Europa im Sturm

Ein Aufruf zur Einheit in einer zerrissenen Zeit
Lesedauer ca. 18 Minuten

Europa im SturmAutor: Kurt O. Wörl

Europa steht am Scheideweg. Zwischen islamistischer und kriegerischer Bedrohung, unkontrollierter Migration, wachsender Unsicherheit und geopolitischem Machtverlust ringt der Kontinent um seine Identität – und um seine Handlungsfähigkeit. Die alte Friedensordnung bröckelt, die politische Mitte verliert Halt, während äußere Mächte das Vakuum füllen. Ist Europa noch in der Lage, sich selbst zu behaupten, oder zerfällt es im Streit um Werte, Grenzen und Verantwortung? Dieser Essay zeichnet das Bild eines Kontinents im Umbruch – zerrissen zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Ideal und Realität – und zeigt, wie aus der Krise ein Neubeginn entstehen könnte: mit den Vereinigten Staaten von Europa als möglicher Antwort auf das 21. Jahrhundert.

Prolog – Die Ausgangslage

Europa befindet sich in einer Phase tiefgreifender Verunsicherung. Drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg und über dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges genießen die Europäer ein Maß an Wohlstand, Frieden und sozialer Absicherung. Ein solches Niveau hat der Kontinent zuvor nie erreicht. Und doch hat sich in den letzten Jahren ein Gefühl schleichender Instabilität ausgebreitet – ein diffuses Bewusstsein, dass etwas Grundlegendes aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dieses Unbehagen zeigt sich nicht nur an den politischen Rändern oder im Wahlverhalten, sondern tief im Alltagsbewusstsein: in der Angst vor Anschlägen, in der Sorge um die wirtschaftliche Zukunft, im Misstrauen gegenüber Institutionen. Neuerdings auch in Kriegsangst und im wachsenden Wunsch nach Sicherheit – einem Begriff, der längst mehr umfasst als das Militärische: auch kulturelle, wirtschaftliche und psychologische Dimensionen.

Das Europa des 21. Jahrhunderts steht vor einer paradoxen Situation: Nie war es objektiv sicherer, nie so reich, nie so technisiert – und doch war das subjektive Sicherheitsgefühl selten so brüchig. Das spiegelt sich in der Rückkehr populistischer Bewegungen, in der Krise der politischen Mitte und in der Ratlosigkeit einer Bürokratie, die sich in Paragrafen verliert, während ihre Bürger nach Orientierung, Sicherheit und Ordnung suchen. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig, doch sie stehen in engem Zusammenhang. Islamistische Anschläge erschüttern Metropolen wie Paris, Berlin, Brüssel, Wien oder Stockholm. Zugleich führt die unkontrollierte Migration seit 2015 zu einem Dauerstreit über Grenzen, Identität und Solidarität. Parallel dazu kehrt die Machtpolitik in Form russischer und chinesischer Einflussstrategien zurück, während die USA – einst Garant europäischer Sicherheit – unter Donald Trump immer unberechenbarer werden. Diese Faktoren sind keine einzelnen Krisen, sie verstärken sich gegenseitig. Terrorismus schürt Angst. Angst verändert Politik. Politische Unsicherheit lähmt Institutionen – und die Lähmung vergrößert die Anfälligkeit Europas nach außen. Ein Kreislauf, der die Substanz der europäischen Demokratie bedroht.

Im Kern geht es um Vertrauen – das Vertrauen der Bürger in die Fähigkeit ihrer Staaten, Sicherheit, Ordnung und kulturelle Kohärenz zu bewahren, und das Vertrauen der Staaten untereinander, dass ihre Interessen im europäischen Verbund berücksichtigt werden. Beides erodiert. Wo früher nationale Politik als Schutzraum galt, wird sie heute als ohnmächtig erlebt; wo Europa als Friedensgarant galt, erscheint es heute als ferne Bürokratie ohne Gesicht. Gleichzeitig fordern äußere Kräfte – Russland, der politische Islam, auch China – die Grundlagen der europäischen Nachkriegsordnung heraus: Frieden durch Recht, Wohlstand durch Handel, Stabilität durch Institutionen. Doch diese Formel trägt nicht mehr, wenn sich der Gegner weder an Recht noch an Institutionen gebunden fühlt.

Europa steht also nicht nur vor einer Reihe einzelner Krisen, sondern vor einer Systemkrise seiner Selbstdefinition. Was bedeutet Freiheit in einer Welt, in der Sicherheit zur knappen Ressource wird? Wie weit kann Toleranz reichen, bevor sie sich selbst auflöst? Und wie verteidigt man eine Werteordnung, deren Fundament von innen und außen zugleich untergraben wird? Die folgenden Kapitel versuchen, diese Fragen nicht moralisch, sondern analytisch zu beantworten – durch den Blick auf die geopolitische Verschiebung, die Folgen der Migration, die kulturelle Herausforderung des Islamismus, das schwindende Sicherheitsgefühl, die politische Lähmung der Europäischen Union und schließlich die möglichen Wege, Europa neu zu begründen: als Verteidigungsgemeinschaft, als demokratischen Bundesstaat oder als reformierte Union der Vernunft – als Vereinigte Staaten von Europa.

Europa steht im Sturm. Ob es zerbricht oder sich erneuert, wird davon abhängen, ob es den Mut findet, sich selbst neu zu definieren.

