Symbolfoto von Gerd Altmann auf Pixabay
Autor: Kurt O. Wörl
Wir sind überzeugt, viel zu wissen: dass zwei mal zwei vier ist, die Erde eine Kugel und die Kaffeemaschine ausgeschaltet. Doch bei näherem Hinsehen geraten selbst die scheinbar sichersten Gewissheiten ins Wanken. Seit Sokrates und Descartes bis hin zur Künstlichen Intelligenz bleibt die Frage bestehen, ob unser Wissen mehr ist als eine Mischung aus Glauben, Vertrauen und Zufall. Dieser Essay nimmt Sie mit auf einen heiter-philosophischen Streifzug durch die Geschichte des Zweifelns – und zeigt, warum gerade im Nichtwissen ein Stück Weisheit liegt.
Prolog – Die trügerische Selbstsicherheit
Wenn man heute jemanden fragt, was er oder sie wirklich wisse, bekommt man erstaunlich sichere Antworten. „Na, dass ich gleich zur Arbeit muss.“ – „Dass morgen wieder Montag ist.“ – „Dass zwei mal zwei vier ergibt.“ Solche Aussagen klingen banal, fast kindlich, und doch verstecken sich in ihnen tiefe philosophische Abgründe. Denn so sicher, wie wir glauben, sind diese Gewissheiten nicht.
René Descartes hat schon vor bald vierhundert Jahren ironisch bemerkt, der gesunde Menschenverstand sei „die gerechtest verteilte Sache der Welt“, weil jeder davon überzeugt sei, er habe genug davon. In Wahrheit aber strotzt unser sogenanntes Wissen von Selbsttäuschungen, Routinen und übernommenen Meinungen. Wir wissen, wie man telefoniert, ja. Aber wissen wir auch, wie die Stimme auf wundersame Weise von einem Apparat in den anderen wandert? Die meisten von uns halten es eher für eine moderne Zauberei mit Antennen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie trügerisch Gewissheiten sein können: Jahrhunderte lang war das geozentrische Weltbild unantastbar. Erst als Nikolaus Kopernikus und später Galileo Galilei den Mut hatten, diese scheinbar sichere Wahrheit infrage zu stellen, kam die kopernikanische Wende. Ihr Zweifel erschütterte nicht nur ein Weltbild, sondern eröffnete einen neuen Zugang zur Wirklichkeit
Sokrates und die Ironie des Nichtwissens
Bereits im antiken Athen begann man, das Wissen zu befragen – und mit ihm gleich die Wissenden. Sokrates, der bärtige Quälgeist, stellte seinen Mitbürgern Fragen, die so harmlos begannen wie ein Smalltalk auf dem Markt, aber so endeten, dass sein Gegenüber schwitzte wie in der Sauna.
Die Pointe war stets dieselbe: Man glaubt, etwas zu wissen und merkt im Gespräch, dass man nur Phrasen wiederholt. Sokrates aber behauptete, er selbst wisse nichts. Gerade darin sah er seine Weisheit: Er wusste immerhin, dass er nichts wusste. Ironisch, fast spitzbübisch, brachte er so Priester, Feldherren und Politiker ins Wanken.
Dass ausgerechnet dieser Mann vom Orakel von Delphi zum weisesten Griechen erklärt wurde, ist eine Anekdote, die zeigt, wie nah Weisheit und Bescheidenheit beieinanderliegen. Manchmal ist das größte Wissen eben das Eingeständnis, dass wir nicht viel wissen.
Platon und die Definition des Wissens
Sein Schüler Platon versuchte, Ordnung in das sokratische Chaos zu bringen. Er suchte nach einer Definition, die tragfähig sei, die nicht bei der ersten Nachfrage zusammenbrach. Heraus kam die berühmte Formel: „Wissen ist wahre, gerechtfertigte Meinung“.
Man müsse also etwas für wahr halten, es müsse tatsächlich wahr sein, und man müsse Gründe dafür haben, dass es wahr sei. Klingt auf den ersten Blick vernünftig – ja fast unanfechtbar. Zwei Jahrtausende lang hielt sich diese Definition wacker, bis im 20. Jahrhundert ein gewisser Edmund Gettier mit einem kurzen Aufsatz das philosophische Kartenhaus erschütterte.
