Die Zeit – unser flüchtigster Besitz

Warum wir Zeit zwar messen, aber selten verstehen

Symbolfoto von Yudianaputra auf Pixabay

Wir jagen ihr nach, zählen sie, versuchen sie zu sparen – und verlieren sie doch ständig: die Zeit. Zwischen Naturzyklen und Maschinentakt, zwischen Kindheitsgefühl und Termindruck stellt dieser Essay die Frage, ob wir sie jemals wirklich besitzen – oder nur lernen können, uns sinnvoll in ihr zu bewegen und im Augenblick zu leben.

Die Zeit – die Unfassbare

Es gibt Erscheinungen, die uns so selbstverständlich sind, dass wir meinen, sie zu kennen – und doch gleiten sie uns jedes Mal aus den Händen, wenn wir versuchen, sie wirklich zu begreifen. Die Zeit ist eine von ihnen. Wir reden von ihr, messen, sparen, verlieren und verschwenden sie, wir hetzen ihr hinterher oder schlagen sie tot – und doch entzieht sie sich uns. Was immer wir in Sekunden, Minuten, Stunden fassen, bleibt am Ende nur ein Zerrbild des eigentlichen Phänomens.

Vielleicht ist der Mensch überhaupt das einzige Lebewesen, das sein Dasein in solche exakten Abschnitte unterteilt. Tiere kennen keinen Montagmorgen, keinen Feierabend, keine Sommerzeitumstellung. Bäume wachsen im Rhythmus der Jahreszeiten, Vögel ziehen nach dem Stand der Sonne und Sterne, doch nur wir haben uns angewöhnt, das gleichmäßige Fließen der Welt in messbare Stücke zu zerschneiden – und diese Stücke „Zeit“ zu nennen.

Eine kleine Begebenheit macht deutlich, wie sehr wir dabei oft Messung und Wesen verwechseln:

An einer Universität sollte eines Tages eine neue Fahne gehisst werden. Doch niemand wusste, wie hoch der Fahnenmast war. Man beauftragte einen Physiker und einen Mathematiker, und beide machten sich voller Eifer ans Werk. Der Physiker schlug vor, den Schatten zu messen, der Mathematiker zückte Formeln. Stundenlang rechneten sie, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Da kam ein Germanist vorbei, legte den Mast kurzerhand um, nahm ein Maßband, verkündete: „28,75 Meter!“ und ging seines Weges. „Typisch Germanist!“, murrte der Physiker, „wir sollen die Höhe bestimmen – und er gibt uns die Länge!“

Mit der Zeit geht es uns oft wie diesen Gelehrten. Wir messen ihre Länge, und glauben damit, ihr Wesen zu erfassen. Wir definieren Sekunden so exakt wie möglich – seit 1967 sogar anhand der Schwingungen eines Cäsiumatoms, exakt 9.192.631.770 Mal pro Sekunde – und wähnen uns damit im Besitz des Begriffs. In Wahrheit wissen wir dann nur, wie wir sie zählen, nicht, was sie bedeutet. „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“ – meinte einmal Albert Einstein ironisch.

Zeit ist nicht allein eine physikalische Größe. Sie ist auch – und vielleicht vor allem – ein Gefühl. Jeder kennt die Dehnung der Minuten, wenn man auf etwas Unangenehmes wartet, und das jähe Verstreichen ganzer Stunden, wenn man sich in freudiger Gesellschaft verliert. Die letzten zwei Wochen vor dem Urlaub ziehen sich endlos, der Urlaub selbst vergeht im Flug. Fünfzehn Sekunden Stille können eine kleine Ewigkeit sein, wenn man sie nicht erwartet. – Wie kurz oder lange eine Minute sein kann hängt oft nur davon ab, auf welcher Seite der Toilettentür wir uns bei Durchfall befinden.

Das zeigt: Zeit ist keine objektive Substanz, die wir „haben“ oder „verlieren“ könnten. Sie ist, wie der Zeitforscher Karlheinz Geißler sagt, eine menschliche Erfindung, ein Ordnungssystem für Veränderung. Früher orientierten wir uns an den Zyklen der Natur – Tag und Nacht, den Jahreszeiten, den Festtagen der Kirche. Diese „festen“ Punkte gaben der Gesellschaft Halt. Heute richten wir uns nach Kalender und Uhr. Feiertage kann man streichen, ohne dass ein Aufruhr ausbricht. Die Rhythmen der Natur sind längst von Mechanik und Elektronik verdrängt.

