Liberalitas Bavariae – das unterschätzte Staatsprinzip

Bayerische Eigenverantwortung als Staatskunst

Bayern funktioniert. Anders. Besser. Und vor allem: eigensinniger

Autor: Kurt O. Wörl

Bayern funktioniert. Anders. Besser. Und vor allem: eigensinniger. Während Berlin noch diskutiert, hat Bayern längst abgestimmt – und trinkt schon das erste Bier auf das Ergebnis. Volksbegehren und Volksentscheide sind hier keine Ausnahme, sondern Teil des politischen Alltags. Dieser Essay ist eine Reise durch die bayerische Landesseele – und erklärt, warum der Freistaat seit Jahrzehnten stabil regiert bleibt, was ihn womöglich mit Wien verbindet, und warum er mit Berlin traditionell fremdelt. Eine politische Heimatkunde mit Alpenpanorama.

Zwischen Skepsis und Souveränität

Wenn Bayern nach Berlin schaut, tut es das allenfalls mit höflicher Skepsis – und nicht selten mit offenem Kopfschütteln. Die Beziehung zwischen Bundeshauptstadt und Freistaat ist keine Liebesgeschichte, war sie nie. Und das liegt nicht nur an der geografischen Distanz. Es ist die politische Kultur, die trennt: Hier das zentrale, plebiszitlose Regieren per Mehrheitsbeschlüssen – dort ein föderaler Eigensinn, der seine Wurzeln kennt. Während man anderswo die repräsentative Demokratie als sakrosankt behandelt, versteht Bayern sie als ein Angebot – nicht als Dogma.

Denn der bundespolitische Alltag ist oft ernüchternd: Man wählt, wartet vier Jahre, und dazwischen regiert eine Koalition – ungestört vom Wahlvolk. Kein Vetorecht, keine Korrekturmöglichkeit, keine Stimme mehr. Wahlen als kurze Durchreiche – danach herrscht wieder Funkstille. Das wird in Bayern als eine Art politisches Hausverbot ohne Widerspruchsrecht empfunden. Der Freistaat hat sich mit solchen Entmündigungen nie abgefunden – und pflegt stattdessen ein traditionelles Gegengewicht: die parlamentarische Demokratie mit Eingriffsrecht.

Früh hat Bayern plebiszitäre Elemente in seine Verfassung geschrieben. Und anders als in anderen Ländern, wo man das Volksvotum als Ausnahmezustand für aufgebrachte Massen versteht, gehören Volksentscheide hier zur politischen Hausordnung. Mit Maß, aber mit Wirkung. Der wohl bekannteste Fall: die Abschaffung des Bayerischen Senats. Ein überflüssiges Gremium wurde vom Volk einfach abgeschafft, einfach so – ganz ohne Drama. Stimmzettel statt Sitzblockade. So geht’s auch.

Diese Eingriffsmöglichkeit des Souveräns bescherte Bayern eine Jahrzehnte lange Stabilität, meist unter CSU-Alleinregierung, nun immerhin führend in einer Koalition.

Ein Oberbayer brachte es mir gegenüber einmal auf den Punkt:

„Woast, die schwoarz’n Lump’n, die kennamer – und diekenna uns. Wenn’s net spur’n oder goar geg’n uns regier’n, dann mochma a Volksbegehr’n und spätestens dann spur’ns widda. Obber denna rout’n und gräaner Lump’n konnst net trauaa, die bringa olles durcheinander, stift’n blouß Unfried’n und bringa’s Göid durch. Also wählmer wia mer imma wähl’n: unsere schwoarz’n Lump’n, weilmers ehm kenna.“

(Übersetzung für Nordlichter:„Die schwarzen Lumpen, die kennen wir – und die kennen uns. Wenn sie nicht spuren oder gar gegen uns regieren, machen wir ein Volksbegehren, und spätestens dann spuren sie wieder. Aber den roten und grünen Lumpen kannst du nicht trauen – die bringen alles durcheinander und bringen das Geld durch. Also wählen wir wie immer unsere schwarzen Lumpen – weil die die eben kennen.“)

Gemeint war die CSU, die zwar seit den 1950er Jahren regiert, aber nie unkontrolliert. Das Geheimnis der Stabilität in Bayern liegt im gegenseitigen Arrangement: Regieren darf, wer nicht überzieht. Und die Bayern wissen, dass sie nicht nur zuschauen müssen – sondern jederzeit ein Stoppzeichen geben können.