Gettier und das Missgeschick des Zufalls
Gettier zeigte, dass es Situationen gibt, in denen alle drei Bedingungen erfüllt sind und wir dennoch zögern, von Wissen zu sprechen. Das berühmteste Beispiel: Es ist 3 Uhr. Eine Uhr ist stehengeblieben, zufällig genau auf 3 Uhr. Wer auf sie schaut, glaubt mit guten Gründen, es sei 3 Uhr – und hat recht. Doch ist das Wissen? Wohl kaum, denn eine Minute früher oder später wäre dieser Glaube schon falsch gewesen.
Mit einem Federstrich hatte Gettier die scheinbar solide Definition ins Wanken gebracht. Plötzlich stand die Philosophie da wie ein Schüler, der stolz sein Haus aus Bauklötzen präsentiert – nur damit ein kleiner Windstoß alles umwirft.
Die Ironie der Definitionen
Die Geschichte zeigt: Wissen zu definieren ist ungefähr so, wie Pudding an die Wand zu nageln. Man hat ihn für einen Augenblick fest, doch beim nächsten Blick ist er schon verrutscht und versaut den Boden. Jede Definition zieht Beispiele nach sich, die sie unterlaufen. Und doch – genau darin liegt der Reiz: Das ständige Scheitern ist das Lebenselixier der Philosophie.
Wissen im Alltag – das trügerisch Vertraute
Der Großteil dessen, was wir im Alltag für gesichertes Wissen halten, ist in Wahrheit Routine. Wir „wissen“, dass die Herdplatte heiß ist, wenn sie glüht, wir „wissen“, dass unser Haustürschlüssel in der linken Jackentasche steckt – bis wir irgendwann ratlos vor der verschlossenen Tür stehen – ohne Schlüssel. Das alltägliche Wissen ist weniger ein Besitz, den man hat, als ein ständiges Improvisieren im Fundus der Erfahrungen.
Philosophen lieben solche banalen Beispiele, weil sie zeigen: Wissen ist nie so fest, wie wir meinen. Nehmen wir das kleine Drama der Kaffeemaschine: Wer nur kurz einkaufen geht, ist überzeugt, sie ausgeschaltet zu haben. Wer für drei Wochen in den Urlaub fährt, beginnt auf halber Strecke zum Bahnhof plötzlich zu zweifeln. Dasselbe Verhalten, dieselbe Routine – aber eine völlig andere Gewissheit.
Die Philosophin Elke Brendel hat diesen Umstand betont: Wissen ist kontextabhängig. Ob wir etwas für gewiss halten, hängt davon ab, wie viel für uns auf dem Spiel steht. Auf einem Spaziergang nehmen wir gern an, wir hätten die Kaffeemaschine ausgestellt. Bei einer Reise nach Übersee möchten wir es lieber genau wissen.
Wissen als soziales Gepäck
Noch ein weiterer Stolperstein: Das meiste von dem, was wir „wissen“, haben wir gar nicht selbst überprüft. Wir wiederholen, was andere uns sagten: dass die Erde rund ist, dass Penicillin Bakterien abtötet, dass die Relativitätstheorie korrekt sei. Wir glauben es, weil es uns plausibel erscheint, weil es im Schulbuch stand oder weil Autoritäten es versicherten.
Das ist kein Mangel an Intelligenz, sondern eine Notwendigkeit. Niemand könnte alle Behauptungen der Welt empirisch nachprüfen. Unser Wissen ist also ein Netz aus Vertrauen. Wir vertrauen Ärzten, Ingenieuren, Lehrern, Lexika. In gewissem Sinn ist Wissen eine soziale Institution – man könnte sagen: ein kollektiver Kredit, den wir einander gewähren.
Sokrates’ alte Einsicht, dass wir selbst sehr wenig aus eigener Erfahrung wissen, wirkt vor diesem Hintergrund fast entwaffnend modern. Autarkes Wissen, völlig unabhängig von anderen, ist ein Ideal, dem man kaum näherkommt als dem Horizont am Meer.