Die geopolitische Zeitenwende

Die Epoche der vermeintlichen Stabilität nach dem Ende des Kalten Krieges ist vorbei. Was man einst „Friedensdividende“ nannte – die Hoffnung, dass ökonomische Verflechtung, internationale Organisationen und liberale Werte genügen würden, um Konflikte zu verhindern –, hat sich als Illusion erwiesen. Europa erwachte jäh aus diesem Traum, als Russland im Februar 2022 mit dem Überfall auf die Ukraine die Nachkriegsordnung zerschlug. Der Krieg kehrte zurück auf den Kontinent, den man für immun gegen ihn gehalten hatte. „Wandel durch Handel“ wirkt nicht mehr. Seitdem herrscht ein neues Zeitalter, das der letzte deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung treffend als „Zeitenwende“ bezeichnete.

Diese Zeitenwende besteht jedoch nicht nur im russischen Angriffskrieg. Sie markiert einen umfassenden Wandel der globalen Machtverhältnisse. Die USA, einst unangefochtener Hegemon der westlichen Welt, wenden sich zunehmend nach innen und in Richtung Pazifik. Unter Donald Trump war dieser Rückzug politisch programmiert, unter Joe Biden vollzog er sich leiser, aber ebenso konsequent. Der Fokus amerikanischer Strategie liegt auf China; Europa ist in Washington strategisch nachrangig geworden. Damit verliert die NATO ihre Rolle als verlässliches Schutzschild. Der Zweifel, ob die USA im Ernstfall tatsächlich für das Baltikum oder Polen kämpfen würden, ist keine Theorie mehr. Er ist zu einer strategischen Unsicherheit geworden, die jeder europäische Regierungschef in seine Kalkulation einbeziehen muss.

Gleichzeitig zeigt Russland, dass es – ungeachtet wirtschaftlicher Schwächen – fähig ist, die Schwellen des 20. Jahrhunderts zu überschreiten und mit den Methoden des 19. Jahrhunderts Politik zu betreiben: Eroberung, Einschüchterung, Einflusszonen. China wiederum verfolgt einen subtileren, aber nicht minder wirksamen Kurs: ökonomische Durchdringung, technologische Abhängigkeit, Infrastrukturprojekte, wie die „Neue Seidenstraße“, als geopolitisches Instrument. Beiden Mächten gemeinsam ist die Überzeugung, dass der Westen altert, schwach geworden ist und moralisch zersetzt – eine Zivilisation, die ihren Verteidigungswillen verloren hat.

Der Nahe Osten, lange Zeit ein Schauplatz peripherer Konflikte, ist ebenfalls Teil dieser tektonischen Verschiebung. Der politische Islam, in seinen gemäßigten wie radikalen Varianten, nutzt das Machtvakuum aus, das der Rückzug westlicher Einflussnahme hinterlässt. Iran, Türkei, Katar, aber auch Russland selbst instrumentalisieren religiöse und ethnische Konflikte, um Europa politisch zu destabilisieren und es vor der eigenen Haustür mit Krisen zu überziehen. Die Folge ist eine nie dagewesene Mischung aus äußerer Bedrohung und innerer Fragmentierung: Europa sieht sich einem hybriden Krieg ausgesetzt, der militärische, ökonomische, digitale und ideologische Mittel zugleich einsetzt.

Diese Entwicklung trifft auf eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte gelernt hat, Sicherheit als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Verteidigung wurde ausgelagert – an die USA, an die NATO, an Verträge und Institutionen. Der Zustand der Bundeswehr nach 16 Jahren Merkel-Regierung ist Symbol dieser Entwicklung. Er ist erbärmlich – und symptomatisch. Das kollektive Bewusstsein Europas hat verlernt, was es heißt, sich zu behaupten. Deshalb wirkt der russische Angriff auf die Ukraine wie ein Schock, der weit über die Grenzen dieses Landes hinausreicht. Er zwingt die Europäer, ihre bequemen Gewissheiten zu überprüfen: etwa, dass Frieden naturgegeben sei, dass Energie unbegrenzt fließe, dass Handel Wandel schaffe.

In dieser geopolitischen Neuordnung liegt zugleich Gefahr und Chance. Gefahr, weil Europa ohne militärische Eigenständigkeit und ohne politische Geschlossenheit leicht zum Spielball externer Mächte wird. Chance, weil die Bedrohung den Druck erzeugt, endlich das zu tun, was man seit Jahrzehnten hinausgeschoben hat: den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur. Die alte Weltordnung, die auf amerikanischer Schutzmacht und ökonomischer Globalisierung beruhte, trägt nicht mehr. Eine neue wird sich nur bilden, wenn Europa bereit ist, Verantwortung zu übernehmen – nicht nur für seine Werte, sondern für deren Verteidigung.

Noch ist offen, ob die politischen Eliten diese Herausforderung begreifen. Zwischen der Einsicht, dass sich etwas ändern muss und der Fähigkeit, es zu tun, klafft in Europa ein Abgrund. Viele Regierungen scheuen den Gedanken an eine „europäische Armee“ aus Angst vor nationalem Kontrollverlust. Doch wenn die Geschichte eines lehrt, dann dies: Sicherheit ist niemals kostenlos, und sie wird immer dort entschieden, wo der Wille zum Handeln stärker ist als die Angst vor Konsequenzen.