Liberalitas Bavariae – gelebter Eigenwille

Dieser souveräne Umgang mit Macht wurzelt tief. Bayern war nie ein Land der Bittsteller. Der bayerische Bauer war kein Untertan, sondern Eigentümer – einer, der Verantwortung trägt und sich nicht vorschreiben lässt, wie er zu leben hat. Während man in Preußen Untertanengehorsam und Disziplin lehrte, gilt in Bayern schon immer die berühmte „Liberalitas Bavariae“: Das klingt nach einem alten Wahlspruch, dabei ist es in Wahrheit eine Lebenshaltung. Sie meint drei Dinge: Die Freiheit Bayerns, die bayerische Freigebigkeit und freiheitliche Gesinnung. Das steht für Weltoffenheit, Toleranz und Großzügigkeit, kurz: für „Leben und leben lassen“. Oder noch kürzer: „Passt scho!“. Eine Haltung, die mehr Konflikte schneller löst als tausend Bundesgesetze. 

Unter Prinzregent Luitpold blühte dieser Geist auf: höfische Eleganz traf auf bürgerlich-bäuerliche Freiheit, Kunst auf Gelassenheit. Der Freistaat versteht sich nicht als Erziehungsberechtigter, sondern als Ermöglicher. Kein pädagogischer Vormund, sondern ein verlässlicher Hintergrundakteur. Das Credo: Man mischt sich nicht ins Leben der Menschen ein – es sei denn, es müsste unbedingt sein. Ministerpräsident Markus Söder hatte deshalb nicht ganz unrecht, als er den bayerischen, vorschriften- und verbotsverliebten Grünen einmal das „Bayern-Gen“ absprach.

Das jährliche Derblecken auf dem Nockherberg ist gelebte Volksnähe in Reinkultur: eine Fastenrede mit scharfer Zunge, ein satirisches Singspiel, bei dem Landes- und Bundespolitik öffentlich und deftig zur Ordnung gerufen wird. Was anderswo als Majestätsbeleidigung gälte, ist in Bayern ein Hochamt politischer Kultur. Wer nicht derbleckt wird, fühlt sich übergangen, scheint dem Volk nicht wichtig. Anderswo undenkbar – in Bayern ein Ritual: Nähe durch Spott.

Vom Agrarland zum Musterland

Der Erfolg gab dem Modell recht. Bayern wandelte sich vom Agrarland zum High-Tech-Staat, vom Nehmer- zum Geberland, ohne seine ländliche Prägung zu verlieren. Während Berlin Milliarden aus dem Süden kassiert und sie in Transferleistungen oder „Projekte“ versenkt, investierte Bayern die Mittel aus dem Finanzausgleich zielgerichtet in die Modernisierung – Stichwort: Laptop und Lederhose. Der Slogan war kein Gag, sondern ein Plan. Und der ging auf. Die einst empfangenen Leistungen aus dem Länderfinanzausgleich hat Bayern längst zigfach zurückgezahlt.

Um es in Zahlen zu fassen: Von 1950 bis 1987 war Bayern Empfängerland und erhielt insgesamt etwa 6,8 Milliarden DM (ca. 3,4 Mrd. EUR). Von 1950 bis 2023 zahlte Bayern hingegen rund 72 Milliarden EURO in den Finanzausgleich ein, vor allem an Berlin, wo man aber nicht in die Entwicklung des Stadtstaates investiert, sondern die Einnahmen mehr oder weniger „verfüttert“ oder in ideologiegetriebene Wohltatprojekte versenkt. Der einstige Regierende Bürgermeister der Stadt, Klaus Wowereit, dankte bei seinem Rückzug ausdrücklich den „Sponsoren aus dem Süden

Erfolg lockt auch Kostgänger an

Doch mit dem Erfolg Bayerns kam der Zuzug aus anderen Bundesländern. Preußische Prinzipien, norddeutsche Moraldidaktik und urbane Erziehungsambitionen trafen auf weiß-blaue Eigenverantwortung. Die CSU muss seither sukzessive Macht abgeben, die politische Landschaft ändert sich – und mit ihr wächst die Sorge: Wie viel Bayern bleibt im neuen Bayern?

Bundesweite Plebiszite? Bitte unbedingt!

Wer sich jahrzehntelang als funktionierendes Gegenmodell zur Bundesrepublik verstand, der will irgendwann auch mitreden. Doch auf Bundesebene bleibt der Bürger machtlos – vier Jahre lang. Kein Rückrufrecht, kein Veto, keine Mitsprache. Das nennt sich Stabilität durch Ausschluss des Volkswillens – klingt aber eher nach „Wir machen was wir wollen, bis zur nächsten Wahl: schweige Mob!“.

Gerade auf Bundesebene, wo brüchige Koalitionen regieren, könnten Volksentscheide schnell befrieden. Richtig gelesen, Volksentscheide oder gar Volksbegehren! In Bayern heißen sie nicht „Experiment“, sondern gelebte Praxis. Anderswo wird jahrelang geprüft, ob das Volk überhaupt mündig genug ist. In Bayern fragt man einfach den Bürgerwillen ab – und Punkt. Statt Talkshows und Taktikspielchen – eine klare Entscheidung. Und wenn der Souverän gesprochen hat, dann schweigen die Fraktionen besser, wenn sie Demokraten sein wollen. Zumindest für eine Weile. Das wäre echte Politik von unten – nicht nur fürs Protokoll, sondern mit Wirkung.

