Autor: Kurt O. Wörl
Klugheit ist mehr als Intelligenz: Sie ist das Maß, das zwischen Extremen vermittelt, das Unterschiede trägt und Gesellschaften widerstandsfähig macht. Intelligenz kennt die Richtung, Klugheit kennt das Maß. Doch was passiert, wenn Bildung zur Statusfrage verkommt, Eltern ihre Kinder unter Glasglocken setzen und Politik nur noch Streit vor Publikum inszeniert? Der Blick nach Skandinavien zeigt: Konsens ist möglich wenn man Demut, Pragmatismus und Humor zulässt. Essayistische Gedanken über Gefahren und ihre Meisterung, über Pendelbewegungen und die Frage, wie wir das Gleichgewicht einer modernen Gesellschaft bewahren können.
Prolog: Intelligenz hat Ideen, Klugheit hat Maß
Es gibt Zeiten, in denen Intelligenz im Überfluss vorhanden scheint: kluge Köpfe in Forschungslaboren, brillante Algorithmen, Nobelpreise en masse. Und doch spürt man, dass Klugheit knapp wird. Denn Klugheit ist nicht nur Scharfsinn, sondern Maß, nicht nur Erkennen, sondern Bewerten, nicht nur Lösung, sondern auch Gelassenheit. Sie ist das unscheinbare Talent, den Lärm zu überhören.
Hier öffnet sich der Horizont zur Frage: Was braucht eine Gesellschaft, die nicht nur mit Ideen, sondern auch mit Ausgleich bestehen will? Ist Bedrohung notwendig, um Wachsamkeit zu bewahren? Verkommt Frieden zwangsläufig zur Dekadenz? Und wie lässt sich eine Konsensgesellschaft gestalten, die weder träge noch hysterisch ist?
Die Gefahr als Lehrmeisterin
Der Mensch hatte von der Natur wenig mitbekommen: keine scharfen Krallen, keine schnellen Beine, keine Panzerhaut. Sein Überleben verdankte er nur dem Verstand und der Fähigkeit, mit anderen zu kooperieren. Gefahren waren seine härtesten Lehrer – und zugleich der Antrieb für Intelligenz.
Dieses Muster wiederholt sich in der Geschichte. Gemeinschaften, die Bedrohungen ausgesetzt waren, entwickelten hohe Anpassungsfähigkeit und Geisteskraft. Für die Juden in der Diaspora war gute Bildung kein Luxus, sondern Waffe gegen Ohnmacht. Klugheit wurde Überlebensstrategie, Intellekt zum Schutzschild.
Man könnte daraus zynisch schließen: Ohne Feinde verkümmert der Verstand. Wer nicht um sein Überleben ringt, sucht sich Ersatzprobleme. Wo keine Wölfe mehr lauern, wird um Genderstern-Endungen und Identität gekämpft, als ginge es ums Überleben – auch das eine Form der Beschäftigungstherapie. Wo die Welt bequem ist, blähen sich Nebensächlichkeiten zur Tragödie auf.
Frieden – ein gefährlicher Zustand
Nach dem Kalten Krieg verkündete man das „Ende der Geschichte“. Bedrohungen schienen verschwunden, Armeen überflüssig, Wehrhaftigkeit altmodisch. Man genoss die vermeintliche Friedensdividende – bis sich zeigte, dass Frieden ohne Vorbereitung trügerisch ist.
Das alte römische Diktum „si vis pacem, para bellum“ – „Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor“ – klingt inzwischen klüger als Sonntagsreden. Nicht, weil man sich Krieg wünscht, sondern weil Frieden nur dort Bestand hat, wo Wehrhaftigkeit und Stärke ihn auch sichern kann. Polen 1939, die Ukraine heute zeigen uns auf, was gemeint ist. Selbst die, in der Friedensbewegung schaumgeborenen Grünen, einst „Soldaten sind Mörder“ skandierend, haben inzwischen begriffen und sind heute für Waffenlieferungen in das von Putin geschundene Land. Die Geschichte ist schnell. Viel schneller als Parolen. Der Mensch kann also aus Gefahrensituationen lernen und – wie ich vermute – zuallererst lernt er aus solchen.
Eine Gesellschaft, die das vergisst, zahlt den Preis: Sicherheitsstrukturen verfallen, Wehrfähigkeit erodiert, und wenn der Ernstfall kommt, zeigt sich die Trägheit einer Generation, die nie Zumutungen kennengelernt hat.