Die geopolitische Zeitenwende ist also nicht nur eine militärische, sondern eine geistige. Sie zwingt Europa, den Begriff der Verantwortung neu zu definieren – nicht als moralische Formel, sondern als Bereitschaft, Konsequenzen zu tragen. Ob die Europäer dazu bereit sind, wird darüber entscheiden, ob die Vereinigten Staaten von Europa eines Tages Wirklichkeit werden oder ob der Kontinent in die strategische Bedeutungslosigkeit abgleitet.

Migration und Identität

Kaum ein Thema hat Europa in den vergangenen Jahren so tief gespalten wie die Migration. Migration ist zur Bruchlinie europäischer Gesellschaften geworden – zwischen humanistischem Anspruch und realpolitischer Überforderung. Was in den 1950er- und 1960er-Jahren mit dem gezielten Anwerben von Arbeitskräften begann, ist längst zu einem dauerhaften Strukturphänomen geworden, das Gesellschaften verändert und politische Systeme herausfordert. Der Kontinent, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf Wiederaufbau, wirtschaftliche Kooperation und soziale Integration setzte, sieht sich heute einer globalen Wanderungsbewegung gegenüber, deren Ursachen komplex sind: Kriege, politische Verfolgung, Armut, Klimawandel, aber auch der Wunsch nach einem besseren Leben in einem Raum relativer Sicherheit und Wohlstand. Migration ist kein vorübergehendes Ereignis, sie ist die neue Normalität.

Doch diese Normalität stößt an Grenzen – physische, soziale und kulturelle. Die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 war der Moment, in dem diese Realität schlagartig sichtbar wurde. Millionen Menschen machten sich über die Balkanroute oder das Mittelmeer auf den Weg nach Europa, und die politischen Systeme reagierten überfordert. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, die anfangs groß war, wich bald einer Mischung aus Erschöpfung, Skepsis und Unmut. Hinter der moralischen Geste des Willkommens offenbarte sich eine strukturelle Hilflosigkeit: mangelnde Registrierung, überlastete Behörden, fehlende Wohnräume, divergierende Asylgesetze, unklare Rückführungsregelungen. Seitdem ringt Europa mit einer ungelösten Kernfrage: Wie verbindet man Humanität mit Kontrolle, Solidarität mit Eigenverantwortung – ohne sich moralisch zu belügen?

Migration ist in Europa nicht nur eine Frage von Grenzen, sondern auch eine Frage von Identität. Gesellschaften definieren sich über geteilte Normen, Sprache, Geschichte, Kultur. Wenn Einwanderung zu schnell oder zu unkontrolliert geschieht, geraten diese stillen Selbstverständlichkeiten ins Wanken. Der Begriff „Integration“ verschleiert häufig, dass es nicht um bloße Anpassung geht, sondern um die Bereitschaft, Teil einer kulturellen Ordnung zu werden. In Ländern wie Frankreich oder Schweden, aber auch in Deutschland, hat sich gezeigt, dass Integrationspolitik an ihre Grenzen stößt, wenn Parallelgesellschaften entstehen, in denen andere Werte, Rechtsauffassungen und Loyalitäten gelten. Parallelgesellschaften sind kein Naturprodukt, aber Folge politischer Nachlässigkeit und fehlender Konsequenz. Der Staat bleibt formal souverän, die Gesellschaft verliert aber de facto die kulturelle Deutungshoheit über Teile ihres Landes.

Besonders gefährlich wird es, wenn religiöse Identitäten politisch instrumentalisiert werden. Der politische Islam nutzt die Freiheiten der Demokratie, um eigene Macht- und Kommunikationsräume zu schaffen. Daraus entsteht keine offene Feindschaft, jedoch eine leise Entfremdung, die das Fundament der liberalen Demokratie untergräbt: die Idee, dass alle Bürger in erster Linie dem Gesetz verpflichtet sind und nicht einer Glaubensgemeinschaft.

Hinzu kommt ein demografischer Faktor, der das Problem verschärft. Europas Bevölkerung altert rapide, seine Geburtenrate liegt weit unter dem Bestandserhaltungsniveau. Arbeitskräfte aus dem Ausland sind also ökonomisch notwendig – doch das macht die Diskussion moralisch doppelt schwierig. Die Gesellschaft braucht Zuwanderung, aber sie fürchtet ihre sozialen Nebenwirkungen. So entsteht ein innerer Widerspruch: Man will Migration, aber nicht Migration, die das vertraute Lebensgefühl verändert und vor allem keine solche in die Sozialsysteme. Doch das verdrängt die Frage, welche Zuwanderung kann gesellschaftlich verkraftet werden – und welche nicht.

Die politische Sprache ist dabei selbst Teil des Problems geworden. Begriffe wie „Vielfalt“, „Toleranz“ oder „Humanität“ haben ihren moralischen Glanz behalten, aber ihre praktische Bedeutung verloren. Sie verschleiern Konflikte, statt sie zu klären. Eine Gesellschaft, die Konflikte nicht benennt, verliert zuerst die Wahrheit – und dann sich selbst.

Am Ende entscheidet sich an der Migrationsfrage, ob Europa seine eigene kulturelle Identität bewahren kann, ohne seine humanistischen Prinzipien zu verraten. Europa muss Migration gestalten, nicht erdulden. Dazu braucht es funktionierende Außengrenzen, klare Verfahren, Integrationspflichten – und den Mut, kulturelle Leitbilder auszusprechen. Wer hier leben will, darf seine Herkunft bewahren, muss aber die Grundregeln der Freiheit respektieren. Nur dann wird Migration zur Stärke – und nicht zum Spaltpilz.

