?

Vom Ursprung der Erscheinung

Die Welt ist Geist. Dieses Postulat erhebt nicht den Anspruch, eine religiöse Überzeugung auszudrücken, sondern ein metaphysisches Gedankenexperiment; metaphysisch im ursprünglichen Sinn: Es setzt jenseits des Physikalischen an, nicht im Widerspruch zur Physik, sondern als deren Deutungshorizont. Was wir als Materie erfahren, ist nicht ein autonomes Substrat, sondern eine Erscheinung – genauer: eine geronnene Form geistiger Strukturen. Materie ist, was entsteht, wenn Geist sich verdichtet. Dieses Denken verweist auf eine lange Linie philosophischer Spekulationen, vom platonischen Idealismus über den deutschen Idealismus – insbesondere bei Hegel – über den Monismus bis zu modernen informationstheoretischen Kosmologien.

Die Substanz als Illusion

Was wir fühlen, wenn wir Materie „begreifen“, ist physikalisch nur ein elektromagnetischer Abstoßungsprozess: Gleiche, negative Ladungen, die sich abstoßen. Unsere Hand trifft bei der Berührung eines Tisches nicht auf „Stoff“, sondern auf ein Kraftfeld. Die Elektronenhüllen zweier Systeme prallen aufeinander. Was wir als „fest“ empfinden, ist also das Produkt elektromagnetischer Wechselwirkungen, nicht substanzieller Fülle.

Noch radikaler zeigt sich die Illusion der Substanz im atomaren Modell. Atome bestehen fast ausschließlich aus Leere – winzige Kerne umgeben von weiten Elektronenfeldern. Zwischen den Quarks, die sich in einem Proton oder Neutron befinden, ist nichts, was wir materiell nennen könnten. Der größte Teil dessen, was wir „Materie“ nennen, ist strukturierter Raum, also Vakuum. Das Sein ist hier keine Dichte – sondern Ordnung, Beziehung, Kraft.

Der Mikrokosmos als Wegweiser

Im Quantenbereich verliert die klassische Physik ihre Gültigkeit. Teilchen sind keine festen Objekte, sondern Zustandsvektoren – sie existieren nur in Wahrscheinlichkeiten, in Möglichkeiten. Erst durch die Beobachtung „kollabiert“ der Zustand – eine Tatsache, die Heisenbergs Unschärferelation und der Doppelspaltversuch eindrucksvoll demonstrieren. Diese Phänomene lassen sich als physikalische Hinweise auf das interpretieren, was Philosophen wie Berkeley, Fichte und Hegel spekulativ annahmen: Dass die Wirklichkeit ohne Bewusstsein nicht vollständig ist. Ich gehe weiter: die Wirklichkeit ist ohne bewusstes Wahrnehmen ohne jede Bedeutung.

Wenn das, was wir Materie nennen, sich im Kleinsten als nichts anderes als Kraftverhältnisse und Informationszustände zeigt, dann spricht vieles dafür, dass auch das Bewusstsein – das wir bislang als Beobachter dachten – in Wahrheit Teil des Beobachteten ist. Der Mikrokosmos ist kein mechanisches Uhrwerk, sondern eine vibrierende Bühne geistiger Verhältnisse.

Information als Weltstoff

Was bleibt, wenn man Substanz aufgibt, ist Information. Was wir denken, fühlen, tun – alles erzeugt Spuren im Gewebe des Seins. Die Vorstellung, dass Information niemals verloren geht, wird heute sogar in physikalischen Theorien diskutiert – etwa in der Frage, ob Schwarze Löcher Informationen „verschlucken“ oder in veränderter Form wieder freigeben.

Jede menschliche Erfahrung, sei sie emotional, ethisch oder physikalisch messbar, erzeugt Wirkungen. Diese werden Teil der Welt. Komponieren wir ein Musikstück oder begehen wir Verbrechen: Beides tritt ein in die Struktur des Weltganzen. Es gibt keine moralische Gewichtung – der Weltengeist wertet nicht. Er speichert. Er erfährt. Er wächst mit.

