Was ist Anstand?

Über die Kunst des Gehaltenseins
Lesedauer ca. 6 Minuten

Autor: Kurt O. Wörl 

Anstand – ein Wort, das klingt, als stamme es aus einer vergangenen Welt. Man verbindet es mit Tischsitten, mit Haltung, mit einer Zeit, in der Benehmen noch als Tugend galt. Doch hinter diesem scheinbar harmlosen Begriff verbirgt sich auch ein Stück Zivilisationsgeschichte: die Kunst, sich selbst zu zügeln, bevor andere es tun müssen. Wie viel davon ist uns geblieben – und was davon war je echt?

Prolog – Wie alles begann

Ein Ritter des Mittelalters galt als tapferer Kämpfer und furchtloser Beschützer. Doch ebenso wurde von ihm erwartet, dass er bei Tisch zu wissen wusste, was sich gehört. Die Anstandsfibeln jener Zeit wussten Erstaunliches zu berichten: Der wohlerzogene Ritter spuckt nicht auf den Tisch, er spuckt auch nicht über den Tisch, sondern – unter den Tisch.

So stand es zu lesen in jenen frühen Regelwerken der Zivilisation, die Norbert Elias in seinem grundlegenden Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ beschrieben hat. Uns Heutigen mag diese Regel grotesk erscheinen. Doch sie erinnert daran, dass das, was uns heute selbstverständlich dünkt, einst mühselig erlernt werden musste.

Erst im nachantiken Europa begann man, sich mit dem Thema des Anstands überhaupt ernsthaft zu befassen. Anstand bedeutete, die eigenen Affekte zu zügeln, das Unmittelbare in eine Form zu bringen, das Instinktive zu sublimieren. Die Menschen begannen, die rohe Spontaneität zu bändigen, um zu einer verfeinerten Lebensweise zu finden. Der Prozess der Zivilisation nahm seinen Lauf – und mit ihm entstand jene Kultur der Zurückhaltung, die wir heute mit dem Wort „Anstand“ verbinden.

Fremde Maßstäbe

Ein Schuldirektor in den Vereinigten Staaten hatte einst eine Schülerin des Diebstahls verdächtigt. Überzeugt von ihrer Schuld, verhängte er eine Strafe. Später stellte sich heraus: Das Mädchen war unschuldig. Verwundert suchte der Lehrer nach einer Erklärung. Er hatte ihr Verhalten doch als Beweis ihrer Schuld gedeutet – sie habe ihm nicht offen ins Gesicht blicken können.

Man klärte ihn auf: Die Schülerin war puerto-ricanischer Herkunft. In ihrer Kultur gilt es als unziemlich, einem Erwachsenen, insbesondere einer Respektsperson, direkt in die Augen zu sehen. Was der Lehrer als Schuldbewusstsein missverstanden hatte, war in Wahrheit ein Akt der Höflichkeit.

So zeigt sich: Was wir für selbstverständlich halten, ist es nur in unserem eigenen Horizont. Das Selbstverständliche, wie ein Philosoph einmal bemerkte, ist selten verständlich. Anstand ist das, was in uns wirkt, ohne dass wir darüber nachdenken. Doch tritt er in Kontakt mit einer anderen Kultur, entstehen leicht Missverständnisse. Jeder glaubt, sich korrekt zu verhalten – und beide irren, weil sie von unterschiedlichen Normen ausgehen.

Sandalen am Bahnsteig

Als die erste Eisenbahn Japans feierlich in Betrieb genommen wurde, stiegen die Ehrengäste – in ihrer Höflichkeit unübertrefflich – die Waggons nicht ohne Zeremoniell. Da die Waggons an kleine Häuser erinnerten, zogen sie, wie es gute Sitte war, am Eingang ihre Sandalen aus. Als der Zug sich in Bewegung setzte, blieb auf dem Bahnsteig eine ordentliche Reihe von Sandalen zurück.

Ein kleines Schauspiel der Macht der Gewohnheit. Es zeigt, wie tief kulturelle Muster in uns verankert sind. Wann aber wird solches Verhalten, einst sinnvoll, zum bloßen Ritual ohne Bedeutung? Wann verwandelt sich eine Anstandsregel in ein Museumsstück der Etikette? Und wann macht uns das Festhalten am Überlebten gar lächerlich?

