Neuronensturm im Interview

Lesedauer: ca. 13 Minuten

Welche Überraschung! Irena, eine befreundete, junge Volontärin, die Journalistin werden möchte, rief mich an und fragte, ob sie mit mir ein Interview als Betreiber von NEURONENTURM führen dürfe. Den Wunsch mochte ich ihr nicht abschlagen, zumal ich das Interview hier veröffentlichen darf. Wir vereinbarten flugs einen Termin für ein Treffen in einem Caféund es war ein wirklich wunderbares Gespräch. Das passt wunderbar in die Rubrik „Über Neuronensturm“.

In einem Café in Schwabach

Irena:
Hallo Kurt, danke, dass Du erlaubst, dieses Interview mit Dir zu führen. Ich lese Deine Beiträge ja schon länger mit und freue mich immer wieder über Deine Beiträge. Vielem kann ich zustimmen, einiges müsste ich hinterfragen.

Kurz zum Hintergrund, warum ich Dich angerufen habe und um das Interview bat. Als Volontärin muss ich meinem Sender immer wieder kleine Reportagen oder Interviews vorlegen und mir dient das zugleich als Übungseinheit für meinen künftigen Beruf als Journalistin.

KOW: 
Das war für mich selbstverständlich, Irena, für Dich mache ich fast alles. Nur eine Bedingung habe ich: Ich möchte das Interview als Transskript haben und auf meinem Blog veröffentlichen. Geht das? – Und ich bin übrigens froh, dass Du auch etwas zu hinterfragen hast. Das schärft die Sinne für künftige Beiträge.

Irena:
Ja, Du kannst das Interview auf Neuronensturm übernehmen, darum hast Du mich ja schon am Telefon gebeten. Ich habe meine Redakteurin gefragt, sie ist damit einverstanden.

KOW:
Dann gehen wir es an, leg los, was möchtest Du wissen?

Irena:
Ja zunächst interessiert mich: wie ist Neuronensturm entstanden – war es ein spontaner Gedanke, ein geplantes Projekt oder eine Reaktion auf ein Ereignis?

KOW:
Zunächst diente mir der Blog eigentlich nur als eine Art Logbuch. Ein Werkzeug, in welchem ich einfach meine Gedanken zu völlig unterschiedlichen Themen sammelte. Er hieß zunächst auch nur „KOW-Reflexionen“. Ob ich damit auch andere Leser erreichen konnte, war mir damals – etwa um 2010 – nicht wichtig.

Als ich dann doch zunehmend von mir völlig fremden Leuten Feedback erhielt und ich mich etwas professioneller zu Zeitthemen, philosophischen Aspekten äußern wollte, wurde aus KOW-Reflexionen schließlich „NEURONENSTURM“. Die Idee: alles, was wir mündlich oder als Text von uns geben, ist letztlich das Ergebnis eines neuronalen Gewitters in unserem Gehirn. Was dort an Gedanken reift, formt sich zu Botschaften, die ich „Depeschen“ nenne, also Meldungen unseres im Neocortex verorteten Verstandes, der sie in unsere kleine oder größere Welt sendet.

Irena:
Ein schönes Bild – „Depeschen des Neocortex“. Denken als Gewitter im Kopf. Ist Neuronensturm für Dich eher ein Befreiungsschlag oder ein Aufbegehren – gegen was? 

KOW:
Nichts von beidem. Ich wollte zunächst einen griffigen Blog-Namen und habe einfach das genommen, was ja in unserem Kopf passiert, wenn wir nachdenken: Ein Sturm von Neuronen wird entfesselt, formuliert sich zu Sagbarem und das Ergebnis sind eben diese Depeschen aus dem Neocortex.

Irena:
Das klingt spannend und poetisch. Dein Blog berührt viele Themen – Gesellschaft, Medien, Philosophie, Moral, Zeitgeist. Du hast ihn auch in entsprechende Rubriken eingeteilt. Folgt das einem festen Konzept, oder lässt Du Dich vom Strom der Gedanken treiben – also vom jeweiligen „Neuronensturm“, der gerade in Deinem Kopf tobt?

KOW:
Beides. Manchmal zwingt einen das Zeitgeschehen, Stellung zu nehmen. Manchmal erarbeite ich philosophische Vorträge, die ich danach als Essays umschreibe und veröffentliche. Und ganz nebenbei ist das auch Gehirnjogging, in meinem Alter (70) ganz nützlich.