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr
Kinder, die auf jede schlechte Note gleich für „traumatisiert“ gehalten werden, mit Eltern, die gleich mit gleich Therapie reagieren oder Lehrern mit dem Rechtsanwalt drohen, werden schwerlich jene Resilienz entwickeln, die sie zur Meisterung einer Krise brauchen. Der Begriff „Helikopter-Eltern“ sagt das Wesentliche aus: totale Rundumobservation der kleinen Prinzesschen und Prinzen – und bloß nicht ihre Gefühle verletzen. Die Steigerung: Rasenmäher-Eltern. Sie räumen ihren in Watte gepackten Kleinen alle Hindernisse aus dem Weg – selbst das kleinste Gänseblümchen, an dem man das Stolpern hätte üben können. Lernen, Erfahren, mit Niederlagen und Frustrationen klarzukommen und daran zu wachsen? Heute eher eine Seltenheit. Wie sollen die jungen Leute den Umgang damit auch lernen, wenn sie damit nie konfrontiert werden?
Hinzu kommt eine fatale Tendenz aus der Bildungspolitik: Statt Leistung einzufordern, wird das Niveau abgesenkt, um alle mitzunehmen. Das „Bremer Abitur“ ist zum Sinnbild geworden – Prüfungen werden vereinfacht, Anforderungen gesenkt, damit die Durchfallerquoten sinken und die Statistik stimmt. Das Ideal: „Abitur für alle!“
Der Versuch der Gleichmacherei erkauft sich einen Schein von Gerechtigkeit, bezahlt aber mit dem Verlust an Bildung und Leistungsfähigkeit. Wer alle auf das gleiche Niveau drücken will, verdirbt nicht nur die Besten, sondern nimmt auch den Schwächeren die Chance, durch Anstrengung wirklich zu wachsen. Bremer Abiturienten mögen sich alle „gleichgemacht“ vorkommen, aber in Bayern kann man mit einem Blatt Klopapier mehr erreichen als mit einem Abiturzeugnis aus Bremen – überspitzt, natürlich, aber im Kern leider wahr.
Bildung als vergessener Stoßdämpfer
An dieser Stelle tritt ein Verbündeter ins Spiel, den man selten mit Politik in Verbindung bringt: die Bildung. Gemeint ist nicht die enge Fachausbildung, die Spezialisten hervorbringt, sondern die breite, universelle Bildung, die Maßstäbe vermittelt und Relationen erkennen lässt. Sie wirkt wie ein Stoßdämpfer: Wer gelernt hat, die großen Linien der Geschichte zu sehen, verfällt nicht jedem Zeitgeist als Offenbarung. Wer Philosophie und Literatur kennt, weiß, dass Streit alt ist – und dass man überleben kann, ohne gleich jedes Schlagloch für den Abgrund zu halten.
Die Skandinavier haben dies tief verinnerlicht. Das Janteloven-Gesetz unterbindet Überheblichkeit, und wer sich zu wichtig nimmt, macht sich lächerlich. Dort wirkt Bildung nicht als Distinktionsmittel, sondern als gemeinsame Grundlage. Folglich können die skandinavischen Länder auch europaweit das beste und erfolgreichste Bildungssystem vorzeigen. Dort ist Bildung ein Fundament, bei uns oft nur eine politische Pflichterfüllung, die sich dann im Bulimielernen erschöpft. In Deutschland neigen wir dazu, Bildung auf Statussymbole und Titel zu reduzieren – und nehmen uns selbst viel zu ernst. – Apropos Bildung: Am Zustand der Schulen kann man am besten erkennen, wie klug Politik in einem Land gehandhabt wird.
Kein Wunder, dass Debatten hierzulande so oft zu Glaubenskriegen geraten. Eine breitere, geerdete Bildung wäre nicht nur kulturell erfrischend, sondern auch politisch klug.
Humanistische Bildung als Kompass
Klugheit braucht einen inneren Kompass. Dieser Kompass wurde über Jahrhunderte durch humanistische Bildung gestiftet. Wer die Klassiker kannte, wer Philosophie und Geschichte durchdrungen hatte, wer antike Sprachen lernte, der war in der Lage, über den Augenblick hinauszudenken.
Diese Bildung schuf Persönlichkeiten, die nicht nur in einem Fachgebiet glänzten, sondern Zusammenhänge sahen. Sie wussten, dass jedes Handeln eingebettet ist in Geschichte und Ethik, dass jedes Gesetz, jede Entscheidung Spuren in der Zukunft hinterlässt.
Darum wirkte die humanistische Schule wie eine Erziehungsanleitung zur Klugheit: Sie lehrte Maßhalten, Perspektivenwechsel, und sie impfte gegen die Versuchungen des Radikalismus.