Islamismus und die Krise der Säkularität

Kaum ein Thema hat den europäischen Selbstglauben so erschüttert wie die Konfrontation mit dem politischen Islam. Nicht der Islam als Religion ist das Problem. Millionen Muslime leben friedlich in Europa, arbeiten, studieren, zahlen Steuern und sind Teil der Gesellschaft. Das Problem ist die Politisierung des Glaubens, seine Umdeutung zu einem ideologischen Programm, das westliche Werte ablehnt und durch ein religiös begründetes Herrschaftsmodell ersetzen will. Der Islamismus, ob in seiner gewaltfreien oder terroristischen Variante, ist keine bloße religiöse Bewegung, sondern eine Form totalitärer Politik, die sich der Religion als Werkzeug bedient.

Der moderne europäische Staat gründet auf der Trennung von Religion und Politik, auf der Säkularität. Diese Trennung war Ergebnis jahrhundertelanger Auseinandersetzungen, Kriege und Aufklärung. Sie machte erst möglich, dass Menschen verschiedener Glaubensrichtungen friedlich nebeneinander leben konnten. Der Islamismus stellt diese Grundlage offen infrage. Er beansprucht für sich, dass religiöse Gebote über staatlichem Recht stehen, und delegitimiert damit das Fundament der europäischen Rechtsordnung. In den Augen islamistischer Denker ist Demokratie nur dann akzeptabel, wenn sie der Scharia nicht widerspricht; die individuelle Freiheit des Menschen tritt hinter Glaubensregeln zurück.

In vielen Städten sind die Folgen sichtbar. Es gibt Viertel, in denen die Polizei nur eingeschränkt präsent ist. Dort bestimmen religiöse Autoritäten über das soziale Leben, und Mädchen oder Frauen genießen nur eingeschränkte Freiheit. Der Übergang zwischen konservativem Islam und politischem Islamismus ist fließend. Nicht jeder, der Kopftuch trägt oder im Ramadan fastet, lehnt westliche Werte ab – aber der öffentliche Raum, in dem diese Werte selbstverständlich galten, ist kleiner geworden. Selbst liberale Muslime berichten von wachsendem Druck aus ihren eigenen Gemeinschaften, sich der konservativen Linie zu unterwerfen. So entsteht ein Klima der stillen Einschüchterung, das von außen kaum sichtbar ist, aber die Integrationskraft der Gesellschaft unterminiert.

Der islamistische Terror ist nur die sichtbarste Spitze dieses Phänomens. Von Madrid 2004 über London 2005, Paris 2015, Berlin 2019, Nizza 2020 bis Wien 2020 usw. reichen die Spuren einer Gewalt, die nicht militärisch, sondern politisch-religiös motiviert ist. Sie richtet sich gegen das alltägliche Leben – Konzerte, Cafés, Schulen –, gegen Orte, an denen Freiheit gelebt wird. Jeder Anschlag soll die Gesellschaft in Angst versetzen und die Idee der westlichen Offenheit delegitimieren. Doch die eigentliche Wirkung liegt tiefer: in der Selbstzensur, die sich danach breitmacht, im Misstrauen, das zwischen Bevölkerungsgruppen wächst, und in der schleichenden Erosion des Vertrauens in den Rechtsstaat. Wenn Lehrer sich nicht mehr trauen, über Religion zu sprechen. Wenn Journalisten Themen meiden. Wenn Politiker lavieren – dann hat der Islamismus bereits gewonnen, ohne zu siegen.

Europa hat darauf keine einheitliche Antwort gefunden. Frankreich reagiert mit laizistischer Härte, Deutschland mit Dialog und Integrationsprogrammen, Großbritannien mit lokaler Selbstverwaltung. Doch alle Ansätze stoßen an dieselbe Grenze: Sie versuchen, einen religiös motivierten politischen Anspruch mit administrativen Mitteln zu zähmen. Islamismus ist jedoch keine Integrationsfrage, sondern eine Machtfrage. Wer seine Gesellschaft schützen will, muss zuerst den Mut haben, die Gefahr zu benennen. Das bedeutet nicht, Muslime unter Generalverdacht zu stellen – im Gegenteil: Es bedeutet, jene Muslime zu stärken, die sich zur freiheitlichen Ordnung bekennen und selbst Opfer islamistischer Intoleranz sind.

Die Krise der Säkularität ist somit kein theologisches Problem, sondern ein politisches. Europa muss entscheiden, ob es die Trennung von Religion und Staat weiterhin als unantastbar begreift oder ob es aus Angst vor kultureller Konfrontation schleichend Kompromisse eingeht. Eine Gesellschaft, die religiöse Sonderrechte gewährt, verliert am Ende ihre Gleichheit vor dem Gesetz. Und eine Politik, die aus Furcht vor Konflikten auf klare Grenzen verzichtet, riskiert, ihre moralische Autorität zu verlieren. Der Islamismus zwingt Europa, sich seiner eigenen Werte wieder zu vergewissern. Er erinnert daran, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist, sondern verteidigt werden muss – nicht nur mit Gesetzen, sondern besonders auch mit Überzeugung.

