Autor: Kurt O. Wörl
Was passiert, wenn sich die heterosexuelle Mehrheit nicht länger mit der Rolle der stummen Normalität zufriedengibt – sondern die Bühne betritt, sich in Szene setzt und lautstark fordert: „Auch unsere langweilige Normalität ist Identität!“? In diesem satirischen Essay wird das queere Sichtbarkeitsdogma durch die groteske Nachahmung seiner Mechanismen ad absurdum geführt. Und spätestens beim bundesweiten CIS-Aktionstag, an dem 90 % der Normalo-Bevölkerung gleichzeitig auf die Straße gehen, um ihre Heterosexualität öffentlich zu bekennen und sichtbar zu machen, bekommen die Sicherheitsbehörden ein Überlastungsproblem.
Vorgeschichte
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Pendel zurückschlägt. Jahrelang wurde Sichtbarkeit gefordert, gefeiert und gefördert – und zwar für alles, was sich jenseits der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft verorten lässt. Seither lärmen Paraden für queere Lebensformen durch die Innenstädte, funkeln Regenbogenfahnen von Rathäusern, kleben Pronomen auf Konferenzen, und die Öffentlich-Rechtlichen erklären im Kinderprogramm, dass es völlig normal ist, sich nicht ganz sicher zu sein, ob man eine Banane oder doch eher eine Mandoline ist.
Sichtbarkeit – das war das neue Subjekt. Wer gesehen wird, existiert. Und wer sichtbar anders ist, hat Bedeutung.
Doch während Dragqueens auf Rollschuhen mit Dildowimpel durch die Straßen gleiten, während gestählte Oberkörper mit „TRANS IS BEAUTIFUL“-Tattoo Talkshows dominieren und staatlich geförderte Theaterproduktionen unter dem Titel „Ich bin viele, aber mein Darm ist real“ für Vielfalt werben, stellt sich die gewaltige Mehrheit die Frage: „Darf ich eigentlich auch noch da sein?“
Was nämlich mitgeschwungen ist im orchestrierten Auftritt der Identitätspolitik, ist die subtile Botschaft: „Was du bist, reicht nicht.“ Du bist nur ein heterosexueller Mann, der sich mit seinem Penis identifiziert und keine Lust hat, öffentlich darüber zu sprechen? Dann gehörst du zur Problemgruppe. Du bist eine Frau, die Kinder will und Männer liebt, ohne sich vorher mit Judith Butler beschäftigt zu haben? Dann hast du Nachhilfe nötig.
Die sexuelle Orientierung, einst ein zutiefst privater und intimer Bereich, ist heute ein Zurschaustellungsthema geworden – allerdings nur dann, wenn sie von der Norm abweicht. Wer seine Abweichung ausstellt, ist mutig. Wer das Normale lebt, ist langweilig – und überaus verdächtig.
Warum also nicht endlich Gleichberechtigung für alle? Warum nicht auch für die große Mehrheit ein öffentliches, zeichensetzendes Auftreten?
Die Revolution beginnt im Reihenhaus
Alles begann in Berlin, der deutschen Hochburg der queeren Szene. Sie kamen in Scharen. Mit Kinderwägen, Thermoskannen, Grillzangen und einer breiten Brust voll identitätsstiftender Langeweile. Sie trugen Polohemden in gedeckten Farben, Sandalen mit Socken und auf der Stirn stand unsichtbar geschrieben: „Ich bin kein Thema, aber ich bestehe darauf, eines zu sein.“ Auf ihren Transparenten prangten Parolen wie „Wir lieben cis – und zwar exklusiv!“, „Missionarsstellung ist keine Gewaltform“, „Normal ist das neue Fetisch“ oder „Uns gibt’s auch noch – und wir poppen wie eh und je!“
So marschierten sie los: die Normativen, die sich Normale nennen. Hetero, meist monogam, steuerlich zusammenveranlagt und entschlossen, sich nicht länger in die Unsichtbarkeit drängen zu lassen. Der Slogan lautete: „Wenn schon Exhibitionismus, dann bitte für alle!“ Und also taten sie, was man heute tun muss, wenn man relevant sein will: Sie wurden sichtbar. Ob’s andere wollten oder nicht.