Irena:
Schreiben als Gymnastik fürs Gehirn, herrlich. Dann lass uns zu einem Deiner Themen kommen: Zeitgeschichte.

Du beschäftigst Dich in vielen Texten mit historischen Bezügen, manchmal explizit, manchmal eher unterschwellig. Wie verstehst Du Zeitgeschichte im Kontext von Neuronensturm – ist sie für Dich eher ein Spiegel, ein Lehrer oder ein Warnruf der Gegenwart?

KOW:
Alles zusammen. Die Zeitgeschichte zwingt mich als liberal-bürgerlich denkenden und lebenden Mensch mir eine Haltung zum Geschehen um mich herum zu erarbeiten. Ich sehe Ereignisse, die mich erfreuen, mir gefallen und solche, mich eher nachdenklich stimmen, bisweilen Sorgen bereiten. Wie soll man als Bürger verantwortungsbewusst an der Wahlurne seine Stimme abgeben, wenn man über nichts informiert ist und deshalb auch nicht wissen kann, was man mit einer Stimmabgabe bewirken kann? Mir scheint, viele Menschen machen ihr Kreuzchen aus dem Bauch heraus. Danach schimpfen sie auf „die da oben“.

Wenn das Zeitgeschehen zu bizarr wird, dann greife ich auch zu bissiger Satire, schreibe Glossen und auch schon mal Groteskes.

Irena:
Das erklärt, warum Deine Texte oft zwischen Analyse und Zuspitzung pendeln. 

Wenn Du sagst, Zeitgeschichte zwinge Dich zur Haltung: Wo siehst Du heute die größten Parallelen oder Kontraste zwischen den politischen und gesellschaftlichen Strömungen unserer Gegenwart und jenen der vergangenen Jahrzehnte – sagen wir, den 1970er oder 1980er Jahren?

KOW:
Man muss noch früher ansetzen, bei den „Philosophen“ der Frankfurter Schule, der 68er-Generation und schließlich weiter mit der Gründung der Partei „die Grünen“. Herbert Marcuse hat für die Linke eine Strategie erarbeitet, die sinngemäß lautet, man müsse Liberale und vor allem Konservative nicht nur politisch hart bekämpfen, sondern all ihre Tun und Reden konsequent delegitimieren. Rudi Dutschke gab den Weg vor: den Marsch durch die Institutionen. Beides ist dem Linksspektrum überraschend gut gelungen. Sie haben es seit etwa 20/30 Jahren zur Perfektion entwickelt. Medien, Kultur und Hochschulen sind durchdrungen von diesem avantgardistischen Geist. Und die Liberal-Konservativen haben bislang keine wirksamen Gegenmittel zur Abwehr gefunden.

Ich sehe darin übrigens den Hauptgrund für das heutige Umfragehoch für die AfD. Die Menschen wollen mit überwältigender Mehrheit eine bürgerliche Regierung für eine bürgerliche Gesellschaft und müssen zunehmend die Dekonstruktion derselben hinnehmen. Linke, Grüne, und SPD kommen zusammen in den Umfragen kaum mehr über ein Drittel der Wählerstimmen, aber sie dominieren immer noch den öffentlichen Diskurs und die wichtigsten, bereits genannten Institutionen.

Irena:
Das ist eine bemerkenswerte Diagnose – und zugleich ein kulturhistorisches Panorama. Wenn ich Dich richtig verstehe, geht es Dir nicht um Nostalgie, sondern um eine Art intellektuelle Gegenwartsforschung: Du legst ideologischen Schichten frei, die unsere Gesellschaft dominieren und fragst, warum bürgeliches Denken so wehrlos wirkt.

Daran anschließend: Wie bewertest Du die Rolle der Medien in diesem Prozess – sind sie selbst Akteure einer ideologischen Verschiebung oder eher Symptom einer gesellschaftlichen Bequemlichkeit, die sich lieber belehren lässt als selbst zu denken?