Von der Naturuhr zur Maschinenzeit

In den Anfängen der Menschheit war die Natur die große Uhr. Der Sonnenaufgang bestimmte den Arbeitsbeginn, der Hahnenschrei das Aufstehen, der Sternenhimmel die Jahreszeit. Das Zeitbild war rund, zyklisch, nicht linear. Erst die Sonnenuhr brachte das Planen – und mit ihr eine erste Entfremdung. Die mechanische Uhr schließlich, ein Kind der Renaissance, machte die Stunde zum Maß, und der Satz „Zeit ist Geld“ wurde geboren. Mit der Industrialisierung wurde der Pfeil der Zeit gerade und schnell. Die Glühbirne vertrieb die Nacht, und aus „leben“ wurde „schaffen“. Geschwindigkeit wurde zum Maßstab des Fortschritts.

Was bis dahin noch eine gemächliche Entwicklung war, bekam nun einen Takt, der nicht mehr von der Sonne oder den Jahreszeiten vorgegeben wurde, sondern von Maschinen und Märkten. Der Schlag der Uhr wurde zum Pulsschlag des Fortschritts – und wer nicht im Takt ging, galt als rückständig.

Die Erfindung der Dampfmaschine setzte die Uhr endgültig unter Strom. Von nun an wurde Zeit nicht nur gemessen, sondern getrieben. Der Tag war kein selbstverständlicher Bogen von Sonnenauf- bis -untergang mehr, sondern eine Bahn, die sich beliebig verlängern ließ. Thomas Edisons Glühbirne machte die Nacht zum Arbeitstag, Kohle konnte im Dunkeln herangeschafft, Maschinen bei Tag und Nacht betrieben werden. Die Natur wurde nicht mehr als Partner wahrgenommen, sondern als Hindernis, das man mit Technik überwinden musste. Doch mit der Maschinenzeit kam der Takt – ein mechanischer und neuer Rhythmus, der unser Leben anders werden ließ.

Der Preis der Beschleunigung

Fortschritt hieß seither Geschwindigkeit. Alles sollte schneller gehen – Reisen, Kommunikation, Produktion. Wer beschleunigte, galt als modern. Straßen wurden zu Autobahnen, Schiffe zu Dampfern, Briefe zu Telegrammen. Essen musste schneller auf den Tisch kommen: Maggi-Fix, Fünf-Minuten-Terrine, Instantkaffee. Sekundenkleber verklebte in einem Wimpernschlag, und Taschentücher trugen den Namen „Tempo“.

Doch diese Raserei hatte einen Preis. Irgendwann verknüpften wir Zeit und Geld so fest, dass sie kaum noch zu trennen waren. Zeit wurde wertvoll – und weil sie wertvoll war, musste man sie sparen. Je mehr wir aber zu sparen versuchten, desto wertvoller schien sie zu werden. Ein Teufelskreis entstand: Je schneller wir wurden, desto weniger Zeit schien übrig zu bleiben.

Sicher, die Beschleunigung brachte Wohlstand – vor allem einen Wohlstand an Gütern. Aber sind wir dadurch wirklich reicher geworden? Wir haben diesen Güterwohlstand mit einem chronischen Mangel an freier Zeit bezahlt. Bereiche, die Zeit benötigen, gelten heute fast als unzeitgemäß. In der Pflege alter Menschen etwa wird Zuwendung nach Minuten abgerechnet, als ließe sich menschliche Nähe wie ein Reparaturdienst kalkulieren. In Familien würde man es kaum wagen, mit der Stoppuhr neben dem Krankenbett zu stehen – in professionellen Strukturen ist es Alltag.

Es gibt Prozesse, die sich nicht beschleunigen lassen: Heilung, Reifung, das Erwachsenwerden eines Kindes. Wer nie den Mühen und dem Zeitaufwand der Kindererziehung ausgesetzt war, hat dadurch vielleicht „Zeit gewonnen“ – aber wofür? Und was hat er daraus gemacht?

Die verlorene Kunst des Müßiggangs

Wir brauchen Räume, die frei sind von Planung, Zeitfenster, in denen keine Uhr tickt. Die Obsession, alles zu organisieren, hält uns davon ab, das Leben zu leben. Wir denken zu viel über Zeit nach und haben dadurch immer weniger davon. Die Frage ist, ob wir uns zwischen einem schnellen Leben und einem Leben mit Muße entscheiden müssen – oder ob beides möglich ist. Vielleicht ja, aber nur, wenn wir lernen, das Rasche mit dem Langsamen zu verbinden.