Was die queere Szene über Jahre mit CSD, Regenbogenfahnen und bewusstseinserweiternder Begriffsakrobatik vorgemacht hatte, wurde nun grotesk übernommen: Die Heteros entdeckten sich selbst als Randgruppe. Als Opfer. Als das Unsichtbare in einer Welt, die auf Abweichung geeicht ist. Was nicht auffällt, ist verdächtig. Wer kein Problem hat, gilt als privilegiert. Und wer einfach nur da ist, gilt als strukturell übergriffig. Doch jetzt ist Schluss mit der strukturellen Ungleichheit.
Sichtbarwerden – die erste Parade der Normalen
Die Parade der Normalen zelebriert die Schlichtheit mit aller Wucht der Verdrängung. Kinderlieder statt Techno, Picknickdecken statt Lederharnische. Auf dem Hauptwagen ein Paar beim Aufbau eines IKEA-Billy-Regals, alles Live. Kommentiert von einem Paartherapeuten mit Headset. Die neue Hetero-Flagge flattert vorneweg: in beiger Grundfarbe, mit zwei stilisierten Piktogramm-Menschen – klassisch Mann/Frau – beim synchronen Griff zur Fernbedienung. Darunter in großen Lettern: „Unsere Sexualität ist konventionell – und das ist okay!“
Die neuen Held:innen – Darf man in diesem Kontext noch gendern? – bekennen sich zum Mut, endlich auffallen zu wollen. Eine Frau mit Babytrage bekennt unter Tränen ins Mikro: „Ich liebe meinen Mann. Schon seit Jahren. Immer noch. Das muss für Queere schlimm sein, ich weiß.“ Standing Ovations.
Ein anderer ruft: „Ich war 23, als ich meiner WG sagte, dass ich auf Frauen stehe. Sie lachten. Dabei war es ernst gemeint. Nun bin ich isoliert“ Das Publikum nickt betroffen. Ein älterer Herr mit Hornbrille fügt an: „Monogamie ist kein Lifestyle. Es ist ein inneres Erleben.“
Natürlich reicht es nun nicht mehr, einfach hetero zu sein. Man muss es auch politisch denken. Und performen. In Cafés hängen jetzt Schilder: „Diese Zone ist monogam. Gespräche über Throubles, nonkonforme Polycluster und vulvazentrierte Beziehungsmodelle unerwünscht.“ Der neue Coming-out-Begriff heißt „Coming-in“ – die mutige Rückkehr zur Konventionalität. „Ich habe mich jahrelang queer gelebt“, sagt ein Mann mit traurigem Blick und Bausparvertrag, „aber irgendwann wurde mir klar: Ich bin einfach nur hetero mit zwei Meinungen.“
CIS-Aktionstag, die sicherheitspolitische Eskalation
Und dann kam der Tag, an dem das Land zusammenbrach – unter dem Gewicht seiner sichtbar werdenden Unsichtbaren. Der erste bundesweite CIS-Aktionstag. Motto: „Wir sind viele, wir sind normal und jetzt werden wir auch laut!“ Was als ironischer Befreiungsschlag begann, wurde binnen 24 Stunden zur logistischen Apokalypse. Wenn sich 90 Prozent der Bevölkerung aufmachen, ihre Cis-Identität öffentlich zu feiern, dann endet das nicht in Vielfalt – sondern in Verkehrschaos, Systemüberlastung und kollektiver Behördenpanik.
Die Polizei sprach von „der größten Demo aller Zeiten, die niemand auf dem Schirm hatte“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz meldete: „Uns fehlt das Vokabular.“ Der Bundesnachrichtendienst sendete einen internen Lagebericht mit dem Titel „Auffällige Unauffälligkeit“. Das Gemeinsame Lagezentrum von Bund und Ländern verzeichnete über 40.000 parallele Versammlungen in allen deutschen Städten, teilweise spontan, teilweise koordiniert, überall weht die neue Hetero-Flagge, auch auf den Rathäusern.
Der Berliner ÖPNV kollabierte, als 14.000 Thermoskannenträger und Kinderwagenschubser gleichzeitig in die U-Bahn stiegen. In Köln riegelten 37 Grillvereine die Innenstadt ab. In Leipzig marschierten 9000 Paare mit Kinderwägen durch den Innenstadtring – ausdrucksstark und sangen „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht.“
Ein Sprecher der Polizei Berlin sagte: „Wir wussten nicht, dass so viele Leute so unnormal normal sein können.“ Der Bahnverkehr wurde zwischenzeitlich eingestellt. Die Nina-Warn-App crashte als zu viele Ehepaare versuchten, ihre Spaziergänge als Pride-Paraden anzumelden. Und die Einsatzkräfte verloren jede Übersicht, weil niemand erkennbar queer war – aber auch niemand definitiv nicht.