Die Medien und das gekaperte Wissen
Wenn Wissen auf Vertrauen basiert, dann kommt den Medien eine gewaltige Macht zu. Wer die Kanäle kontrolliert, kontrolliert auch, was als Wissen gilt. Schon im 20. Jahrhundert wussten geschickte Politiker: Eine Behauptung muss nicht wahr sein – es genügt, sie oft genug zu wiederholen und in die Köpfe zu tragen.
Im Zeitalter der Massenmedien und erst recht in Zeiten sozialer Netzwerke zeigt sich dies in grotesker Deutlichkeit. Fake News, Verschwörungstheorien, gezielt gestreute Falschmeldungen – all das kleidet sich im Gewand des Wissens. Wer es im Fernsehen sieht oder in der Zeitung liest, übernimmt es oft unkritisch in den eigenen Wissenshaushalt.
Das wirft eine unbequeme Frage auf: Wissen wir wirklich mehr als frühere Generationen – oder sind wir nur raffinierter darin geworden, unsere Unwissenheit mit Informationen zu tarnen?
Descartes und das rettende „Cogito“
Bereits Descartes kämpfte mit der Unsicherheit des Wissens. Alles, so meinte er, könnte Täuschung sein: unsere Sinneseindrücke, unsere Erinnerungen, sogar die einfachsten Wahrnehmungen. Doch einen Punkt konnte er nicht wegzweifeln: das Denken selbst. Wer zweifelt, denkt; wer denkt, existiert. Aus dieser simplen, fast trotzig hingeworfenen Beobachtung formte er den berühmten Satz: „Cogito ergo sum“ – Ich denke, also bin ich.
Dieses „Cogito“ wurde zum Fundament, auf das er sein ganzes Erkenntnisgebäude stellte. Doch auch dieser Anker geriet bald in die Kritik. Denn was, wenn auch das Denken selbst nur eine Simulation ist? Hilary Putnam spitzte das zu im berühmten Gedankenexperiment des „Gehirns im Tank“: Ein Gehirn schwimmt in einer Nährlösung, an einen Supercomputer angeschlossen, der ihm Sinneseindrücke vorspielt. Dieses Gehirn würde glauben, ein Mensch in einer realen Welt zu sein – und könnte sich niemals vom Gegenteil überzeugen.
Hollywood hat dieses Szenario in der „Matrix“-Trilogie aufgegriffen. Millionen von Menschen, die glauben, im Alltag zu leben, hängen in Wahrheit in Glastanks und dienen Maschinen als Energiequelle. Was bleibt da vom stolzen „Ich denke, also bin ich“? Vielleicht nur ein ernüchtertes „Ich denke, also wird mir etwas vorgegaukelt.“
Die Ironie des Zweifels
Doch gerade in dieser Unsicherheit liegt vielleicht unsere eigentliche Stärke. Denn Zweifel verhindert Stillstand. Wären wir je völlig überzeugt gewesen, alles Wichtige zu wissen, dann hätten wir noch immer geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, Krankheiten kämen von Dämonen, und Blitze seien himmlische Strafen. Der Zweifel, so quälend er sein mag, ist Motor der Wissenschaft.
Insofern könnte man sagen: Wir wissen vielleicht weniger, als wir glauben – aber wir sind besser darin geworden, an unserem Wissen zu zweifeln. Und dieser Zweifel ist es, der uns weiterbringt.
Die Wissensgesellschaft – zwischen Lexikon und Suchmaschine
So stolz wir uns auch „Wissensgesellschaft“ nennen – ganz neu ist die Idee nicht. Schon die Aufklärung träumte davon, Wissen systematisch zu sammeln, zu ordnen und für jedermann zugänglich zu machen. Denis Diderots „Enzyklopädie“ im 18. Jahrhundert war ein Manifest dieser Vision: ein gewaltiges Sammelwerk, das alles Wissen der Zeit in geordneter Form vereinen wollte.