Der Mensch als Knoten im Netz

Der Mensch ist nicht nur ein vorübergehendes Individuum, sondern ein biologisches Kontinuum. In ihm leben seine Vorfahren fort – genetisch, sprachlich, kulturell. Vom ersten Einzeller bis zur heutigen Menschheit zieht sich eine Kette geistiger Entwicklung: evolutionär durch Selektion, aber auch durch Informationsweitergabe. Der Mensch ist nicht nur das Ergebnis, sondern Teil des Prozesses, durch den der Weltengeist sich erfährt.

In dieser Perspektive sind Gedanken nicht nur „etwas“, sie sind Weltzustand. Wie Teilchen können auch Gedanken Felder erzeugen, beeinflussen, in Resonanz treten. Bewusstsein ist nicht Zuschauer, sondern Modus der Welt. Wenn Descartes sagte: „Cogito, ergo sum“, dann kann man heute sagen: „Ich denke, also wirkt die Welt.“

Erinnerung im Inneren – das Religiöse als Spur

Vielleicht ist das, was wir Religion nennen, Ausdruck einer vorbewussten Ahnung. In Mythen, Götterbildern, Gottesbegriffen und spirituellen Traditionen erscheint immer wieder ein Motiv: dass der Mensch nicht allein ist, dass er Teil eines größeren Zusammenhangs ist, den man verschieden benennt – Gott, Nirwana, Tao, Geist, Logos. Vielleicht ist die Pluralität der Religionen kein Irrtum, sondern Hinweis: dass der Mensch unterhalb seiner bewussten Kognition weiß, was er sprachlich nicht anders zu sagen vermochte.

Die Idee eines Weltengeistes vereint das Religiöse mit dem Rationalen: Der Weltengeist ist nicht transzendent im theologischen Sinn, sondern immanent – und dennoch größer als das Ich. Auch die religiöse Idee und Sehnsucht nach einer Seele, die nach dem Tod fortbesteht, wäre letztlich eine Ahnung aus dem Vorbewussten.

Keine Moral – aber Wirkung

Was folgt daraus für unser Handeln? Kein Gebot. Keine Strafe. Kein moralischer Imperativ von außen. Nur dies: Alles, was wir tun, bleibt. Alles, was wir denken, wirkt. Wir sind nicht verantwortlich im Sinne eines strafenden Gottes, sondern mit-schöpferisch – im Sinne einer geistigen Mitverursachung von Weltwirklichkeit.

Was wir erzeugen, ist nicht bloß Wirkung im klassischen Sinn. Es ist Bedeutung im Ganzen. Es geht nicht um Gut oder Böse, sondern um das, was der Weltengeist durch uns erfährt. Und so erscheint der Mensch nicht als Herr der Welt, sondern als Sinnesorgan des Geistes, der sich im Universum selbst betrachtet.

Ausblick: Das Ferne als Möglichkeit

Vielleicht gibt es Wesen, in anderen Galaxien, auf fernen Planeten, die diesen Weltengeist auf ganz andere Weise erfahren – komplexer, subtiler, klarer. Vielleicht sind wir nur Fenster, durch die das Weltganze einen ersten tastenden Blick wirft. Und doch: Wir sind Fenster. Wir sind Stimme. Wir sind Form gewordener Weltengeist.

Der Mensch ist kein Zuschauer. Er ist Teilnehmer. Er ist nicht nur Substanz – er ist Wirkung. Er ist nicht isoliertes Bewusstsein – er ist Selbsterfahrung des Weltganzen.

Epilog: Und was bleibt?

Wenn die Welt Geist ist, dann ist jeder Moment – auch dieser Gedanke – ein Ort, an dem der Weltengeist sich selbst begegnet. Was wir sind, ist nicht unser Besitz, nicht unser Körper, nicht unser Wille – sondern unsere Wirkung im Gewebe des Seins. Und das bedeutet: Unsterblichkeit – nicht im Individuum, sondern im Weltganzen.

Wir sind nicht ewige Wesen. Aber wir sind ewige Wirkungen. Und das ist vielleicht sehr viel mehr als wir zu glauben wagen.


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