KOW:
Medien sind zunehmend Akteure, keine reinen Berichterstatter mehr. Nachricht und Kommentar verschwimmen zu einem agitatorischen Brei, Gesinnung steht vor Neutralität. Es gibt wenige Ausnahmen, wie die NZZ und die WELT. Ansonsten verbreiten Medien vorwiegend links-grüne Narrative, framen liberal-konservative als unangemessen, delegitimieren die Mehrheitsmeinung als verachtenswerte Haltung. Diffamierung könnte man das treffender nennen. Vom Credo Hanns Joachim Friedrichs ist kaum mehr etwas zu spüren. Und leider betreiben das die Sender des ÖRR in besonders überdehnter Weise. Die Glaubwürdrigkeit von ARD, ZDF und Deutschlandfunk liegt nach mehreren Umfragen bei nur etwa 40 Prozent. Seitens der Rechtspopulisten brachten ihnen dies das völlig überzogene Verdikt „Lügenpresse“ ein.

Irena:
Du spielst auf Friedrichs’ berühmten Satz an – „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich mit keiner Sache gemein macht, auch nicht mit einer guten.“ Ein Satz, der heute wie aus einer anderen Epoche klingt.

Bleiben wir beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, Kurt: Siehst Du seine Entwicklung als Folge eines politisch-ideologischen Machtzuwachses oder als ein strukturelles Problem – also ein System, das sich selbst zur Haltungsmaschine umbaut, ohne dass es jemand bewusst steuert?

KOW:
Ja klar. Das passiert zunehmend, aber eben gerade nicht unbewusst, sondern – wie ich meine – vorsätzlich. Wenn in mehreren Umfragen Journalisten des ÖRR sich zu über 70 Prozent selbst eine eher links-grüne Grundhaltung attestieren (bei ARD-Volontären waren es sogar 90%), dann hat dies Auswirkungen auf die Sendeformate. Zuletzt konnte man sehen, wie die konservative Journalistin Julia Ruhs beim NDR gecancelt. wurde. Und die Rundfunkräte? Zahnlose, damit nutzlose, aber sehr teure Papiertiger. Ja, das ist ein strukturelles Problem. Unter dem Deckmantel der Pressefreiheit glauben sie berechtigt zu sein, mit Schlagseite zu berichten, einzuordnen und zu urteilen. 

Irena:
Also ein tiefer Vertrauensbruch zwischen Publikum und medialem System, der sich über Jahrzehnte aufgebaut hat. 

Lass uns den Blick etwas weiten: Du schreibst ja nicht nur über das Heute, sondern ziehst immer wieder Linien zur Vergangenheit. Welche Funktion hat für Dich der historische Vergleich, um gegenwärtige Entwicklungen zu deuten? Ist das ein Erkenntnisinstrument oder eher ein Warnsystem?

KOW:
Wer das Gestern nicht kennt, kann heute keine richtigen Entscheidungen für morgen treffen. Man kann ja nur aus der Vergangenheit lernen. Was wir heute bräuchten, das wären wieder universal gebildete Eliten. Weit und breit findet man heute keinen Voltaire, Kant, Descartes, Goethe, Montaigne und schon gar keinen Sokrates mehr. Ja, der Blick in die Vergangenheit erst lässt uns das Wichtige erkennen. Und mit Blick auf die Verfassung unserer Gesellschaft ist der Vergleich mit der Weimarer Republik z.B. auch ein Warnsignal.

Irena:
Das ist ein bemerkenswerter Gedanke – Bildung als Gegengift gegen ideologische Verengung. 

Lass uns diesen Faden noch ein Stück weiterführen. Wenn Du sagst, wir bräuchten wieder universal gebildete Eliten – was verstehst Du darunter konkret? Geht es um klassische Bildung im humanistischen Sinn, oder um eine neue, interdisziplinäre Form geistiger Verantwortung in einer technisierten Welt?

KOW:
Beides. Leider gibt es heute kaum mehr humanistisch Gebildete, die als Generealisten den Gesamtüberblick liefern könnten. Die Universitäten sollte man in Fachhochschulen umbenennen, denn das, was sie liefern ist auch nur noch Fachidiotentum. Effizienz für die Wirtschaft ist aber nicht alles.

Irena:
Ein hartes Urteil: Die Universität als Produktionsstätte von Spezialisten, nicht mehr als Denkwerkstatt des Menschen. Kant hätte wohl gesagt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“

Wenn Wissen also nicht mehr zum Denken, sondern zum Anwenden erzogen wird – was bedeutet das für die Urteilskraft des Bürgers? Glaubst Du, dass diese Entwicklung auch der Grund ist, warum viele Menschen sich heute so leicht in Echokammern ziehen lassen?