Zwischen Loslassen und Bewahren

Auch wir tragen Relikte alter Gepflogenheiten mit uns – in unseren Institutionen, in unseren Ritualen, ja in unseren Gewohnheiten des Umgangs. Manche sind nur noch Ballast, andere dagegen Teil einer wertvollen Überlieferung. Der schwierige Teil ist, sie zu unterscheiden. Wer sie achtlos preisgibt, riskiert, das Fundament zu verlieren, auf dem die Gemeinschaft ruht. So gilt es zu prüfen: Was ist totes Erbe und was lebendige Tradition?

Der Fürst von Salina in Lampedusas „Der Leopard“ bringt diese Spannung auf den Punkt: „Es muss sich alles ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist.“ Wandel ist nicht das Gegenteil von Bewahren – er ist die Bedingung seiner Möglichkeit.

Zählebigkeit des Überkommenen

Anstandsregeln besitzen eine erstaunliche Lebensdauer. Wolfram Siebeck erzählte einst vom Fischbesteck: Früher reagierten Messerlegierungen mit Speisen wie Fisch und verfärbten sich unappetitlich. Um die Fischbestecke nicht zu verwechseln, wurden sie etwas anders geformt. Heute ist das Metall längst verändert, doch die Fischbestecke werden weiterhin zum Fischgericht aufgedeckt – als Relikt einer Notwendigkeit, die es nicht mehr gibt.

Ähnliche Phänomene sind uralt. In der Bronzezeit befestigte man Schwertklingen mit Nieten. Später wurden die Nieten überflüssig, blieben aber als ornamentaler Zierrat erhalten – ein typologisches Rudiment, wie Archäologen sagen. Offenbar empfanden die Menschen das Alte als schön, weil es schon da war. Franz Josef Strauß hätte es die „normative Kraft des Faktischen“ genannt.

So überleben Formen ihren Sinn. Ein Oberkellner, der Wein mit der rechten Hand einschenkt und die linke hinter dem Rücken hält, folgt einer alten Geste der Vertrauensbekundung: Er zeigt, dass er nichts im Schilde führt. Heute weiß das kaum jemand mehr. Die Geste bleibt – das Wissen um ihren Ursprung ist verloren.

Die innere Haltung

Im späten 18. Jahrhundert erhielt der Begriff des Anstands eine neue Prägung. Mit Adolph Freiherr von Knigge verband sich sein Name fortan mit guten Manieren – zu Unrecht, wie ein Blick in sein Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“ zeigt. Knigge ging es nicht um die Fächerhaltung beim Hofball, sondern um die Kunst des menschlichen Zusammenlebens.

Er forderte Rücksicht, Takt und Selbstbeherrschung, nicht um Konventionspflichten zu erfüllen, sondern aus moralischer Einsicht. Der Umgang mit anderen, so Knigge, sei Spiegel des Umgangs mit sich selbst. Wer den Mitmenschen mit Würde begegne, adle damit auch die eigene Menschlichkeit.

Damit verschob sich der Schwerpunkt: Anstand war nun nicht mehr bloß eine äußere Form, sondern eine innere Haltung. Er wurde zur praktischen Ethik der Aufklärung – zur Kunst, Freiheit mit Rücksicht zu verbinden.

Knigge hat das, was Elias später als „Selbstzwang“ beschrieb, bereits als Tugend erkannt: die freiwillige Selbstdisziplin, die aus Vernunft und Empathie erwächst. So wurde der Anstand endgültig zu einer Sittlichkeit des Respekts – nicht des Standes, sondern der Person.

Was ist Anstand?

Die Frage, was Anstand eigentlich bedeutet, führt in ein Dickicht von Definitionen. Viele sind zu allgemein, um etwas zu erklären, andere zu eng, um mehr als eine bestimmte Gesellschaftsschicht zu beschreiben.

