Autor: Kurt O. Wörl
Die bürgerliche Mitte stellt nach wie vor den Großteil unserer Gesellschaft – und doch ist sie aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden. Während „linke“ Kulturströmungen das Selbstverständliche dekonstruieren, schweigt die Mehrheit – aus Scham, aus Müdigkeit oder aus Angst vor sozialer Ächtung. Doch wer das Maß verliert, macht den Maßlosen Platz. Der folgende Essay beleuchtet, wie ein ideologisch überdehnter, radikaler Konstruktivismus zur Auflösung des Gemeinsamen führte, warum Rechtspopulismus nicht Ursache, sondern Folge ist – und weshalb es Zeit wird, dass die Vernünftigen wieder sprechen, bevor nur noch geschrien wird.
Die Ideologie der Auflösung
Der Niedergang bürgerlicher Selbstverständlichkeit fiel nicht vom Himmel – er war das Ergebnis eines schleichenden, aber systematischen Umbaus der kulturellen Grundlagen des Westens. Angetrieben von einer neuen, sich „intellektuell“ wähnenden Avantgarde, die aus den Seminarräumen der Sozialwissenschaften in die Redaktionen, Lehrpläne und Verwaltungsetagen sickerte, etablierte sich eine Denkweise, die sich als Aufklärung zweiter Ordnung verstand: der radikale Konstruktivismus.
Diese Denkschule behauptet, dass alles, was wir für natürlich oder gegeben halten – Geschlecht, Nation, Wahrheit, Familie, Ordnung – keine Tatsachen wären, sondern soziale Konstrukte, Narrative, Machtinstrumente. Damit ist aber nichts mehr gewiss. Es gibt keine Natur mehr, nur noch Zuschreibungen. Keine Ordnung, nur noch Unterdrückung. Keine Unterschiede, nur noch Diskurse.
Was als kritische Reflexion begann, wurde zur totalen Weltdeutung.
Wer alles für Konstruktion hält, glaubt auch,
alles konstruieren und dekonstruieren zu dürfen.
In dieser Logik wurde die bürgerliche Gesellschaft – mit ihrer Idee von Familie, Verantwortung, Leistung und Maß – nicht nur hinterfragt, sondern demontiert. Ihr Erfolg wurde ihr als strukturelle Gewalt ausgelegt, ihre Stabilität als Herrschaftssystem, ihre Normen als Ausschlussmechanismen. Die kulturelle Linke, einst angetreten zur Emanzipation der Vielen, in der das Kollektiv stets mehr zählte als das Individuum, hat sich zur Entstrukturierung aller gewachsenen Bindungen formiert. Was bleibt, ist das Ich als identitätspolitisches Projekt, befreit von Herkunft, Geschlecht und Geschichte – aber auch losgelöst von gemeinsamer Wirklichkeit. – Dass Egozentrik zum Kernanliegen linker Weltbilder werden konnte, überrascht doch sehr.
Die Familie, einst Keimzelle einer Gesellschaft, wurde zur „Keimzelle der Repression“, die Zweigeschlechtlichkeit zur Fiktion, das Leistungsprinzip zur Ungerechtigkeit, die Sprache zum Tatort. Die bürgerliche Ordnung hatte keine Feinde mehr von außen – sie wurde von innen heraus ausgehöhlt, mit dem Konstruktivismus als Rammbock gegen das Gewachsene.
Vom Zweifel zur Selbstvergottung
Was ursprünglich als Aufruf zur Erkenntniskritik gedacht war – nämlich, die eigene Wahrnehmung nicht mit der Welt zu verwechseln –, wurde in der kulturellen Anwendung zum Freibrief für Ich-Konstrukte ohne Bodenhaftung. Der Konstruktivismus, in seinen Anfängen eine Philosophie der Vorsicht, verwandelte sich auf dem Marktplatz der Meinungen in eine Selbstermächtigungsmaschine mit Anspruch auf Applaus. Was einmal mit Demut begann, endete im Pathos der persönlichen Unantastbarkeit.
Der Mensch, der erkennen wollte, dass seine Sicht der Dinge immer auch eine Verzerrung ist, wurde durch ideologische Kurzschlüsse dazu verführt zu glauben: „Meine Sicht ist die Sache selbst.“ Und wer das glaubt, duldet keinen Widerspruch – denn Widerspruch bedeutet nicht mehr Diskussion, sondern Infragestellung des Selbst.
So entstand eine neue Unverletzlichkeit des Ichs, das keine Kritik mehr als Dialog versteht, sondern als Angriff auf die Existenz.
Aus „Ich konstruiere mir ein Bild von der Welt“ wurde:
„Ich bin die Welt – und wehe, du widersprichst.“
Der radikale Konstruktivismus hätte eigentlich ein Erkenntnisangebot sein können – ein Werkzeug zur geistigen Hygiene. Doch man reichte es weiter wie einen Zimmerschlüssel zu einer selbstgebastelten Realität, in der jeder wohnen darf, aber keiner widersprechen soll. Aus Philosophie wurde pädagogische Pflichtlektüre, aus Zweifel pädagogische Maßregel, aus der Welt ein Baukasten, der jedem passt – solange man keine echten Steine verwendet.