Polyamore Heteros – identitätsstiftende Vielbeziehung
Doch damit nicht genug. Die Normalo-Bewegung spaltet sich auf. Polyamore Heterosexuelle fordern Anerkennung für ihre verzweifelte Vielbeziehungskompetenz. Sie lieben mehrere Menschen – aber alle im klassischen Sinne gegengeschlechtlich. Das macht sie zu Exoten unter den Exkludierten. Ihr Banner trägt die Aufschrift: „Ich liebe drei Frauen, aber keine davon ist trans. Warum reicht das nicht für einen Queerpass?“ Auf der Bühne der „Poly-Cis-Pride“ spricht ein Mann mit Trenchcoat und Flipchart: „Unsere Liebe ist auch komplex. Nur eben mit Vorher-Nachher-Planung, Google-Kalender und getrennten Schränken.“ Er fordert staatliche geförderte Sichtbarkeit und ein monatliches „Poly-Hetero-Toleranzgeld“. Ein anderer ruft: „Wir sind viele – auch innerhalb einer Person!“, was verwirrend wirkt, aber irgendwie dazugehört.
Die Rückkehr der Sündigen – Fremdgehen als Identität
In dieser neuen Opferolympiade darf natürlich eine Gruppe nicht fehlen: Die seit Jahrhunderten marginalisierten Seitenspringer, Bordellbesucher und diskret Orgien-Affinen. Was früher verschämt hinter Vorhängen geschah, fordert nun politische Rehabilitierung. „Ich habe meine Frau betrogen. Sie weiß es nicht. Und das ist mein Identitätsraum!“ ruft ein Mann mit Cowboystiefeln und goldener Kette am Hals. Die Bewegung nennt sich „Flanierende Begehrensträger e.V.“, ihr Slogan: „Fremdgehen ist auch ein Gefühl.“ In einem Nebenwagen tanzt eine Domina mit Steuer-ID, während ein Redner erklärt: „Nicht alle Helden tragen Kondome – manche auch Penisringe.“ Die Gruppe fordert Subventionen für Bordelle als „Orte der selbstbestimmten Körperwahrnehmung“ und einen Feiertag: den „Tag des bezahlten Begehrens“. Ein Sprecher sagt unter Tränen: „Ich habe mich noch nie so sehr gespürt wie beim dritten Mal mit Svetlana – auf dem Rücksitz meines Leasingfahrzeugs. Ich will das teilen dürfen.“
Auch Swinger wollen nicht länger schweigen. Ein älteres Ehepaar mit Goldkettchen und Satinkimono verteilt Infomaterial mit dem Titel „Sexuelle Fluidität bei konstantem Beziehungsstatus – ein Erfahrungsbericht aus Hamm“. Darin die Forderung: „Anerkennung ihrer Clubmitgliedschaft als religionsähnliches Bekenntnis.“
Doch innerhalb der Normativszene wächst die Skepsis zu dieser Splittergruppe, die Normativ-Monogamen sind entsetzt: „Das wirkt alles viel zu queeraffin“, murmelt eine Organisatorin hinter der Bühne. „Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, wir kopieren die LGBTQ+-Szene, am Ende werden wir mit dieser noch verwechselt. Unsere Stärke ist die Einfalt, Intimität mit Anspruch.“ Man einigt sich auf eine integrative Losung: „Vielfalt in der Norm – aber bitte mit Voranmeldung.“
Keine Demo ohne Gegendemo
Doch wo die Norm marschiert, regt sich der Widerstand – schrill, entrüstet und in der krampfhaften Hoffnung, noch irgendein Alleinstellungsmerkmal zu retten. Auf dem Berliner Oranienplatz versammeln sich ein paar Hundert Aktivisten der Gruppe „FLINTA*disrupt“, allesamt queer, laut und in Sorge um ihr Alleinstellungsmerkmal „Sichtbarkeit“. Sie tragen transparente Overalls aus Algenlatex, bemalt mit Slogans wie „Normcore ist Gewalt“ und „Monogamie macht mich marginal“. Ein mit Glitzer überschütteter Lautsprecher brüllt im Loop: „Cis ist kein Schicksal, Cis ist ein System!“
Ein Redner mit lilafarbener Glatze und empörungsgeschultem Vokabular erklärt: „Wenn 90 % der Menschen plötzlich Sichtbarkeit für sich beanspruchen, was bleibt dann für uns übrig? Wer als Normalo sichtbar sein will, ist strukturell aggressiv, unsensibel und übergriffig. Sichtbarkeit gehört den Abweichlern – das steht so im Handbuch der Dekonstruktion, Seite eins.“
Das Plenum beschließt, dem „CIS-Aktionstag“ ein klares Zeichen entgegenzusetzen: durch eine spontane Sitzblockade unter dem Motto „Für die Plicht zur Unsichtbarkeit für Normative!“ – auch wenn das paradoxerweise Instagram-Live begleitet wird. Auf den Transparenten stehen Forderungen wie „Sichtbarkeit nur mit Diversitätsnachweis“, „Heterosexualität ist keine marginale Erfahrung“ und „Normativität entwertet mein Gender-Abo!“.