Das schwindende Sicherheitsgefühl

Sicherheit ist ein Grundbedürfnis – nicht nur im physischen, sondern auch im psychologischen Sinn. Sie bildet das Fundament des Vertrauens in den Staat und in die Ordnung, die er repräsentiert. Wenn dieses Gefühl bröckelt, geraten selbst wohlorganisierte Gesellschaften ins Wanken. In Europa vollzieht sich dieser Prozess leise, aber spürbar. Obwohl die objektive Kriminalität in vielen Ländern seit Jahren rückläufig ist, wächst das subjektive Empfinden von Unsicherheit. Der Widerspruch zwischen Statistik und Lebenswirklichkeit ist kein Zufall. Er zeigt ein tieferes Phänomen: das schwindende Vertrauen, dass der Staat seine Bürger schützen kann.

Ein Teil dieser Erosion ist medial bedingt. Jede Gewalttat, jedes Attentat, jede Messerstecherei verbreitet sich binnen Minuten über soziale Netzwerke, wird kommentiert, skandalisiert und in Dauerschleife wiederholt. So entsteht ein permanenter Alarmzustand, eine kulturelle Überreizung, die jede Ausnahme zur Regel macht. Aber Medien allein erklären das Phänomen nicht. Das wachsende Unsicherheitsgefühl beruht auch auf realen Veränderungen: auf sichtbarer Verwahrlosung öffentlicher Räume, auf zunehmender Gewaltbereitschaft im Alltag, auf Respektverlust gegenüber Polizei und Rettungskräften, auf einer Justiz, die oft als überlastet und zu nachsichtig wahrgenommen wird. Der Bürger sieht, dass Straftäter schnell wieder auf freiem Fuß sind, während die Opfer mit den Folgen allein bleiben. Das erzeugt nicht nur ein Ohnmachtsgefühl, sondern auch Wut.

Die Polizei selbst steckt in einem Dilemma. Sie soll zugleich bürgernah und entschlossen, tolerant und robust, deeskalierend und durchsetzungsstark sein – ein Spagat, der in der Praxis kaum gelingt. In manchen Stadtvierteln, vor allem in Großstädten mit hoher sozialer Spannung, wird sie als Fremdkörper wahrgenommen, in anderen als zu passiv. Hinzu kommen politische Vorgaben, die ihren Handlungsspielraum einengen: Datenschutz, Beweispflichten, Angst vor Diskriminierungsvorwürfen. So entsteht das Bild einer „gefesselten Polizei“, die sehen, aber nicht handeln darf. Die Folge: Bürger meiden bestimmte Räume – Parks, Bahnhöfe, nächtliche Innenstädte. Dort übernehmen andere das Terrain, die keine Skrupel haben. Sicherheit wird damit zum Privileg der Starken und Vorsichtigen.

Besonders fatal wirkt sich der Vertrauensverlust auf das gesellschaftliche Klima aus. Wo Menschen sich unsicher fühlen, wächst die Sehnsucht nach Autorität. Wer den Staat als schwach erlebt, sucht Stärke anderswo: bei Parteien, die Härte versprechen, oder in Gemeinschaften, die Zusammenhalt bieten – selbst wenn dieser Zusammenhalt auf Abgrenzung beruht. Das erklärt den Erfolg populistischer Bewegungen, die Sicherheit als moralische Kategorie definieren: „Wir schützen euch, weil die anderen es nicht tun.“ Dieses Sicherheitsversprechen ist emotional wirksam, auch wenn es politisch selten eingelöst werden kann. Doch es nährt das Gefühl, endlich jemand sage, was viele denken – und das genügt, um Vertrauen umzulenken.

Sicherheit ist mehr als die Abwesenheit von Gefahr. Sie ist das Gefühl, dass Ordnung besteht und gilt. Wenn Gesetze zwar geschrieben, aber nicht durchgesetzt werden, verliert der Rechtsstaat seine Autorität, selbst wenn seine Prinzipien formal intakt bleiben. Der Bürger spürt, dass Regeln nur dann zählen, wenn sie gelten. Das ist der Grund, warum viele Menschen in Ländern mit sichtbarer Ordnung – auch autoritären – ein stärkeres Sicherheitsgefühl haben als in liberalen Demokratien, in denen die Durchsetzung des Rechts von politischer Opportunität abhängt. Sicherheit ist letztlich immer ein kulturelles Phänomen: Sie beruht nicht nur auf Polizei, Justiz oder Strafmaß, sondern auf der Überzeugung, dass der Staat den Willen hat, seine Bürger zu schützen.

Der Verlust dieses Willens, oder zumindest der Eindruck seines Verlustes, ist die eigentliche Krise. Europa hat sich daran gewöhnt, Konflikte zu vermeiden, statt sie auszutragen. Man beschwichtigt, wo man handeln müsste, und rechtfertigt Untätigkeit mit moralischen Argumenten. Doch wer Sicherheit zur Frage der Gesinnung erklärt, hat sie bereits verloren. Die Wiederherstellung des Vertrauens in den Staat beginnt dort, wo Politik den Mut hat, klare Grenzen zu ziehen – rechtlich, kulturell, territorial. Denn eine Gesellschaft, die ihre Sicherheit nicht ernst nimmt, verliert am Ende auch ihre Freiheit.

Europas politische Lähmung

Europa leidet weniger an Mangel an Gesetzen als an Mangel an Entschlusskraft. Die Institutionen funktionieren, die Parlamente tagen, die Bürokratien arbeiten – und doch bewegt sich zu wenig. Entscheidungen werden vertagt, Konflikte verwaltet, Verantwortung verteilt. Es ist eine paradoxe Stabilität: ein System, das unaufhörlich mit sich selbst beschäftigt ist und dadurch seine Handlungsfähigkeit verliert. Die politische Lähmung Europas zeigt sich auf drei Ebenen – national, supranational und kulturell – und sie ist das Resultat eines tiefen Strukturproblems: zu viel Bürokratie, zu wenig Führung.