Der Niedergang des Universalismus
Heute dominieren Spezialisten. Universitäten produzieren Arbeitsmarktexperten, aber kaum noch Universalisten. Wer alles über sein Nischengebiet weiß, aber nichts darüber, wie es sich ins Ganze fügt, ist vielleicht intelligent, aber sicher nicht klug. – Fraglich, ob die Bezeichnung „Universität“ hierzulande noch seine Berechtigung hat.
Das Resultat sind „Fachidioten“: exzellente Wissensarbeiter, die Zahlen jonglieren, Moleküle deuten, Algorithmen programmieren – aber unfähig sind, eine Krise politisch oder gesellschaftlich zu deuten und Lösungsbeiträge zu liefern.
Eine Konsensgesellschaft aber braucht die Generalisten: Menschen, die Brücken schlagen, die Spannungen aushalten, die wissen, dass das große Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Ohne sie zerfällt die Gesellschaft in Lager, die sich gegenseitig mehr blockieren als ergänzen.
Fachidioten und Radikalitätsprofis
Hier droht eine große Gefahr: Fachidioten verteidigen ihre Schollen wie Kleinstaaten, unfähig zum Perspektivwechsel. Daraus erwachsen auch immer wieder Radikalitätsprofis – Stimmen, die die eigenen Spezialinteressen zum Maß aller Dinge erklären.
So entsteht der Eindruck, die Gesellschaft taumle von einem Aufreger zum nächsten. Intelligenz gibt es reichlich – man kann Statistiken deuten, Studien zitieren, Schlagzeilen schreiben. Aber Klugheit, die das Ganze im Blick behält, wird zunehmend zur Mangelware.
Ein Land ohne kluge Universalisten gleicht einem Auto, dessen Räder zwar perfekt ausgewuchtet sind, das aber keine Stoßdämpfer besitzt: es hüpft durch die Gegend – aber nur bis zum nächsten Schlagloch – Federbruch.
Luxusprobleme und Schlaraffenland
Hinzu kommt das Wohlstandsparadox: Gesellschaften, die keine existenziellen Sorgen haben, streiten um Nebensächlichkeiten. Aus Luxusproblemen werden Prinzipienfragen, aus Symbolen Kulturkämpfe.
Man denke an die Energie, die in Debatten über Gender-Sprache, Frauenquoten oder Identität investiert wird – während grundlegende Fragen wie Verteidigung, Demografie oder Bildung und Rente oft ungelöst bleiben. Das ist kein Zeichen mangelnder Intelligenz, sondern ein massives Defizit an Klugheit.
Eine Konsensgesellschaft müsste erkennen, dass wahre Klugheit darin liegt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Oder, um es mit Montaigne zu sagen: „Man muss lernen, das Kleine klein zu lassen und das Große groß.“
Skandinavischer Pragmatismus: Die stille Klugheit
Ein Blick nach Norden zeigt, dass eine Konsensgesellschaft möglich ist. In Dänemark, Norwegen oder Schweden sind Minderheitsregierungen kein Makel, sondern gar nicht so selten. Niemand erwartet, dass eine Regierung alle Stimmen hinter sich vereint. Vielmehr gilt es als selbstverständlich, dass Gesetze im Parlament so lange gefeilt werden, bis sich – gerne auch wechselnde – Mehrheiten finden.
Das ist keine Träumerei, sondern realer Pragmatismus. Grundlage ist der soziokulturelle Kodex der Skandinavier, der Janteloven: Niemand soll sich für besser halten als die anderen oder sich gar über andere zu erheben. Ein Arzt etwa, der seinen Doktortitel auf das Praxisschild malt oder auf die Visitenkarte setzt, gilt nicht als besonders seriös, sondern als überheblich. Deshalb findet man beides in Dänemark äußerst selten. Statussymbole und Titel beeindrucken dort wenig, entscheidend ist das konkrete Handeln. – In Deutschland gelten akademische Titel leider immer noch als Reputationsverstärker. Hierzulande macht es einen Unterschied, ob sich ein Herr Müller oder ein Herr Dr. Müller um eine gute Wohnung bewirbt. Darum ergaunert sich so mancher einen solchen Titel, z.B. mittels Plagiate in akademischen Arbeiten.
Solche Haltungen prägen auch die dänische Politik. Ein Minister, der auf Kompromisse eingeht, ist nicht etwa schwach, sondern ziemlich klug. Wer blockiert, verliert Ansehen, gilt als Betonkopf. Klugheit besteht darin, Konflikte zu entschärfen, ohne sie unter den Teppich zu kehren.