Heute wirkt Diderots Traum fast rührend bescheiden. Ein Klick in die Suchmaschine, und man hat nicht nur das Wissen der Aufklärung, sondern Milliarden Seiten, die alles Mögliche behaupten. Wikipedia allein übersteigt längst den Umfang sämtlicher Enzyklopädien zusammen. Die Menschheit hat ihr Gedächtnis ausgelagert – und sich zugleich von ihm abhängig gemacht.
Doch dieses neue Wissen ist nicht frei von Fallstricken. Die Fülle an Informationen erzeugt nicht automatisch Sicherheit, sondern oft Verwirrung. Früher musste man sich durch Bibliotheken graben, um überhaupt eine Quelle zu finden. Heute stolpert man über ein Dutzend widersprüchlicher Antworten, noch bevor man eine Tasse Kaffee ausgetrunken hat.
Der Segen und Fluch der Digitalisierung
Mit dem Internet hat sich das Verhältnis von Wissen und Glauben verschoben. Wo früher der Mangel an Informationen das Problem war, ist es heute die Überfülle. Wer zehn verschiedene Artikel liest, erhält zehn verschiedene „Wahrheiten“. Plötzlich stehen wir wieder da wie Sokrates auf dem Athener Markt: Jeder behauptet, er wisse Bescheid – und keiner kann es wirklich beweisen.
Hinzu kommt, dass Algorithmen unser Wissen strukturieren. Die Suchmaschine zeigt nicht, was wahr ist, sondern was wahrscheinlich geklickt wird. Unser Wissen wird nicht mehr allein von Inhalten, sondern von Reichweitenlogik bestimmt. Wahrheit und Klickzahl geraten in eine seltsame Liaison – eine, die oft mehr Dissonanz erzeugt als Harmonie.
Künstliche Intelligenz – ein neues Orakel
Und dann ist da noch die Künstliche Intelligenz. Sie wirkt auf uns manchmal wie ein modernes Orakel: Wir stellen eine Frage, und sie antwortet in einem Ton, der so sicher klingt, dass man fast vergisst, dass auch „intelligente“ Maschinen halluzinieren können.
Interessanterweise ist das Misstrauen hier ganz ähnlich wie bei den alten Orakeln von Delphi. Damals befragte man Priesterinnen, die geheimnisvolle Sprüche ausspien; heute befragen wir Serverfarmen, die ihre Datenströme ausstoßen. In beiden Fällen neigen wir dazu, Antworten als Wahrheit zu nehmen, obwohl sie in Wahrheit Deutungen, Wahrscheinlichkeiten oder sogar bloße Konstruktionen sind.
Die eigentliche Kränkung liegt darin: Selbst die Entwickler komplexer KI-Systeme können oft nicht mehr genau sagen, wie die Maschine zu ihrem Ergebnis gekommen ist. Das Wissen, das sie produziert, ist uns in gewisser Weise fremd – ein Spiegel, der uns zwar etwas zeigt, aber nicht erklärt, wie er zu diesem Bild gelangt – und ob es überhaupt real ist.
Die Rückkehr des Zufalls
Hier knüpft das Gettier-Problem in moderner Form wieder an. Wenn eine KI zufällig richtig liegt, weil sie Milliarden Texte durchforstet und eine Antwort konstruiert, wissen wir dann wirklich mehr? Oder ist es nur eine digitalisierte Variante des stehengebliebenen Uhrwerks?
Die Parallele ist frappierend: Wir glauben, Wissen zu gewinnen, doch in Wahrheit ist es oft nur ein glücklicher Treffer. Und wenn wir uns auf diese Treffer verlassen, können die Konsequenzen durchaus ernst sein – in der Medizin, in der Politik, in der Wirtschaft.
Wissen und Verantwortung
An diesem Punkt wird deutlich: Wissen ist nicht nur eine Frage der Definition, sondern auch eine Frage der Verantwortung. Wer behauptet, zu wissen, der schafft Vertrauen – und Vertrauen verpflichtet. Wenn ein Arzt ein Medikament verschreibt, wenn ein Ingenieur eine Brücke plant, wenn ein Politiker eine Lage einschätzt, dann hängen Leben und Schicksale daran.
Der Zweifel, den Philosophen so mühsam kultiviert haben, ist also nicht nur intellektuelle Zierde, sondern praktischer Schutz. Er bewahrt uns vor dem gefährlichen Übermut, zu glauben mehr zu wissen, als wir tatsächlich wissen.