Auf der Ebene der Europäischen Union wird das besonders deutlich. Das politische Herz Europas schlägt in Brüssel, aber es schlägt leise. Die Europäische Kommission, formal die Exekutive, besitzt das alleinige Initiativerecht für Gesetzesvorhaben, wird jedoch nicht direkt gewählt. Das Europäische Parlament ist gewählt, hat aber kaum Macht, kann keine eigenen Gesetzesvorschläge einzubringen. Der Rat der Mitgliedsstaaten wiederum entscheidet hinter verschlossenen Türen und blockiert sich häufig selbst. In der Summe entsteht ein bürokratisches Labyrinth, das kaum jemand durchblickt. Entscheidungen, die Millionen Bürger betreffen, fallen in einem Verfahren, das zwar rechtlich korrekt, aber demokratisch kaum nachvollziehbar ist. Die Folge ist Entfremdung: Der Bürger fühlt sich nicht repräsentiert, sondern reglementiert. Brüssel ist in seinem Bewusstsein kein Ort der Gestaltung, sondern ein Symbol der Fremdbestimmung geworden.

Doch auch die nationalen Regierungen sind Teil des Problems. Sie haben sich daran gewöhnt, Verantwortung nach oben abzuschieben. Was unpopulär ist, kommt „aus Brüssel“; was Erfolg verspricht, reklamiert man als eigene Leistung. Damit wird die EU zum bequemen Sündenbock einer Politik, die selbst kaum Mut zur Gestaltung hat. Die Angst vor Fehlern, vor Protesten, vor medialem Gegenwind lähmt den politischen Prozess. Regierungen reagieren statt zu agieren, und weil sie ständig auf Stimmungen schielen, verlieren sie ihre Fähigkeit zur Führung. So verengt sich Politik zur bloßen Verwaltung – und Verwaltung zu schwacher Kommunikation. Das Ergebnis ist ein Europa, das redet, wo es handeln müsste, und zaudert, wo es entscheiden sollte.

Hinzu kommt ein kulturelles Problem: Die europäische Idee ist müde geworden. Sie lebt noch in den Institutionen, aber nicht mehr in den Herzen. Nach 1945 war Europa ein Friedensprojekt, nach 1989 ein Freiheitsprojekt. Heute ist es vor allem ein Regelwerk. Man spricht von Richtlinien, Quoten, Förderprogrammen – aber kaum noch von Visionen. Willensäußerungen aus der Bevölkerung wird regelmäßig schulterzuckend mit „Das verstößt gegen europäisches Recht“ begegnet. Es gibt keine großen Erzählungen mehr, keine gemeinsame Richtung. Die europäische Integration war einst ein Versprechen: dass Vielfalt und Einheit sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig befruchten. Heute wirkt sie oft wie eine Last, ein ständiger Balanceakt zwischen Nord und Süd, Ost und West, zwischen nationalen Egoismen und supranationaler Bürokratie.

Die Folgen dieser Lähmung sind weitreichend. Außenpolitisch fehlt Europa das Gewicht, militärisch die Schlagkraft, wirtschaftlich die Dynamik. Innere Krisen – wie Migration, Energieversorgung oder Inflation – werden von Gipfel zu Gipfel getragen, ohne dass sich Grundsätzliches ändert. Der Apparat sichert das Überleben der Struktur, nicht deren Zukunft. Und während die politische Klasse beschäftigt ist, entstehen an den Rändern Bewegungen, die versprechen, „das System“ aufzubrechen. Doch die radikale Antwort auf Stillstand ist selten Erneuerung – meist ist sie Zerstörung.

Europa befindet sich damit in einem Zustand kontrollierter Agonie: Es funktioniert, aber es überzeugt nicht mehr. Die Demokratie verliert ihren Glanz, weil sie als ineffizient wahrgenommen wird, und die Bürokratie verliert ihre Legitimität, weil sie zu viel Raum einnimmt. Was fehlt, ist der politische Wille, Europa als politisches Projekt neu zu denken – nicht als technokratische Verwaltungseinheit, sondern als Schicksalsgemeinschaft. Nur wenn Europa wieder zu einem erstrebenswerten Ziel wird, kann es sich aus seiner Lähmung befreien.

Wege aus der Krise

Europa steht vor einer Weggabelung. Es kann entweder weiter versuchen, die gegenwärtige Ordnung zu verwalten, dabei aber zusehen, wie sie schleichend erodiert, oder es kann sich entschließen, sein politisches Projekt neu zu begründen. Die Krisen der vergangenen Jahre – Finanzkrise, Migrationskrise, Pandemie, russischer Angriffskrieg – haben gezeigt, dass das derzeitige System zwar widerstandsfähig ist, aber nicht handlungsfähig genug, um langfristig Vertrauen zu erzeugen. „Weiter so“ bedeutet nicht Stabilität, sondern langsames Abgleiten. Wer den Kontinent retten will, muss den Mut haben, entweder mehr Europa zu wagen oder weniger – und zwar bewusst, nicht durch Zermürbung.