Deutschland ohne Stoßdämpfer
In Deutschland hingegen herrscht die Neigung zum Überreagieren. Kaum ein Land schwankt so stark zwischen Radikalität und Saturiertheit. Vom Land der Dichter und Denker – in den Holocaust. Von der 68er-Revolte – in die Spaßgesellschaft der Yuppies und zurück zum Furor der Klimakleber, – alles vergleichbar mit einem Pendel. Ein Pendel ohne Dämpfung: mal schlägt es nach links aus, mal nach rechts – und immer zu weit.
Koalitionen, die eigentlich Kompromisse hervorbringen sollten, werden zur Bühne von Dauerstreit. Parteien „schärfen ihr Profil“, beharren auf ihren Maximalforderungen, als ginge es ums Überleben, und leben ihren Zank demonstrativ auch noch in den Medien aus. Was als demokratische Streitkultur erscheinen soll, wirkt auf Bürger nur wie ein endloser und ziemlich kindischer Familienstreit, der Vertrauen zerstört und Geduld zermürbt.
Die politische Mitte, die eigentlich Stabilität geben sollte, zerstört so ihre Glaubwürdigkeit selbst – und die politischen Ränder profitieren davon. Denn, während die Demokraten streiten, können die Extreme sich als vermeintliche „klare Alternative“ präsentieren, sich zurücklehnen und den Streithähnen und -hühnern ihren Wahlkampf überlassen – die machen das gratis.
Die Versuchung der Minderheitsregierung
Hier könnte Deutschland von Skandinavien lernen. Eine Minderheitsregierung zwingt zur Klugheit. Sie zwingt dazu, Gesetze so zu formulieren, dass sie für wechselnde Partner zustimmungsfähig sind.
Nehmen wir ein fiktives Beispiel: Union und SPD hatten seit den Neuwahlen keinen guten Start. Nehmen wir für einen Moment an, die sehr viel kleinere SPD überzieht erneut und Kanzler Friedrich Merz entlässt die SPD-Minister, wie der Ampelkanzler Olaf Scholz die FDP-Minister entließ. Was wäre dann? Die Koalition wäre zu Ende. Der Kanzler ist bereits gewählt, er kann im Amt bleiben, seine Ministerposten neu besetzen und fortan in einer Minderheitsregierung weiterregieren, und zwar auf sehr demokratische Weise mit dem Gesamtparlament. Für SPD, Grüne und Linke lohnt sich eine trotzige Blockade nicht, weil sie das Risiko birgt, dass die AfD lustvoll als Mehrheitsbeschaffer in die Bresche springt. In dieser Situation gewiss ein Schreckensszenario für SPD, Linke und Grüne, die aber überaus disziplinierend wirken und dadurch den Blick auf das Wesentliche richten könnte. Der Ruf nach Neuwahlen wäre kaum eine Alternative, weil diese zugunsten der AfD und zulasten von SPD und Grünen ausgehen könnten.
So entstünde paradoxerweise mehr Sachlichkeit: Niemand kann alles durchsetzen, jeder muss Kompromisse suchen. Politik wird evtl. unberechenbarer, aber auch ehrlicher. Es gäbe keine Koalitionsverträge von 200 Seiten, die im Alltag doch scheitern und noch seltener umgesetzt werden, sondern konkrete parlamentarische Debatten, deren Ergebnisse sichtbar werden.
Eine solche Kultur wäre für Deutschland in der Tat ein Novum – und vielleicht aber auch eine Chance, den ewigen Ausschlägen und dem Dauerzwist Klugheit entgegenzusetzen. Die Parlamentarier wären gezwungen, ihrem Auftrag gemäß für das Wohl der gesamten Bevölkerung entsprechend zu handeln.
Konsens als unsichtbarer Wert
Konsens bedeutet nicht das Ende von Streit, sondern seine Zivilisierung. Er ist die Fähigkeit, Konflikte so zu verhandeln, dass sie dem Gemeinwesen nützen und es nicht zerreißen.
Die wahre Klugheit liegt darin, nicht alles bis zum Eklat zu treiben. Ein Kompromiss ist kein halber Sieg, sondern in Demokratien der einzige Weg, das Ganze zu bewahren. Wie beim Schach: Der brillante Zug mag intelligent sein, aber klug ist der Spieler, der das ganze Brett sieht und erkennt, wann Rückzug die bessere Strategie ist.