Was einst die bescheidene Einsicht war, dass Erkenntnis immer perspektivisch bleibt, wurde zum postmodernen Größenwahn, in dem man nicht mehr fragt, was stimmt – sondern nur noch, was man fühlt. Wahrheit wurde zur Zumutung, Objektivität zum Unterdrückungsverdacht, Realität zur Diskriminierung.
Der Konstruktivismus sollte einst helfen, den Menschen an sich selbst zu relativieren – und wurde zur Steilvorlage für jene, die sich zum Maß aller Dinge erklären.
Der Rückzug der Vernünftigen
Die bürgerliche Mitte – jahrzehntelang das ruhende Zentrum westlicher Gesellschaften – trat nicht etwa ab, aber sie trat zurück. Leise, höflich, konfliktmeidend. Sie zog sich aus dem öffentlichen Raum zurück, nicht aus Mangel an Überzeugungen, sondern aus wachsender Ahnung, dass diese Überzeugungen dort nicht mehr willkommen sind. Was früher als Tugend galt – Verlässlichkeit, Maß, Verantwortung – wird zusehends als Verdachtfall verhandelt. Wer eine klassische Familie lebt, gilt als rückständig. Wer für Ordnung eintritt, wird zum potenziellen Autokraten. Wer am Biologischen festhält, gerät ins Visier des moralischen Diktats.
In dieser Atmosphäre verstummte die Mitte – aus Scham, aus Höflichkeit, aus Müdigkeit. Ihre Tugenden waren nicht mehr gefragt. Konsens ist passé, gefordert wird Bekenntnis. Der bürgerliche Mensch, der weder radikal noch revolutionär denkt, zog sich ins Private zurück. Die Gespräche finden allenfalls noch am Esstisch statt, aber nicht mehr in Talkshows. Die Realität erstarrte – öffentlich gilt sie nicht mehr als legitim.
Die Reaktion der Sprachlosen
Doch kein Schweigen währt ewig. Die unterdrückte Stimme kehrt zurück – selten als leise Vernunft, oft als lauter Protest. Was heute als rechtspopulistische Bewegung erscheint, ist nicht in erster Linie Ausdruck von Hass oder Rückwärtsgewandtheit. Es ist die aufgestaute Wut einer gesellschaftlichen Mitte, die sich zu lange schuldig fühlen musste für das, was sie ist. Eine Wut, die sich Bahn bricht, weil sie kein anderes Ventil mehr findet. Sie findet Ausdruck in rohen Tönen, in plakativen Slogans, in radikaler Vereinfachung – nicht, weil sie nichts Besseres könnte, sondern weil man ihr das differenzierte Sprechen weitgehend aberzogen hat.
Donald Trump, Viktor Orbán, Marine Le Pen, Geert Wilders – sie sind keine Vertreter bürgerlicher Ideale, sondern deren brüllende Wiedergänger. Nicht weil sie die bürgerliche Ordnung verkörpern, sondern weil sie es verstehen, deren Demütigung in Wählerstimmen zu übersetzen. Man wählt sie nicht wegen ihrer Lösungen, sondern als symbolischen Faustschlag in die Magengrube einer übergriffigen politischen Klasse, die das Selbstverständliche mit überdehntem Ich-Moralismus abgeräumt hat.
Wenn alles, was das Leben trägt – Familie, Sprache, Geschlecht, Verantwortung – zur bloßen Konstruktion erklärt wird, antwortet das Empfinden irgendwann mit Trotz.
Wenn das Selbstverständliche nicht mehr verteidigt werden darf,
wird das Unsagbare wählbar.
Die Logik des Überdrusses
Der Mensch erträgt viel, aber nicht dauerhaft die Missachtung seiner Wirklichkeit. Wer Tag für Tag hört, er sei ein Problem – weil er Vater ist, der mit Mutter und Kindern zusammenlebt, weil er Leistung erbringt, weil er am Gewohnten festhält –, zieht sich zurück. Doch wenn Rückzug nicht als Ruhe, sondern als Reaktion auf Diffamierung erfolgt, wenn Normalität zur Provokation wird, dann schlägt die Stille oft überraschend in Lärm um. Aus Anstand wird Frust, aus Frust Widerspruch, aus Widerspruch Wahlentscheidung.
Die populistische Reaktion ist nicht schön, meist ungeschliffen und oft vulgär und verantwortungslos. Aber sie ist keine Laune – sie ist eine politische Folgeerscheinung der kulturellen Verdrängung. Ihre Wählerschaft ist nicht per se radikal, sondern radikalisiert sich wegen Ausgrenzung und Abwertung. Und ihr Protest richtet sich nicht gegen die Demokratie – sondern gegen jene, die sie kulturell entkernt und entmündigt haben.