Option 1

Die erste Option ist die föderale Vertiefung: ein Kern Europas, der sich zu einer echten politischen Union zusammenschließt. Diese Vereinigten Staaten von Europa wären kein zentralistischer Superstaat, sondern ein demokratisch legitimierter Bundesstaat mit klaren Kompetenzen, einer gewählten Regierung und einem Parlament mit Gesetzesinitiativrecht. Sie hätten eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, einheitliche Standards für Migration und Asyl, eine abgestimmte Energie- und Wirtschaftspolitik. Ein solcher Bundesstaat könnte handlungsfähig sein, ohne sich in 27 nationalen Vetos zu verlieren, und er könnte zugleich ein neues Identitätsgefühl stiften: nicht als Ersatz der Nationen, sondern als Schutz ihrer Freiheit in einer gefährlichen Welt.

Ein solches Projekt könnte von einem Kreis der Willigen ausgehen – Staaten, die über Geschichte, Wirtschaftskraft und politisches Gewicht verfügen, um einen echten Integrationskern zu bilden. Deutschland, Frankreich und Italien wären das natürliche Zentrum: wirtschaftlich stark, kulturell prägend und historisch miteinander verflochten. Schließen sich die Benelux-Staaten an, entstünde ein Block von über 220 Millionen Menschen, dessen Wirtschaftskraft der drittgrößten der Welt entspräche. Dieser Kern könnte das verwirklichen, woran die gesamte EU scheitert: Integration durch Handeln statt durch endlose Gipfel. Der Rest Europas bliebe nicht ausgeschlossen, sondern könnte sich anschließen, sobald politischer Wille und öffentliche Zustimmung gegeben sind. So entstünde Schritt für Schritt ein föderales Europa, das aus eigener Kraft Sicherheit, Wohlstand und Stabilität gewährleistet – nicht als Ersatz der EU, sondern als ihr politisches Rückgrat.

Ein solcher Zusammenschluss hätte zudem erhebliche geostrategische Vorteile. Durch Frankreich und die Niederlande verfügten die Vereinigten Staaten von Europa über eine globale Präsenz, wie sie derzeit keine andere europäische Macht besitzt. Die französischen Überseegebiete – von der Karibik über Französisch-Guayana in Südamerika, Réunion und Mayotte im Indischen Ozean bis hin zu Neukaledonien und Französisch-Polynesien im Pazifik – bilden ein Netz strategischer Stützpunkte, das Europa buchstäblich weltumspannend machte. Sie reichen über alle fünf Ozeane und ermöglichen eine militärische Präsenz in Regionen, die für Energieversorgung, Seehandel und Weltraumforschung von entscheidender Bedeutung wären.

Hinzu kämen die niederländischen Besitzungen in der Karibik – Aruba, Curaçao, Sint Maarten und Bonaire –, die Europa Zugang zu einer weiteren atlantischen Achse böten. Zusammengenommen entstünde ein Netz aus Stützpunkten und Infrastruktur. Es würde die künftigen Vereinigten Staaten von Europa befähigen, ihre Handelsrouten, Kommunikationsnetze und Energiezufuhren eigenständig zu schützen. Ein solcher Staatenbund wäre keine Regionalmacht mehr, sondern eine globale Ordnungskraft – nicht im Sinne imperialer Expansion, sondern als Garant des Gleichgewichts in einer zunehmend instabilen Welt. – Und sollten sich Dänemark, Spanien und Portugal dem neuen Bundesstaat anschließen, kämen noch etwa zehn weitere Überseegebiete hinzu.

Ein Traum freilich, aber ein schöner Traum. Indessen zeigten sich die europäischen Staaten bislang viel zu uneins, als dass man ihnen zutrauen könne, ein solches Projekt anzugehen. Aber vielleicht zwingen die geopolitischen Gegebenheiten die Länder Europas dereinst zur Einigung? Andernfalls halte ich die folgende Option für die wahrscheinlichste.

Option 2

Die zweite Option ist der bewusste Rückbau: die EU zurückzuführen auf ein reines Wirtschaftsbündnis, das für freien Handel, offene Grenzen und technische Kooperation steht, ohne politische Ambitionen. Damit gäbe man die Illusion einer europäischen Weltmacht auf und konzentrierte sich auf das, was am besten funktioniert: Binnenmarkt, Forschung, Verkehr, Infrastruktur. Sicherheit und Migration blieben nationalen Regierungen überlassen. Das wäre einfacher, ehrlicher und demokratisch nachvollziehbarer, aber es würde Europa geopolitisch schwächen und wieder in die Abhängigkeit von großen Mächten führen. Frieden und Wohlstand wären nicht ausgeschlossen, aber fragiler.

Option 3

Zwischen diesen Polen liegt eine dritte Möglichkeit: die EU von innen her zu reformieren. Dazu gehören ein Gesetzesinitiativrecht für das Europäische Parlament, transparente Sitzungen des Ministerrats, verbindliche europäische Bürgerentscheide, eine Reform des Asyl- und Migrationssystems und ein einheitlicher Verteidigungsrahmen, der noch keine europäische Armee ist, aber gemeinsame Kapazitäten bündelt. Diese Variante würde Europa schrittweise demokratisieren, ohne es radikal umzubauen. Doch auch sie verlangt Mut und klare Entscheidungen – und eine Öffentlichkeit, die bereit ist, sich auf Debatten einzulassen, statt sie moralisch abzuwürgen.

In jedem Fall muss Europa lernen, dass Sicherheit kein Widerspruch zu Freiheit ist, sondern deren Voraussetzung. Eine liberale Ordnung überlebt nicht durch Beschwichtigung, sondern durch Wehrhaftigkeit. Migration muss gesteuert werden, nicht um die Humanität abzuschaffen, sondern um sie zu sichern. Islamismus muss als politische Ideologie erkannt und bekämpft werden, ohne Muslime pauschal zu diffamieren. Und die Demokratie muss sich öffnen für mehr direkte Beteiligung, damit Bürger nicht den Eindruck haben, ihnen bleibe nur der Protest. Nur ein Europa, das seine Bürger ernst nimmt, kann sie an sich binden.

Der Weg aus der Krise führt über Klarheit, nicht über Beschwichtigung. Europa muss entscheiden, wer es sein will: eine Wertegemeinschaft, die auch bereit ist, ihre Werte zu verteidigen, oder eine bloße Freihandelszone ohne politischen Anspruch. Es muss die Bereitschaft entwickeln, Verantwortung zu übernehmen – militärisch, kulturell und institutionell – und seine Strukturen so reformieren, dass sie wieder handlungsfähig werden. Die Stunde der Entscheidung ist nicht fern. Der Kontinent hat in seiner Geschichte immer wieder gezeigt, dass er aus Krisen lernen kann. Vielleicht wird es diesmal ein Zusammenschluss der Entschlossenen sein – ein deutsch-französisch-italienisch-belgisch-niederländisches Kernbündnis, das aus der europäischen Müdigkeit ein neues Kapitel macht. Wenn dieser Kern Erfolg hat, wird der Rest folgen – nicht aus Zwang, sondern aus Einsicht. Dann könnte aus der heutigen Schwäche jene Kraft erwachsen, die Europa wieder zu dem macht, was es sein wollte: ein Kontinent der Freiheit, der Vernunft und der gemeinsamen Verantwortung.

Epilog: Das fragile Erbe Europas

Europa ist ein Kontinent der Erinnerung. Seine Geschichte ist durchzogen von Katastrophen, aus denen es stets neu hervorgegangen ist – zerschlagen, ernüchtert, aber lernfähig. Nach Jahrhunderten religiöser Kriege fand es zur Säkularität, nach nationalistischen Verheerungen zum Frieden, nach der Teilung zum Zusammenschluss. Doch jede dieser Phasen des Aufstiegs folgte auf eine Krise, die Europa an den Rand seiner Selbstzerstörung geführt hatte. Heute steht der Kontinent erneut an einem solchen Punkt. Die Bedrohungen sind nicht so sichtbar wie Panzer an den Grenzen oder Bomben auf den Städten, aber sie sind existenziell: kulturelle Erosion, politische Lähmung, moralische Müdigkeit.

Islamismus, Migration, geopolitische Unsicherheit und schwindendes Vertrauen in Institutionen sind keine isolierten Probleme. Sie sind Symptome einer tieferen Verunsicherung: einer Gesellschaft, die nicht mehr weiß, wer sie ist, wofür sie steht und was sie verteidigen will. Europa hat verlernt, aus seiner eigenen Geschichte Kraft zu schöpfen. Es vertraut auf Werte, deren Herkunft es vergessen hat, und erwartet Stabilität von Strukturen, deren Legitimation zu erodieren beginnt. Der Wohlstand, den es sich erarbeitet hat, hat eine Trägheit erzeugt, die den Blick für das Wesentliche trübt: Freiheit ist kein Zustand, sondern eine Verpflichtung.

Das Projekt der europäischen Einigung war nie nur ökonomisch, sondern zutiefst zivilisatorisch. Es sollte verhindern, dass Macht wieder über Recht triumphiert und Ideologie über Vernunft. Diese Idee ist nicht gescheitert, aber sie ist in Gefahr, weil sie zu selbstverständlich geworden ist. Europa wird nicht durch äußere Feinde untergehen, sondern durch die Gleichgültigkeit seiner Bürger, wenn es ihnen gleichgültig wird, ob sie frei sind.

Vielleicht ist gerade die gegenwärtige Unsicherheit eine Chance. Sie zwingt die Europäer, sich zu erinnern, dass Sicherheit, Demokratie und Menschenwürde keine automatischen Gegebenheiten sind, sondern täglich verteidigt werden müssen – nach außen mit Entschlossenheit, nach innen mit Integrität. Wenn der Kontinent aus dieser Erkenntnis heraus den Mut findet, sich neu zu ordnen, könnte die Krise sein Beginn, nicht sein Ende sein.

Europa steht im Sturm, aber es ist nicht verloren. Noch trägt es das Erbe der Aufklärung, des Humanismus und des Rechts. Wenn es gelingt, diese Werte wieder mit Leben zu füllen, Verantwortung zu übernehmen und Einheit nicht als Zwang, sondern als Schutz zu begreifen, dann könnte aus der gegenwärtigen Unsicherheit eine neue Stärke erwachsen. Vielleicht werden Historiker eines Tages schreiben, dass die Bedrohungen des frühen 21. Jahrhunderts jene Kraft freisetzten, aus der die Vereinigten Staaten von Europa entstanden. Nicht aus Machtstreben, sondern aus der Einsicht, dass Freiheit nur dort Bestand hat, wo Menschen bereit sind, sie zu verteidigen. Wer Europa retten will, muss zunächst daran glauben können, dass es noch zu retten ist.


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