Bildung, Gefahren und Humor – ein Dreiklang der Klugheit
Eine Konsensgesellschaft kann nur gedeihen, wenn sie drei Kräfte in Einklang bringt: breite Bildung, Erfahrungen aus Gefahren und ihre Meisterung sowie Humor. Bildung liefert den Kompass, die Auseinandersetzung mit Gefahren schärft die Sinne, Humor hält die Nerven elastisch.
Ohne breite Bildung verengt sich Intelligenz zur Fachidiotie. Ohne die Erfahrung, Gefahren zu meistern, wird Frieden zur Schläfrigkeit. Ohne Humor werden Konflikte verbissen und verlieren jede Leichtigkeit. Erst das Zusammenspiel dieser drei Elemente macht aus einer intelligenten Gesellschaft eine kluge.
Bedrohung und Frieden als Yin und Yang
Der Mensch braucht beides: die Erfahrung der Gefahr und den Schutzraum der Sicherheit. Zu viel Bedrohung führt zur Zerstörung, zu langer Frieden zur Dekadenz, wie man am Zustand der Bundeswehr unschwer erkennen kann. Klugheit bedeutet, beides auszubalancieren.
Der Frieden verlangt Stärke, um nicht erodiert zu werden; Gefahren verlangen Gelassenheit, um nicht alles in Panik zu verwandeln. Dieses Wechselspiel ist das Yin und Yang menschlichen Zusammenlebens.
Humor als weiterer Stoßdämpfer
Besonders in Zeiten der Übererregung ist Humor unverzichtbar. Er entwaffnet Extreme, erlaubt Selbstironie und entzieht Fanatismus den Boden. Eine Gesellschaft, die über sich lachen kann, ist weniger anfällig für die Versuchungen des Radikalen.
Skandinavien hat dieses Rezept unauffällig integriert: Wer sich zu wichtig nimmt, verstößt gegen den Janteloven und macht sich lächerlich. In Deutschland dagegen herrscht die Neigung, Debatten mit Schicksalsschwere zu überziehen. Ein kluger Schuss Humor könnte so manches Scharmützel entschärfen.
Ein aktuelles Beispiel: Konsens in der Praxis
Dass Konsens möglich ist, zeigt sich in der dänischen Politik: so wurde etwa jüngst eine Steuerreform verabschiedet, die weder den linken noch den rechten Flügel vollständig zufriedenstellte – aber sie wurde von einer breiten Mehrheit getragen, weil alle Seiten erkannten: Ohne Einigung droht nur Blockade.
Das ist mehr als ein technisches Detail. Es ist eine Erinnerung daran, dass Politik keine Kunst des Siegens ist, sondern des Balancierens, des Aushandelns, der Einigung. Und dass Klugheit eben nicht im Durchsetzen um jeden Preis, sondern im Verbinden liegt.
Epilog – Die Pflicht zur Klugheit
Intelligenz mag Raketen bauen, Klugheit entscheidet über ihr Ziel – das Weltall oder Städte im Nachbarland. Intelligenz mag die Gesellschaft in Bewegung setzen, Klugheit bewahrt sie vor dem Sturz.
Eine Konsensgesellschaft braucht deshalb nicht nur Ideen, sondern auch Maß. Sie braucht breite Bildung, um Horizonte zu öffnen. Sie braucht aber auch das Meistern von Gefahren, um Resilienz zu üben und Humor, um sich selbst nicht zu ernst zu nehmen.
Und sie braucht Eltern, die ihre Kinder nicht unter einer Glasglocke großziehen, sondern ihnen zutrauen, mit Niederlagen und Schwierigkeiten umzugehen. Kinder sollten keine fragilen Wesen und Mimosen werden, sondern Menschen, die mit Mut und Selbstbewusstsein auch harte Situationen meistern können. Meistens überleben die Kinder ihre Eltern. Spätestens dann müssen sie alleine laufen können, mit starken Beinen und klarem Kopf.
Wer das versteht, erkennt: Klugheit ist kein Luxus, sondern die unscheinbare, aber wichtige Tugend, die über Bestand oder Zerfall entscheidet. Intelligenz zeigt Möglichkeiten auf. Klugheit entscheidet, welche davon wir überleben. Klugheit ist das unsichtbare Gegengewicht, das verhindert, dass unser Land immer wieder, wie ein ungebremstes Pendel, von einem Extrem ins andere schlägt. Ohne sie wird jede Krise zur Zerreißprobe, jede Mode zum Glaubenskrieg. Mit ihr aber gelingt es, die Balance zu halten und den Weg auch auf rauem Terrain sicher zu gehen.