Aufstand mit Maß und Ziel
Was also tun, ohne in die Rhetorik der Populisten zu verfallen?
Zuerst: Die bürgerliche Mitte muss ihre Scham ablegen. Es ist kein Makel, für Familie, Verlässlichkeit, Sprache und Realitätssinn einzutreten. Es ist Ausdruck kultureller Reife, kein Relikt. Wer heute Kinder erzieht, Verantwortung übernimmt, leistet und sich einbringt, braucht sich nicht zu rechtfertigen – sondern darf mit geradem Rücken stehen.
Bürgerliche Normalität ist kein Privileg –
sie ist das tragende Fundament der Gesellschaft.
Zweitens braucht es eine Rückkehr der Sprache. Eine Sprache, die weder ideologisch noch apologetisch ist. Eine Sprache, die sagt, was ist – ohne Pathos, aber mit Haltung. Es ist keine Zumutung zu sagen, dass es zwei Geschlechter gibt. Es ist kein Angriff, das Eigene zu schätzen. Es ist keine Ausgrenzung, auf Bindung, Herkunft und Bildung zu bauen.
Drittens: Die bürgerliche Mitte muss dahin zurückkehren, wo Öffentlichkeit gestaltet wird – in Schulen, Medien, Parteien, Verbänden. Sie muss wieder Gesicht zeigen, Position beziehen, Streit riskieren. Nicht mit Empörung, sondern mit Überzeugung. Nicht mit Parolen, sondern mit Geduld und Rückgrat.
Der lange Marsch durch die Institutionen
kann auch zurückgegangen werden –
mit Mut, Maß und Vernunft.
Die Sprache zurückerobern
Am Ende entscheidet sich alles in der Sprache. Wer Begriffe verliert, verliert die Deutung. Wer nicht mehr sagen darf, was er sieht, wird unsichtbar gemacht. Die bürgerliche Mitte muss sich nicht empören, sie muss sich verständlich machen. Sie muss das Normale wieder sagbar machen – nicht als Trotzreaktion, sondern als Rückgewinnung einer geteilten Wirklichkeit. Toleranz heißt nicht, allem zuzustimmen – sondern Unterschiede zu ertragen, ohne sich selbst zu verleugnen.
Es braucht keine neuen Ismen, keine Gegenideologie. Es braucht eine Haltung, die das Wahre nicht fürchtet, sich des Bewährten nicht schämt und das Gemeinsame nicht aufgibt.
Der Ton der Zukunft
Es ist Zeit, dass die Anständigen sich nicht mehr ducken. Dass die Maßvollen sich nicht länger vertreiben lassen. Dass die Vernünftigen den Mut aufbringen, nicht nur recht zu haben – sondern dies auch öffentlich vertreten, um überhaupt recht behalten zu können.
Der Konstruktivismus, wie er heute ideologisch betrieben wird, hat eine Schwäche: Er entzieht sich der Realität – und wird von ihr irgendwann eingeholt. Wer behauptet, es gebe kein biologisches Geschlecht, keine objektive Wahrheit, keine Verbindlichkeit – der scheitert an der Welt, wie sie ist.
Kein Mensch kann ewig gegen die Schwerkraft seiner Existenz leben.
Hier liegt die Chance: Man muss dem ideologischen Konstruktivismus nicht mit Wut, sondern mit Wirklichkeit begegnen. Mit Fakten. Mit Sprache. Mit Humor und Spott. Mit der geduldigen Frage:
„Wie alltagstauglich kann eine Weltsicht sein, die im Hörsaal erdacht wurde?“
Es braucht keine neuen Dogmen, sondern die Rückkehr zur einfachen Zumutung der Realität. Wer den Dingen ihren Namen gibt, wer Unterschiede anerkennt, wer das Gegebene nicht verachtet, sondern gestaltet – der wirkt nicht rückständig, sondern stabilisierend. Und wer den Mut hat, das Normale zu sagen, wirkt in Zeiten der Verwirrung revolutionär.
Die bürgerliche Ordnung ist nicht gescheitert – sie wurde nur schlecht verteidigt. Jetzt ist der Moment, sie ruhig, aber klar wieder sichtbar zu machen. Nicht als Reaktion, sondern als Reparatur einer zerredeten Welt. Die Familie ist nicht erledigt. Die Wahrheit nicht abgeschafft. Die Mitte nicht machtlos.
- Es braucht keine Wut – nur Entschlossenheit.
- Keine Ideologie – nur gesunden Menschenverstand.
- Keine Angst – sondern den Willen zur leisen Rückkehr des Wirklichen.
Denn:
Wer an der Realität festhält, hat am Ende das stärkere Fundament – nicht weil er lauter ist, sondern weil der Boden unter seinen Füßen auch dann noch trägt, wenn ideologische Luftschlösser der Reihe nach kollabieren wie Seifenblasen.