Langsamkeit ist mehr als eine Gegenbewegung zur Beschleunigung. Sie ist ein Stück Freiheit. Ein japanisches Sprichwort meint: „Wer sich zu sehr beeilt, verpasst den richtigen Augenblick.“ Langsam sein erlaubt uns, auf Dinge zuzugehen, statt an ihnen vorbeizujagen. Sie lässt Entwicklungen reifen und schafft Raum für Beschaulichkeit, für das Trödeln ohne schlechtes Gewissen. In einer Kultur, die Müßiggang mit Laster gleichsetzt, ist das fast schon ein Akt des Widerstands.

Doch wie soll man „frei von Zeit“ sein, wenn jeder Tag bis in die letzte Minute verplant ist? Nur in unverplanten Stunden können unerwartete Dinge geschehen. Glückliche Zufälle – das Wort „Zufall“ meint ja wörtlich das, was einem zufällt – haben nur dann eine Chance, wenn wir nicht schon völlig ausgebucht sind.

Stress zu vermeiden ist dabei keine Schwäche, sondern eine Kunst. Ein einfaches Lächeln kann Wunder wirken: Es aktiviert Muskeln, die einen Nerv in der Wange stimulieren, und das Gehirn reagiert mit der Ausschüttung von Glückshormonen. Lachen ist nicht nur eine Metapher für Leichtigkeit, es ist ein biochemischer Vorgang, der uns tatsächlich entlastet.

Auch das Warten ließe sich neu betrachten. Ursprünglich bedeutete warten „pflegen“ – wir warten heute noch regelmäßig ein Auto oder ein Flugzeug. Sich selbst beim Warten zu pflegen, kommt kaum jemandem in den Sinn. Stattdessen ärgern wir uns über Wartezeiten, die sich über ein Leben gerechnet auf Jahre summieren. Dabei wird der Bus nicht schneller, die Schlange an der Kasse nicht kürzer, nur weil wir uns grämen.

Das moderne Tempo-Menschentum hat seine eigenen Absurditäten. Ratgeber empfehlen, dem Tag Stunden zu stehlen, indem man weniger schläft, die Kaffeemaschine ans Bett stellt, Vorratskammern mit Konserven füllt, um Einkäufe zu sparen, und Arbeiten parallel erledigt. Aber was nützt gewonnene Zeit, wenn man zu erschöpft ist, um sie zu genießen?

Messungen haben gezeigt, dass Menschen in Berlin fast doppelt so schnell durch die Straßen eilen wie in einem sizilianischen Dorf. Je größer die Stadt, desto schneller der Schritt – New York schlägt Berlin noch einmal deutlich. Wer zu spät kommt, gilt bei uns als unpünktlich, in manchen afrikanischen Regionen ist man noch pünktlich, wenn man nur sechs Stunden verspätet eintrifft.

Aber wer genießt das Leben mehr – der, der ständig der Zukunft entgegeneilt, oder der, der im Hier und Heute verweilen kann?

Diese Frage führt mitten in das Herz der Zeitdebatte – weg von der Geschwindigkeit, hin zur Qualität des Augenblicks. Denn so sehr wir auch messen, sparen und beschleunigen: Am Ende bleibt nur der Augenblick, und die Frage, ob wir es überhaupt noch zu betreten wissen.

Das Jetzt als seltenster Ort

Der „Moment im Jetzt“ ist vielleicht der seltenste Ort, den wir noch betreten. Viele kennen ihn nur flüchtig, manche gar nicht mehr. Unsere Gedanken hängen zu großen Teilen woanders – oft zur Hälfte sich ärgernd in der Vergangenheit, die andere Hälfte sich sorgend in der Zukunft. Für die Gegenwart, die einzige Zeit, die wir aktiv gestalten können, bleibt kaum Zeit übrig. So leben wir unser Leben nur zu einem Bruchteil, während der Rest in Erinnerungen und Befürchtungen zerfließt. 

Die Vergangenheit scheint die logische Voraussetzung für die Gegenwart, diese wiederum die für die Zukunft. Doch in Wahrheit schleppen wir oft zu viel Unbewältigtes aus gestern mit uns herum und blicken zugleich mit zu viel Sorge auf morgen. Schlimme Erfahrungen von einst, verbunden mit dem unruhigen Blick auf ein unsicheres Morgen, rauben uns die Leichtigkeit des Seins.