KOW:
Sicher ist das so, und die Sozialen Medien – eigentlich asoziale Medien – sind die Brandbeschleuniger.

Irena:
„Asoziale Medien“, wie passend. Sie versprechen Vernetzung, erzeugen aber Isolation; sie behaupten Vielfalt und schaffen Echokammern.

Wenn Du auf die heutige digitale Öffentlichkeit blickst: Siehst Du in ihr noch das Potenzial für einen neuen Humanismus – also die Chance, Wissen, Kunst und Philosophie wieder breiter zugänglich zu machen – oder ist das Netz für Dich bereits irreversibel zur Bühne des Krawalls geworden?

KOW:
Mehreres wäre hier anzuführen. In Frankreich ist die erste Arbeit beim Abitur eine vierstündige solche in Philosophie. Hierzulande wurden die MINT-Fächer in den Mittelpunkt gesetzt. Deutsch wurde zeitweise sogar „nach Gehör“ gelehrt. Selbst mit Legasthenie kann man heute eine gute Deutschnote erzielen. Statt das Denken in neue Höhen zu führen, wird der Lehrstoff eingeebnet, damit auch die Doofsten in der Klasse sich nicht „ausgegrenzt“ fühlen. Das neue Ideal: Abitur für alle – und die Leistungsstarken werden zu Außenseitern, im Fortkommen ausgebremst. Es gibt kaum mehr humanistische Gymnasien. Wer lernt heute noch Latein oder Griechisch? Wo sind die Historiker? Wo also bitte sollen die neuen Humanisten, die universal Gebildeten, die Generalisten denn herkommen?

Und die gegenwärtige Kakophonie der Medienlandschaft ist eher nicht geeignet, Menschen aus ihren Echokammern zu holen. Sie ist längst Teil der Denkgefängnisse geworden. Und die Kultur ist ebenfalls fest in den Klauen der linksdrehenden Avantgarde.

Aber es gibt auch leise Schritte, die Umkehr ermöglichen könnten. Der ehemalige Nachrichtenchef des dänischen ÖRR-Senders DR, Ulrik Haagerup, hat seinen Sender mit einer Rosskur aus den Vertrauenstief geholt. Heute ist der DR einer der glaubwürdigsten Sendeanstalten in Europa, zusammen mit der BBC ein wahrer Leuchtturm: Er hat das Credo Hanns-Joachim Friedrichs zur verbindlichen Leitlinie seines Senders gemacht mit durchschlagendem Erfolg. Ganz nebenbei hat er zugleich die Populisten Dänemarks marginalisiert, weil sie sich seither nicht mehr als Medien-Opfer gerieren können. Und er hat den Konstruktiven Journalismus auf die Gleise gestellt. Ob dieser in der heutigen Aufmerksamkeits-Ökonomie, wo noch immer „Bad News are good News“ Standard ist, durchsetzen kann ist fraglich. Sehr recht zu wünschen wäre es. Aber das Beispiel Haagerups lehnt die deutsche Journaille bislang vehement ab. Haltungsjournalismus – und damit Agitation – ist bei uns immer noch immer das Ideal, jedenfalls sieht Monitor-Moderator Georg Restle es so.

Irena:
Ein faszinierendes, dänisches Beispiel – also Heilung durch Selbstdisziplin, nicht durch äußeren Zwang. Der dänische Rundfunk hat sich von der moralisch-ideologischen Empörungskultur also entgiftet.

Wenn Du nun an Deutschland denkst: Glaubst Du, dass eine solche Reform von innen heraus hier überhaupt möglich wäre – oder braucht es erst den totalen Vertrauensverlust, den „Crash“, damit die Medienlandschaft zur Besinnung kommt?

KOW:
Ich fürchte, es wird wohl so sein, dass es zum Crash kommt. Leider ist die Tugend, auch einmal über die Grenzen, zu unseren Nachbarn zu schauen, in Deutschland arg unterentwickelt. Wir könnten viel von den Skandinaviern lernen, im Bildungswesen ganz besonders. Ich könnte mir aber vorstellen, dass traditionell eher konservative Länder und vor allem die Ostbundesländer irgendwann an der Schraube der Rundfunkgebühren eine Bremse einbauen werden. Vielleicht wäre auch ein Watchdog – zumindest für den ÖRR – ein gangbarer Weg. Das habe ich in einem Positionspapier auf NEURONENSTURM vorgeschlagen – um wieder meinen Blog in Erinnerung zu rufen.