Wissen und Macht – eine alte Liaison
Seit jeher ist Wissen nicht nur ein Schatz, sondern auch eine Waffe. Schon im alten Ägypten wussten die Priester, wie man Sonnenfinsternisse berechnet oder wann die Nilflut kommt. Für das Volk war es ein göttliches Wunder, für die Priester ein kalkulierbares Naturereignis – und dieses exklusive Wissen sicherte ihnen Macht.
Auch die mittelalterliche Kirche wusste, wie stark Wissen bindet. Wer lesen konnte, wer Zugang zu den Schriften hatte, wer den Kalender bestimmte, besaß Deutungshoheit über das Leben der Gläubigen. Das Monopol auf Wissen ist immer auch ein Monopol auf Deutung, und Deutung steuert Handeln.
In der Moderne wiederholt sich dieses Muster: Wer Daten sammelt, wer Statistiken deutet, wer Algorithmen programmiert, sitzt am längeren Hebel. Wissen ist kein neutraler Besitz, sondern stets in Machtverhältnisse eingebettet. „Wissen ist Macht“ – der Satz von Francis Bacon ist zur Selbstverständlichkeit geworden, fast schon zu einer Binsenweisheit, und doch bleibt er aktuell.
Wissen und Illusion
Aber was, wenn ein großer Teil dessen, was wir für Wissen halten, nur eine Illusion ist? Die Philosophie der Neuzeit kennt viele skeptische Szenarien: Träume, Täuschungen, Simulationen. Doch die modernen Medienwelten setzen noch einen drauf. Wir leben nicht mehr nur in einer Welt der Dinge, sondern in einer Welt der Bilder.
Man denke an die „gefühlte Wahrheit“. Menschen wissen manchmal „aus dem Bauch heraus“, dass etwas stimmt – auch wenn alle Fakten dagegen sprechen. Statistiken zeigen, dass Fliegen im Flugzeug sicherer ist als Fahren im Auto, doch viele Menschen haben Angst vorm Fliegen, und fühlen sich im Auto geborgen. Ihr „Wissen“ ist mehr ein emotionales Muster als eine überprüfte Erkenntnis.
Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat das in der Spätmoderne zugespitzt: „Wir leben in Simulationen, in Medienrealitäten, in einem endlosen Spiel von Zeichen. Was wir für Wissen halten, ist oft nur die Oberfläche eines Bildschirms. Die Illusion ersetzt die Realität – und manchmal ist das bequem.“
Der Zweifel als Lebenskunst
Angesichts all dieser Unsicherheiten könnte man verzweifeln. Doch der Zweifel ist nicht nur lähmend, er kann auch befreien. Denn wer weiß schon, ob das, was wir für Wahrheit halten, nicht schon morgen revidiert wird? Die Medizin von gestern wird zur Kuriosität, die Physik von heute ist vielleicht der Aberglaube von morgen.
Statt das als Bedrohung zu empfinden, könnte man es auch als Einladung sehen. Wissen ist kein Besitz, den man horten kann, sondern ein Abenteuer, das man lebt. Der Zweifel ist dann kein Störfall, sondern ein Motor – ein Hinweis darauf, dass wir in Bewegung bleiben.
Der Dalai Lama schließt viele seiner Vorträge mit den Worten: „Es könnte aber alles auch ganz anders sein.“ Ein Satz, der wie eine Verneigung vor dem Zweifel klingt – und zugleich wie eine Befreiung vom Zwang, alles wissen zu müssen.
Von Fake News zur Wissenschaftsethik
In einer Welt, in der jeder eine Stimme hat und jede Stimme potentiell global gehört werden kann, ist der Zweifel wichtiger denn je. Nicht, um alles zu relativieren, sondern um uns gegen falsche Gewissheiten zu wappnen. Fake News leben davon, dass sie sich als Wissen verkleiden. Sie benutzen den Mantel der Gewissheit, ohne den Kern der Wahrheit. Am schlimmsten kommen Falschbehauptungen daher, wenn sie sich in Halbwahrheiten kleiden.