Doch der Bund misstraut dem Volk. Als fürchte man sich in Berlin vor dem eigenen Souverän. Diese Distanz befeuert den Wunsch in Bayern nach Eigenständigkeit. Denn wer zahlt, will mitbestimmen. Und Bayern zahlt. Allein Berlin erhielt im ersten Halbjahr 2025 über zwei Milliarden Euro aus der bayerischen Kasse. Wofür das Geld verwendet wird? In Bayern heißt es sarkastisch: „Des verfrühstück’n die Preiß’n mit Nichtsnutzen aus aller Welt.“

Vom Alpenbund träumen darf man ja

Kein Wunder, dass manche im Süden vom „Süddeutschen Bund“ träumen – Bayern, Baden-Württemberg, Hessen. Leistungsfähig, selbstbewusst. Was würde fehlen? Ein Hochseehafen fehlt vielleicht, die Donau tuts zur Not auch, die mündet im Schwarzen Meer.

Oder, vielleicht noch konsequenter: Warum nicht gleich mit Österreich fusionieren? Operette, Kaffee, Schmäh – alles da. Wien statt Berlin, Selbstironie statt Kanzleramtsprosa. Und endlich: die Maut! Vignettenpflicht auf bayerischen Autobahnen – diesmal zahlt der Preuße beim Durchfahren.

Nur ein Problem: Der Franke. Wer glaubt, Bayern sei ein homogener Maßkrug, verkennt Nürnberg, Würzburg und Bamberg. Franken denkt anders – protestantisch, bürgerlich-autonom. Nürnberg war freie Reichsstadt, Ansbach einst an Preußen verscherbelt. Die CSU tut sich schwer, dort Fuß zu fassen. Der Franke Markus Söder hat etwas entkrampft – aber auch er bleibt ein bayerischer Franke, kein fränkischer Bayer.

Ein föderaler Alpenstaat müsste Franken echte Gleichberechtigung bieten. Keinen bloßen föderalen Tapetenschwindel mit Bergkulisse, sondern Vielfalt auf Augenhöhe. Wer Franken integrieren will, muss verstehen: Der Franke will nicht mitgenommen werden – er will mitentscheiden.

Aber warum ein Österreich-Bayern-Bund sogar eine sehr überlegenswerte Alternative, auch neben der kulturellen Kompatibilität wäre, zeigen ganz nüchterne Zahlen auf:

Nach Zusammenschluss Österreich-Bayern:

Vereintes Alpenreich Ergebnis
Bevölkerung ca. 22,6 Mio. (9 Mio. Österreicher, 13,6 Mio Bayern)
Bruttoinnlandsprodukt (nominal) über 1,2 Billionen €
Ranking in der EU Platz 4 hinter Restdeutschland (ohne Bayern), Frankreich, Italien
Sitze im EU-Parlament deutlich mehr (proportional zur Bevölkerung)
Gewicht im EU-Rat deutlich höher 

Das wäre eine Win-Win-Situation für Österreich und Bayern. Hinzu käme die Softpower: die Kombination aus Stabilität (Bayern), internationaler Vernetzung (Österreich) und kultureller Identität (Alpenraum).

Juristisch wäre ein solcher Zusammenschluss kein Kinderspiel – aber auch kein Ding der Unmöglichkeit. Weder das Grundgesetz noch das österreichische Bundesrecht kennen ein explizites Verbot. Und über allem steht ohnehin das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Entscheidend wäre: Der Wille des Volkes – und der Mut, ihn ernst zu nehmen.

Für Deutschland und besonders für Berlin und die Norddeutschen Länder, die am bayerischen Finanzausgleichs-Tropf hängen, wäre es allerdings eine Tragödie. 

Was bleibt?

Wie gesagt, träumen darf man ja. Zurück zur Realität:

Wer Bayerns Erfolg verstehen will, muss tiefer blicken. Nicht auf Zahlen, sondern auf Haltung. Der Staat als Ermöglicher. Der Bürger als Souverän. Und das Volk als Instanz – nicht als bevormundete Zielgruppe.

Die wahre Herausforderung liegt heute nicht im Austritt, sondern in der Bewahrung und Übernahme dieses Modells auf den Bund. In einer Zeit der Bevormundung, der Sprachregelung und Umerziehung erinnert Bayern daran, dass Vertrauen nicht verordnet werden kann. Man muss es sich verdienen.

Wenn das gelingt, braucht Bayern keinen BayXIT aus dem Bund. Dann reicht es, Bayer zu bleiben. Und das – da sind sich hier viele einig – ist ohnehin das Beste, was einem in Deutschland passieren kann.

So bleibt die Liberalitas Bavariae ein stilles Staatsgeheimnis. Keine große Theorie, kein kompliziertes Gesetz. Nur ein Satz, der alles trägt: „Mach dein Ding – aber stör‘ mich nicht bei meinem.“


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