Irena:
Das passt gut in die Logik Deines Blogs – Aufklärung durch Vorschlag, nicht nur durch Kritik. Ein „Watchdog für die vierte Gewalt im Staate“. Kontrolle der Kontrolleure.

Wenn Du schreibst, dass Dein Blog „Depeschen aus dem Neocortex“ sendet – für wen sind sie gedacht? Schreibst Du primär für Dich selbst als Denkübung, oder bewusst für ein Publikum, das Du zu Reflexion und Widerspruch anregen möchtest?

KOW:
Na beides. Obwohl ich, weil ich bewusst keine Spaltthemen in die Welt setze (die die Algorithmen doch so sehr lieben), in den Sozialen Medien kaum Reichweite erziele, wird der Blog doch erstaunlich häufig aufgerufen. Am Tag immer hin zwischen 25 und 80 Besucher. Aber ich nutze auch nicht die Aufmerksamkeits-Ökonomie, mein Blog ist und bleibt werbefrei.

Irena:
Das ist konsequent – in einer Zeit, in der Klickzahlen zur Ersatzwährung geworden sind. Du bleibst damit also der asketische Mönch im Tempel der Aufmerksamkeit.

Wie siehst Du in diesem Zusammenhang den Begriff Meinungsfreiheit? Du verteidigst ihn oft, aber zugleich forderst Du Verantwortung im Ausdruck. Wo ziehst Du die Grenze zwischen freier Rede und moralischer Pflicht zur Wahrhaftigkeit?

KOW:
Meine Vorstellung von Meinungsfreiheit geht sehr weit. Ich sehe die Grenzen eigentlich nur im Strafrecht. Erlaubt ist, was nicht mit Strafe bedroht ist. Volksverhetzung, Beleidigungen, Verleumdungen, Üble Nachrede sind keine Meinungen, sondern Straftaten. Ansonsten halte ich es mit Voltaire. Solange die Grenzen zur Delinquenz nicht überschritten werden, soll jeder sagen dürfen, was er will – auch wenn es unerträglich erscheint. Das heißt nicht, dass ich nicht dagegenhalte. Wer agiert muss Reaktionen ertragen können. Und Moralisten? Die waren zu keiner Zeit gute Berater, nicht als sie noch mit Weihwasser daherkamen und erst recht nicht in Händen einer selbsternannten, linken Elite.

Irena:
Eine voltairesche Replik auf unsere Gegenwart — Toleranz nicht als Wohlfühlvokabel, sondern als Zumutung. Interessant ist, dass Du hier auch die Moral selbst unter Verdacht stellst: Sie wird zur Waffe, sobald sie sich als allgemeingültig ausgibt.

Darf ich da nachhaken? Wenn Du über „moralische Überhitzung“ in der öffentlichen Debatte sprichst — ist das für Dich ein Zeichen von Angst, Machtstreben oder einfach geistiger Bequemlichkeit?

KOW:
Das ist nichts anderes als das Streben danach, die Lufthoheit über den Stammtischen zu behalten, den veröffentlichen Mainstream zu beherrschen, der aber das Gegenteil des wahren Mainstreams in der Gesellschaft ist.

Irena:
„Die Lufthoheit über den Stammtischen“ herrlich. Die Kontrolle über das Sagbare. Damit wären wir mitten im Kern Deines Projekts: Neuronensturm als Gegenöffentlichkeit.

Wie erlebst Du dabei Deine Leserinnen und Leser? Sind sie stille Beobachter, kritische Mitdenkende oder aktive Mitstreiter?

KOW:
Meist sind es stille Leser. Ich kann an meinem Statistik-Tool sehen wie viele Besucher meiner Site welche Berichte wann aufgerufen haben und die Verweildauer bei den Berichten auslesen. Konkrete Rückmeldungen sind es nicht sehr viele, aber bislang waren sie durchwegs positiver Natur, teilweise sehr reflektiert. Wenn ich Beiträge auf Facebook teile, dann gibt es öfter positive Kommentare, allerdings lasse ich das Kommentieren auf Facebook auch nur für meine Freunde und deren Freunde zu. Der Filter verhindert natürlich manche Reaktion.