Ein älterer Aktivist mit Zylinder und septischem Blick ruft wütend in die Menge: „Was kommt als Nächstes? Ein eigener Feiertag für die Ehe? Ein Fördertopf für romantische Zweierbeziehungen? Eine Talkshow über Väter, die Windeln wechseln? Wir müssen das aufhalten – mit radikalem Fühlen!“ Er sinkt nieder, nicht ohne Pathos. Der Rettungswagen wird mit Rücksicht auf sein Safe-Space-Empfinden von einer nicht-binären Fachkraft gefahren.
Ein queerfreundlicher Moderator vom Öffentlich-Rechtlichen fragt betreten in die Kamera: „Wenn alle sichtbar sind – wer bleibt dann noch besonders?“ – Die Antwort bleibt aus.
Das juristische Gliedparadox
Und während all das auf der Straße tobt, feiert im Gerichtssaal das Recht seine ganz eigene Parodie: Ein Mann, hetero, biologisch eindeutig ausgestattet, wird angeklagt. Nach dem Schwimmen sei ihm das Handtuch verrutscht. Sein Penis sei sichtbar gewesen. Für zweieinhalb Sekunden. Ein Kind habe das gesehen. Die Mutter sei empört. Die Polizei pflichtbewusst. Die Anklage lautet: Sexueller Missbrauch von Kindern und Exhibitionistische Handlung gemäß §§176 und 183 StGB. Strafbar! Nicht etwa wegen der Größe, sondern wegen des Geschlechts. Denn: Nur Männer können Täter sein.
Der gleiche Penis wäre – bei vorheriger Selbstdeklaration zur Frau – straffrei geblieben. Der sogenannte „Frauenpenis“ ist rechtlich nicht das, was er ist, auch wenn er genauso aussieht. Nicht das Glied entscheidet, sondern das Begleitnarrativ. Wer sich als Frau empfindet, zeigt nicht sein Glied – „sie“ lebt es. Sichtbar, mutig, systemrelevant. – Nicht strafbar, Frauen können den Tatbestand nicht erfüllen, juristisch besteht eine Analogieverbot.
Auf der „Hetero-Pride“ trägt daraufhin ein Demonstrant ein Schild: „Ich bin männlich. Mein Penis auch. Und das ist mein Problem.“ Neben ihm läuft eine binäre Person mit Bart und Dildo-Banderole, die ruft: „Zeigen ist Widerstand!“ – woraufhin der Mann nachdenklich fragt, ob Nicht-Zeigen nicht wieder als Tugend und Anstand zählen könnte.
Sichtbarkeit als Währung – und die totale Entblößung
Am Ende vereint die Bewegung alles, was sich jemals unter der Decke des Schweigens traf: Monogame Ehepaare mit Thermoskannen, polyamore Beziehungsjongleure mit Flipcharts, Swinger mit Mitgliedsausweis, Bordellgänger in demonstrativ gelebter Opferrolle und heterosexuelle Männer, die einfach nur in Ruhe ihren Penis behalten wollen, ohne ihn zu politisieren. Sie fordern Gleichstellung in der medialen Repräsentation, Safe Spaces in Talkshows, Fördermittel für serielle Treuekonzepte. Ein Banner weht durch die Straßen: „Unsere Glieder und Vulven sind privat. Und das ist unser ganzer Stolz.“
Auf einem der letzten Wagen singt ein Kinderchor mit ausdrucksloser Miene: „Du bist normal, du bist ok – auch wenn du niemandem davon erzählst.“ Die Älteren schunkeln. Ein paar werfen Bonbons in die Menge. Und ein Paar küsst sich – auf den Mund, ohne Kommentar, ohne Statement, einfach so. Die Kamera hält drauf. Der Reporter murmelt: „pure Provokation.“
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