Die Wissenschaft hat hier eine besondere Rolle. Sie lebt vom Zweifel – von der Bereitschaft, Hypothesen zu überprüfen, Theorien zu revidieren, Irrtümer zuzugeben. Wissenschaftliches Wissen ist nie absolut, sondern stets vorläufig. Es ist ein Wissen im Modus des Vorbehalts – und genau das unterscheidet es von bloßer Behauptung. Vielleicht ist die konsequente Falsifizierung sogar die wichtigste Aufgabe der Wissenschaft überhaupt.
Die Herausforderung unserer Zeit liegt darin, diese Haltung zu bewahren. Denn zwischen den Sirenenrufen der einfachen Antworten und den Verlockungen der scheinbaren Gewissheiten braucht es die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten.
Die Zukunft des Wissens – Lernen im Nebel
Wer einen Blick in die Zukunft wagt, erkennt: Wissen wird uns nicht verlassen, aber es wird uns immer unübersichtlicher begegnen. In der Schule lernen Kinder nicht mehr nur Vokabeln und Formeln, sondern auch, wie man Informationen filtert, wie man Quellen prüft, wie man zwischen Behauptung und Beweis unterscheidet. Medienkompetenz ist die Grammatik der neuen Wissenswelt.
Gleichzeitig werden Maschinen immer stärker zu unseren Wissenspartnern. Künstliche Intelligenz beantwortet Fragen in Sekunden, entwirft Texte, komponiert Musik, erstellt Diagnosen. Doch gerade diese Geschwindigkeit zwingt uns zur Entschleunigung. Wir müssen lernen, zu prüfen, zu zweifeln, uns nicht vom Anschein der Gewissheit blenden zu lassen.
In diesem Sinne ist Wissen kein Schatz, den man einfach ausgräbt, sondern ein Prozess, ein Tanz zwischen Vertrauen und Skepsis. Vielleicht könnte man sagen: Wissen ist ein Gespräch – mit anderen, mit der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft.
Heiterkeit im Angesicht der Ungewissheit
Man könnte nun traurig den Kopf hängen lassen und seufzen: „Wir wissen also nichts Sicheres.“ Aber das wäre zu kurz gegriffen. Denn gerade die Leichtigkeit, mit der wir unsere Unsicherheit anerkennen, ist eine Form von Weisheit.
Der Mensch ist nicht das Wesen, das alles weiß, sondern das Wesen, das über sein Nichtwissen lachen kann. Wer darüber lacht, dass er die Kaffeemaschine zum dritten Mal kontrolliert, zeigt bereits eine Art philosophischer Größe. Und wer sich nicht zu schade ist, den eigenen Irrtum einzugestehen, der weiß mehr als jene, die sich trotzig an falsche Gewissheiten klammern.
Demut, Vertrauen, Heiterkeit
So kehren wir am Ende zurück zu den drei Stimmen, die unser Denken bis heute begleiten:
- Sokrates, der uns mahnt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
- Descartes, der trotzig behauptet: „Ich denke, also bin ich.“
- Der Dalai Lama, der augenzwinkernd hinzufügt: „Es könnte alles auch ganz anders sein.“
Vielleicht liegt die Wahrheit nicht in einer endgültigen Definition, sondern in diesem Dreiklang: Demut vor dem Nichtwissen, Vertrauen in das Denken und die Heiterkeit, sich immer wieder überraschen zu lassen.
Epilog
Was wissen wir also wirklich? Wahrscheinlich weniger als wir hoffen, aber mehr als wir fürchten. Wir wissen, dass Wissen fragil ist, dass es sich verändern lässt, dass es von Zufällen und Kontexten abhängt. Wir wissen, dass wir ohne Vertrauen nicht auskommen – und ohne Zweifel auch nicht.
Und vielleicht ist das schon genug. Denn das größte Wissen ist nicht, alles zu wissen, sondern zu wissen, dass Wissen immer eine offene Baustelle bleibt. Oder etwas heiterer:
Wissen gleicht einem Tanzparkett: Jeder tritt darauf, manche beherrschen die Schritte, andere stolpern – doch die Musik spielt immer weiter.