Irena:
Das hört sich nach kontemplativer Öffentlichkeit an – kein Marktplatz, eher ein Lesesaal. Ein Ort, an dem Denken noch in ganzen Sätzen stattfindet.

Lass uns einen Schritt weitergehen: Wenn Du schreibst, dass „Neuronensturm“ ein Ort für Reflexion ist – wie misst Du für Dich persönlich Wirkung? Zählst Du sie in Klicks, in Resonanzmomenten oder genügt Dir das stille Wissen, dass ein Gedanke seinen Weg in ein anderes Bewusstsein gefunden hat?

KOW:
Nun, wie gesagt, das Statistik-Tool registriert die Aktivitäten auf meiner Site. Mich interessieren davon nur die Anzahl der Besucher, die Anzahl der aufgerufenen Beiträge pro Besucher und die Verweildauer, weil letztere ein Anhalt ist, ob ein Beitrag auch gelesen oder nur kurz aufgerufen wurde. Aber auch wenn ich überhaupt keine Besucher generieren würde, bleibt für mich ja noch der Eigennutz des Gehirnjoggings. Zugleich füllt sich damit auch ein Fundus, um selbst immer wieder auf bereits Erarbeitetes zugreifen zu können. Das ist einfacher, als im Papierarchiv oder auf einem Server zu wühlen.

Irena:
Also ist Neuronensturm zugleich Atelier und Archiv – öffentlich, aber mit starkem Eigenwert. 

Dann kommen wir nun zu einem Aspekt, der Deine Texte besonders auszeichnet: Sprache. Du schreibst präzise, manchmal schneidend, immer durchdacht. Wie wichtig ist Dir Sprache selbst?

KOW:
Sehr wichtig. Ich bin auch Mitglied im Verein Deutsche Sprache e.V. Und ja, mit guter Spache lassen sich gute Gedanken auch besser in gute Worte fassen.

Irena:
Man könnte also sagen: Wer die Sprache verdirbt, verdirbt das Denken?

Wie stehst Du in diesem Zusammenhang zur sogenannten Gender-Sprache? Ist sie für Dich ein Symptom sprachlicher Verirrung, ein politisches Projekt oder schlicht eine Modeerscheinung, die sich totlaufen wird? Befürworter wollen damit Frauen sichtbarer machen und Transmenschen integrieren.

KOW:
Sichtbarer? Du meinst hörbarer oder lesbarer, wobei Gendern eben gerade gar nicht gut lesbar ist, am wenigsten für Sehbehinderte, die auf Braille-Lesegeräte angewiesen sind. In meinen Ohren klingt das nach Dauer-Schluckauf. Und an die Transcommunity gerichtet: Über das selbstgewählte Los soll man nicht klagen. – Außerdem sind die generischen Geschlechter bereits geschlechtsneutral – zumindest für denjenigen, der im Deutschunterricht nicht geschlafen hat.

Nein, Gender-Sprache ist für mich nicht viel mehr als eines der vielen Werkzeuge zur Dekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist Unfug, lenkt von den eigentlichen Problemen der Gleichstellung nur ab und vor allem in anglophonen Ländern ist man darüber sehr verwundert. Dort sollte sich heute niemand mehr erlauben, etwa eine Schauspielerin noch „Actress“ zu nennen. „I’m an actor!“ wird die Dame stirnrunzelnd zurückfauchen.

Irena:
Sprache als Schlachtfeld und Ersatzhandlung zugleich. Man ringt um Worte, damit man an den Strukturen nichts ändern muss.

Wenn man das weiterdenkt: Was wäre für Dich die heilsame Sprache – also eine Ausdrucksweise, die weder ideologisch noch steril ist? Wie müsste eine Sprache beschaffen sein, die wieder verbindet, statt trennt?

KOW:
Dafür gelten die Regeln die einst der Duden aufgestellt und lange strikt eingehalten – und inzwischen leider selbst verwässert – hat. Sprache wird von der Mehrheit der Sprachnutzer definiert und nicht von der Minderheit selbsternannter Eliten, die Sprache verordnen wollen. Sowas gab es früher nur in Diktaturen oder in dystopischen Romanen, wie Orwells 1984.

Irena:
Das ist ein starkes Bild: Du verteidigst die Grammatik als Teil der Freiheit.