Das Schweizer Lexikon DHS definiert: „Anstand meint das von einer Gesellschaft mehr oder weniger ausdrücklich verlangte äußere Verhalten sich selbst und anderen gegenüber. Nichtbeachtung kann Missbilligung, Spott und andere soziale Sanktionen nach sich ziehen.“

Man erkennt: Anstand ist ein soziales Regulativ. Je homogener eine Gesellschaft, desto klarer ihr Konsens. Wo verschiedene Kulturen, Altersgruppen und Milieus aufeinandertreffen, schwindet die Einigkeit.

Vom Anstehen und Warten

Das Wort selbst weist den Weg. In „Anstand“ steckt das „Anstehen“. Wer ansteht – etwa in einer Schlange vor einem Schalter –, übt sich in Selbstbeherrschung. Das Gegenteil wäre das Drängen, das Sich-Vordrängen. Anstand ist also gelebte Geduld.

Auch der Jäger kennt den „Anstand“. Auf dem Hochsitz wartet er still, konzentriert, zurückgehalten. Er beobachtet, wägt, zügelt seine Leidenschaft. Im Unterschied zur Parforcejagd, die im Blutrausch endet, verlangt der Ansitz kühle Aufmerksamkeit. So gesehen ist Anstand die Fähigkeit, Leidenschaft zu zügeln, ohne sie zu verleugnen.

Anstand und Dilemmata

Als im Oktober 1977 die Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu entführt wurde, stand Bundeskanzler Helmut Schmidt vor einer Entscheidung von kaum zu überbietender Tragweite: sollte er den Forderungen der Terroristen nachgeben, um Menschenleben zu retten – und damit neue Entführungen ermutigen? Oder sollte er standhaft bleiben – und damit das Leben der Passagiere riskieren? Schmidt entschied sich für Härte. Die Befreiung gelang, doch der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, der zeitgleich entführt worden war, wurde ermordet.

Anstand zeigt sich hier in einer anderen Dimension: als moralische Haltung im Angesicht tragischer Alternativen. Auch humanitäre Hilfe kennt solche Widersprüche. Wer Brunnen in der Sahelzone gräbt, will Leben sichern, um z.B. Vieh zu halten – doch größere Herden zerstören die Weideflächen – und die Wüste rückt vor. Gute Absicht und schlechte Folge sind Zwillinge derselben Handlung.

Anstand im ethischen Sinn heißt daher: sich nicht von der eigenen Moral betäuben zu lassen, sondern das Mögliche gegen das Wünschbare abzuwägen – und die Verantwortung für beides zu tragen. Purer Moralismus ignoriert häufig die Folgen. Verantwortungsethik orientiert sich an Folgen.

Qualität als Anstand

Theodor Heuss hat einmal gesagt: „Qualität ist das Anständige – das Gehaltene, nicht das Versprochene.“ Wer Anstand besitzt, verspricht nicht leichtfertig. Er hält ein, was er zusagt. In einer Welt der schnellen Worte ist das eine Tugend von seltener Eleganz. Anstand verlangt Mäßigung und Verantwortung nicht nur im Tun, sondern auch im Reden.

Die alte Bedeutung des Anstands

Im 16. Jahrhundert trug das Wort noch eine andere, beinahe politische Bedeutung. Der „Nürnberger Anstand“ von 1532 bezeichnete den Waffenstillstand zwischen Katholiken und Protestanten. Anstand bedeutete also: innehalten, die Waffen senken, auf Gewalt verzichten.

Vielleicht sollten wir uns an diese alte Wortbedeutung erinnern. Echte Ziviliertheit beginnt dort, wo die Waffen schweigen – seien sie aus Stahl, aus Worten oder aus Überheblichkeit geschmiedet. Anstand ist dann nichts anderes als die Kunst, den anderen nicht zu demütigen, auch wenn man im Recht wäre.

Epilog – Ergo?

Anstand – das ist die Haltung des Gehaltenen, des Maßvollen, des bedachten Menschen. Er bewahrt uns vor der Raserei der Affekte und vor dem Übermut der Macht. Er ist, in seinem innersten Wesen, die Kunst des Friedens im Kleinen – und vielleicht die letzte Bedingung für den Frieden im Großen.


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