Dabei hilft weder das Hoffen auf eine bessere Zukunft noch das sentimentale Schwelgen in guten alten Zeiten, um das Jetzt zu füllen. Der Moment muss bewusst gelebt werden – und es lässt sich nicht aufschieben. Die Vergangenheit ist nichts weiter als Erinnerung, die Zukunft nur Spekulation. Real ist allein dieser Augenblick. – Das Leben findet nur in der Gegenwart statt.

Wer sein Zentrum im Kopf hat, lebt fast immer außerhalb der Gegenwart. Das aber ist ein trügerischer Ort: Gedanken wandern, Erlebnisse verdunsten. Es gibt Tätigkeiten, die uns zwingen, im Hier zu sein. Eine Achterbahnfahrt etwa – oder ein Segelflug, oder jede Erfahrung, die uns mit Haut und Haaren fordert. In solchen Momenten ist es unmöglich, sich gleichzeitig mit der Steuererklärung von gestern oder den Sorgen um übermorgen zu befassen.

Vergangenes war zwar einmal wirklich, ist aber vorbei. Was bleibt, sind Erinnerungen, die wir im Heute mit uns herumtragen. Wenn wir aufgeräumt haben mit den Nöten, die aus dieser Vergangenheit stammen, verlieren sie ihre Macht. Im Heute gibt es diese Not nicht mehr – auch wenn es sie einst gegeben hat.

Die Zukunft wiederum ist noch nicht da. Wir können sie entwerfen, und je positiver wir das tun, desto günstiger kann sie sich vielleicht entwickeln. Doch bleibt es dabei: Das Schönste ist, im Hier und Heute zu leben. – Karl Valentin meinte einmal: „Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war.“

Tragisch ist, dass ausgerechnet unser Verstand – unser größtes Geschenk – uns dabei oft im Weg steht. Seine Bauweise macht es schwer, anzuerkennen, dass die Zeit, wie wir sie zu erleben meinen, vielleicht gar nicht existiert. Manche reagieren darauf mit Unglauben: „Ich sehe doch die Uhr, ich weiß, wie spät es ist!“ Und doch: Wer ganz zu sich kommt, kann erleben, dass die Welt innen stillsteht, auch wenn außen die Zeiger weiterrücken. – Gedankenexperiment: Hätte der Mensch keine Erinnerung an Vergangenes und würde er keine Ahnung davon haben, dass es eine Zukunft gibt: Gäbe in einem ewigen Jetzt dann überhaupt noch sowas wie Zeit für den Menschen? Gaukeln uns Erinnerungen und Spekulationen über das Künftige Zeit nur vor?

Es gibt Menschen, die – so mysteriös es klingen mag – einen anderen gleichzeitig in der Wiege und auf seinem letzten Weg sehen können. Für sie ist alles gleichzeitig da, weil Zeit, wie wir sie messen, in ihrer Wahrnehmung keine Rolle spielt.

Kindheit und Zeitlosigkeit

Kinder kennen dieses Zeitlose. Sie tragen keine Vergangenheit mit sich herum und sorgen sich nicht um die Zukunft. Vor der Schule ist es für sie selbstverständlich, zu trödeln, im positiven Sinn. Erst wir Erwachsene bringen ihnen bei, pünktlich zu sein, sich in Unterrichtsstunden zu fügen, das Ende herbeizusehnen. Kein Wunder, dass sich in der Erinnerung die Kindheit so weit und hell ausdehnt – die Kindheit war ein Leben im einfachen Sein des Moments.

Erinnern wir uns an lange Sommer, endlose Wartezeiten bis Weihnachten – beides für das Kind nicht quälend, sondern einfach Teil der Gegenwart. Geplagte Eltern kennen das Seufzen: „Nun trödel doch nicht so!“ – ein Satz, der das Kind aus seinem zeitlosen Raum herausreißt.

Ein Neugeborenes ist ein Meister des Jetzt. Staunend erkundet es die Welt, ohne Vergleich mit Früher oder Erwartung an Später. Vielleicht ist der beste Rat: das Jetzt zu genießen wie ein Kind, ohne Berechnung, ohne Fristen.

Auf manchem Grabstein könnte stehen: „Hat gelebt.“ Auf viel zu vielen müsste ehrlicherweise stehen: „Hatte vor zu leben.“ Die bewusste Gegenwart setzt eine abgeschlossene Vergangenheit voraus. Das ist oft leichter zu erreichen, als wir glauben: Streit beenden, Kränkungen verzeihen, nicht mit Groll in die Zukunft gehen. Fehler eingestehen, um Vergebung bitten, wenn man ungerecht war.

Abschied von der Vergangenheit

Manchmal ist Akzeptanz die einzige Möglichkeit, etwas abzuschließen. Wer akzeptiert, entzieht der Vergangenheit ihre Macht und öffnet dem Jetzt die Tür. Die Vergangenheit war wie sie war, wir können sie nicht mehr ändern. Kleine Rituale können helfen: Schulhefte nach der Prüfung verbrennen, den ersten Arbeitstag im neuen Job feiern.

Auch wenn der Zahn der Zeit an uns nagt und wir älter werden, so setzt sich unser Leben doch aus den wahrhaft gelebten Momenten des Augenblicks zusammen. Das Schöne ist, dass wir die Wunden der Vergangenheit hinter uns gelassen haben, die uns vielleicht Falten ins Gesicht geprägt haben. Mark Twain meinte dazu: „Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin.“ – Wichtig ist nur, dass wir auf ein gelebtes Leben zurückblicken können.

Das Leben fängt nicht erst an, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind – Führerschein, Beförderung, Ruhestand. Es ist immer da, in diesem, in jedem Moment. Das Jetzt ist immer zugänglich, wenn wir es wollen und uns dafür Zeit nehmen.

Und es ist erstaunlich: Wenn uns etwas wirklich wichtig ist, finden wir Zeit. Der überlastete Manager, der immer alles selber erledigte, nicht delegieren konnte und der plötzlich eine Affäre beginnt, findet Wege, die Treffen in seinen Tag einzubauen. Was man staunend beobachten kann, ist, wie er plötzlich mit Leichtigkeit delegieren kann. Das heißt: Wer ständig unter Zeitdruck steht, hat seine Prioritäten nicht geklärt. Wenn alles gleich wichtig scheint, dann ist in Wahrheit nichts wirklich wichtig – nur die Uhr wird zum Tyrannen. – Am Ende machen wir uns den Zeitdruck also selbst.

Freiheit im eigenen Takt

Wer sich dieser Tatsache bewusst wird, steht vor einer Wahl: weiter im selbstgebauten Hamsterrad zu rennen – oder den eigenen Takt zu bestimmen. Vielleicht beginnt genau hier die eigentliche Freiheit im Umgang mit der Zeit: nicht mehr ihr Sklave zu sein, sondern ihr Tanzpartner.

Die wahre Kunst des Lebens besteht nicht darin, möglichst schnell zu sein, sondern das Tempo zu wechseln. Geschwindigkeit kann den Blick schärfen, Langsamkeit kann ihn weiten. Beide haben ihren Platz, doch wer nur rast, verliert die Übersicht, und wer nur trödelt, verpasst Gelegenheiten. Freiheit liegt darin, zwischen beiden Welten wechseln zu können – so, wie ein Musiker zwischen den Tempi einer Melodie variiert, um ihr Leben einzuhauchen.

Die Kunst, Zeit zu bewohnen

Frei von Zeit zu sein heißt nicht, stillzustehen, sondern das starre Ticken der Uhr hinter sich zu lassen. Es heißt, dem Leben Raum zu geben, sich zu entfalten – für Begegnungen, Gedanken, Zufälle, die in keinem Kalender stehen. Vielleicht ist das größte Geschenk, das wir uns machen können, Zeit nicht zu verschwenden, indem wir sie krampfhaft „nutzen“, sondern indem wir sie erleben. – Mehr Spaziergänge in der Natur, ohne auf die Uhr zu schauen. 

Denn wenn wir am Ende zurückblicken, wird für uns nicht die Länge unseres Lebens zählen, sondern seine Tiefe. Vielleicht können wir dann lächeln und sagen: „Ich habe nicht nur vorgehabt zu leben – ich habe gelebt.“ Und vielleicht wird uns dabei ein altes persisches Sprichwort einfallen: „Drei Dinge kann man nicht zurückholen: den abgeschossenen Pfeil, das gesprochene Wort und die versäumte Gelegenheit.“


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