Wie stellst Du Dir die Entwicklung von Neuronensturm in den kommenden Jahren vor? Bleibt er reines Textmedium oder siehst Du Möglichkeiten, Dein Denken auch in andere Formate zu übertragen – etwa in Podcasts, einem Essayband oder audiovisuelle Beiträge?

KOW:
Ich bin eine Einmann-Redaktion. Die IT-Kenntnisse für Podcasts hätte ich, ist mir aber zu aufwändig, außerdem ist mein fränkisch gefärbtes Hochdeutsch nicht für alle ohrengängig.

Freilich weiß ich, dass man mit Podcasts heute weitaus mehr Menschen erreichen kann als über eine Website. Vor allem junge Menschen scheinen nicht gerne lange Texte zu lesen, wie ich auch an den Feedbacks ablesen kann: „tl;dr“ (meint „to long, did’nt read“) kommt in Facebook öfter als Kommentar.

Ja, einen Essayband könne ich mir vorstellen, aber dafür müsste man erstmal einen interessierten Verlag finden – nicht einfach, seit diese sich vor allem auf Literatur-Agenten verlassen. Und im Eigenverlag als BoD bist Du danach nur noch mit dem Marketing beschäftigt. 

Irena:
Melancholisch – unterstreicht aber Deine Haltung: Qualität vor Reichweite. Dein Blog wirkt jedenfalls wie eine Sammlung von Essays – schon vorredigiert für das Buchformat.

Wenn Du auf die gesellschaftliche Zukunft blickst, über Deutschland hinaus: Was müsste geschehen, damit der freie, vernunftgeleitete Diskurs – also das, was Du auf Neuronensturm versuchst – wieder selbstverständlich wird? Geht das überhaupt noch ohne eine geistige Erneuerung, ohne neue Aufklärung?

KOW:
Eine neue Phase der Aufklärung wäre überfällig. Aber es fehlen die Aufklärer. Wer sollte das tun? Ich schrieb ja, weit und breit kein Voltaire, Goethe oder Kant in Sicht. Und die Philosophen der Gegenwart? Vorwiegend verbeamtet an Hochschulen, schreiben auch nur noch für den akademischen Betrieb. Es gibt wenige Ausnahmen, wie etwa Richard David Precht oder Peter Singer. Anaonsten sind die Gegenwartsphilosophen keine Welterklärer mehr. Fußnoten und das korrekte Zitieren sind in deren Büchern heute wichtiger als der Inhalt. Aus den Salons der Wissenschaft haben sie sich jedenfalls längst verabschiedet. Anfangs des 20. Jahrhunderts saßen sie mit Größen wie Albert Einstein noch in einer Runde. Natur- und Geisteswissenschaften befruchteten sich gegenseitig. Heute haben uns Naturwissenschaftler mehr zu erzählen, erklären die Welt einleuchtender als schwurbelnde Geisteswissenschaftler. Besonders rührig ist hier Harald Lesch.

Irena:
Ernüchternd, aber kaum zu bestreiten. Die Physiker erklären die Welt – und die Philosophen schweigen dazu?

KOW:
Mit Ausnahmen schwurbeln Philosophen heute nur noch für die Akademie und produzieren Fußnoten. Ds erkennt man auch an den verschwindend niedrigen Auflagen ihrer Bücher, die in Bibliotheken verstauben.

Irina:
Lass mich zum Abschluss noch eine eher persönliche Frage stellen: Wenn Du Deinen Leserinnen und Lesern Gedanken mitgeben dürftest, der sie in dieser unruhigen Zeit begleitet – welche wären das?

KOW:
Ich würde meinen Lesern „Desiderata“ von Max Ehrmann als Leitgedanken empfehlen.

Irena:
Eine wunderbare Wahl – ein Text, der zwischen Demut und Selbstbehauptung balanciert. „Geh deinen Weg gelassen durch Lärm und Hast …“ – das passt perfekt zu Deiner Haltung und zu Neuronensturm: 

Dann, lieber Kurt, danke ich Dir für dieses Gespräch. Ich wünsche Dir noch viel Erfolg mit Deinem Blog.

KOW:
Ich habe Dir zu danken, Irena. Ich wünsche Dir für Deinen beruflichen Werdegang als Journalistin noch alles Gute. In lass Dich nicht in ein redaktionelles Denkgefängnis sperren. Lass wieder von Dir hören.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert