Die Gesellschaft der Zerbrechlichen

Ein satirischer Streifzug durch das Biotop westlicher Befindlichkeiten

Autor: Kurt O. Wörl

Es war einmal eine Gesellschaft, in der der gesunde Menschenverstand nicht als Krankheit galt, sondern als Empfehlung. In dieser Gesellschaft galten biologische Fakten als real, Sprache als Verständigungsmittel und der öffentliche Diskurs als Ort des Meinungsstreits – also ungefähr das Gegenteil von dem, was heute als „gefährliche Mikroaggression“ gilt.

Heute leben wir nämlich in einem vom Gefühlshochadel emotional verwalteten Meinungsbiotop, in dem das höchste Gut nicht mehr Wahrheit oder Logik heißt, sondern „Ich bin verletzt!“ – Wahrheit ist heute relativ, Logik toxisch – nur die Vielfachverletzbarkeit zählt: körperlich, seelisch, symbolisch, metaphorisch, astrologisch und als Meme. Identitäten sind wichtiger als Verantwortung, und die größte Macht besitzt nicht mehr der Klügste, sondern der Zerbrechlichste.

So beginnt die neue Erzählung nicht mehr mit „Ich denke, also bin ich“, sondern mit: „Ich fühle mich als…“ – und dieser Satz ersetzt inzwischen Zeugnisse, Identitätsnachweise und sogar den HIV-Test im Dark­room. Wer ihn infrage stellt, ist nicht einfach skeptisch, sondern ein Fall für den digitalen Pranger. Zwei Geschlechter? Das war einmal – heute gelten sie als kolonialbiologische Halluzination, hervorgerufen durch weiße Laborkittel. Der Unterschied zwischen Mann und Frau? Ein imperialistisches Narrativ, das allein deshalb überlebt, weil es sich ständig in der Realität aufdrängt. Heute zählt ausschließlich das, was man sich selbst zuteilt – je nach Tagesform, Laune oder astrologischem Zyklus. Laut Bundesamt für Befindlichkeitsfragen, Abteilung Lavendelkissen, ist der Mann mit Bart eine Frau, solange er das sagt und will. Wer fragt, wie viele Frauenbärte die Evolution denn so vorgesehen hat, der bekommt sofort das Etikett „biologistischer Brandstifter“ auf die Stirn gestempelt.

Und so sehen wir heute städtische Schwimmbäder, wo Genderberater am Beckenrand sitzen und aufpassen, dass niemand mit seinem Geschlecht unabsichtlich die Neorealität beleidigt. Dort dürfen vollbärtige Damen mit Bizepsumfang wie Schwarzenegger unter Berufung auf ihr „inneres Frausein“ zur Damentoilette und -dusche schreiten – was auch sonst? Wer etwas dagegen sagt, gilt als transphobes Fossil aus der finsteren Vorwokezeit. Dass sich die biologischen Frauen dort zunehmend unwohl fühlen könnten, ist unerheblich – schließlich besitzen sie kein identitätspolitisches Alleinstellungsmerkmal und Scham ist sowieso nur ein Relikt aus bourgeoisen Zeiten. Gefühle von Menschen, die sich in ihrem biologischen Geschlecht wohlfühlen, sind langweilig, weil nicht besonders – und also bedeutungslos und egal. Gefühle zählen nur, wenn Menschen speziell, zart, schockierbar und mit Glitzerzertifikat ausgestattet sind.

Das Strafrecht versucht derweil, mit dieser gefühlten Realität Schritt zu halten – und stolpert dabei wie ein alter Herr über die eigene Dogmatik. §183 StGB stellt nämlich klar: Nur Männer können sich exhibitionistisch strafbar machen. Nur Männer. Nicht Menschen. Nicht Wesen. MÄNNER. Was bedeutet: Wenn sich ein biologischer Mann in der Damenumkleide entblößt, dabei aber flüstert: „Ich bin innerlich eine Elfe“, dann ist das keine Straftat, sondern ein kreativer Identitätsausdruck. Derselbe Penis, der gestern noch belästigend und strafbar war, wird über Nacht zu einem schützenswerten Teil weiblicher Vielfalt, vom Tatbestand nicht erfasst. Eine juristische Metamorphose, bei der selbst Kafka nach dem dritten Absatz weinend aufgegeben hätte.

Noch absurder wird es bei der Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Plötzlich entdecken selbst identitätspolitisch gereinigte Staatsapparate wieder das biologische Geschlecht – ausgerechnet dort, wo es unbequem wird. Wer wird eingezogen? Nur die, die sich ihrer Biologie entsprechend als Männer definieren? Oder auch jene, die zwar biologisch Männer sind, sich aber als Lavendelgeist mit Hang zur Friedfertigkeit verstehen? Und was ist mit biologischen Frauen, die sich als Männer fühlen – sind die dann auch wehrpflichtig und werden eingezogen? Fragen über Fragen. Und vielleicht reicht in Zukunft ein TikTok-Filter mit digitalem Brusthaar aus, um sich als Mann zu outen oder vom Wehrdienst zu befreien – je nach Algorithmuslaune.

Die Antwort könnte am Ende lauten: „Die Bundeswehr ist für alle da – außer für die, die sich durch Anwesenheit getriggert fühlen.“ Vielleicht bekommt man bald eine Trigger-Warnung vor dem Marschbefehl und ein „Safe Space“-Zelt mit Lavendelkissen und Gendercoach, falls die Uniform zu militärisch wirkt. Die Truppe wird nicht mehr nach Waffengattungen aufgestellt, sondern nach Empfindlichkeitsklassen – von „leicht berührbar“ bis „tagesformabhängig panisch“. „1. Genderfluides Verständnisbataillon – meldet Abmarschbereitschaft!“ – begleitet von emotional validierten Marschgesängen und veganer Feldverpflegung.

Auch das Bildungssystem wurde längst annektiert – nicht von China oder Russland, sondern vom emotionalen Gleichheitsimperativ. Die Inklusion, einst ein hehres Ziel zur Förderung der Schwachen, mutierte zur planmäßigen Ausbremsung der Starken. Wer zu schnell denkt, wird eingebremst – man will ja keine kognitiven Dominanzgesten provozieren. Wer zu gut ist, wird vorsorglich übersehen. Denn Leistung ist elitär und das ist schlimmer als Unfähigkeit. Streber gelten als toxisch im Klassenzimmer. Heute wird nicht mehr gefördert, sondern flächendeckend sediert. Bildung als Beruhigungsmittel – rezeptfrei, aber mit hoher Placebowirkung und mit Risiko von Nebenwirkungen wie Wissen, Meinung und Eigenständigkeit.

Ein Grundschullehrer berichtete, er dürfe einem Schüler die Aufgabe 4 × 7 nicht zu schnell erklären, weil das als „übergriffig“ gedeutet werden könnte. Empfohlen wird stattdessen „ungefähre Mengenwahrnehmung nach Gefühl“. Und die Goethe-Rezitation ist nur noch im „nonbinären Tonfall“ erlaubt – mit Pronomen-Pause und optionaler Warnung vor Gefühlsirritationen beim Lesen des „Werther“.

Währenddessen tobt draußen die Debatte um kulturelle Aneignung. Ein weißer Teenager mit Dreadlocks, der Reggaemusik hört und einen Sarong trägt, ist nicht neugierig an fremden Kulturen, sondern postkolonial. Dass er beides bei Amazon gekauft hat, spielt dabei keine Rolle – Eigentum verpflichtet – steht so auch im Grundgesetz. Die neue Regel: Du darfst andere Kulturen nur dann übernehmen, wenn du vorher mindestens 400 Jahre unterdrückt wurdest. Wer das nicht vorweisen kann, bleibt gefälligst bei Sauerkraut, Volksmusik und Fußpilz – das ist sein kulturelles Erbe, also trage er es mit Würde. Alles andere ist kultureller Raub. Ob diesen Hypersensiblen bekannt ist, welch kulturelle Bereicherung uns einst hier sesshaft gewordene Hugenotten bescherten? Ich überlege: Als Billy Mo einst in Lederhosen, mit Gamsbart am Hut den Gassenhauer „Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“ intonierte, beging er damit bereits „kulturelle Aneignung“? – Jedenfalls konnte er keine 400jährige Unterdrückungsgeschichte als Tiroler nachweisen.

Das Beste: Dieselben Aktivisten, die heute mit Schnappatmung vor fremdkulturellen Haarfrisuren stehen, buchen Ayurveda-Kuren, essen Sushi und umarmen in indischen Tuniken die „spirituelle Vielfalt“. Doppelmoral ist nicht Widerspruch – sie ist innere Vielfalt mit Heiligenschein.

Noch grotesker wird es beim gesamtgesellschaftlichen Trend: Wer sich als verletzlich deklariert, erhält Narrenfreiheit. Die Gesellschaft biegt sich, faltet sich wie der Raum um ein Schwarzes Loch, entschuldigt sich – wenn auch grundlos. Sprache, Recht, Bildung – alles wird sensitiviert. Doch: Auch Menschen ohne Sonderidentität haben Gefühle. Sie fühlen sich auch verletzt, wenn sie gezwungen werden, ideologischen Unsinn zu sprechen. Sie fühlen sich beleidigt, wenn sie als „toxisch“ gebrandmarkt werden, nur weil sie morgens nicht als Schmetterling aufwachen. Doch ihre Gefühle gelten nicht. Sie sind viel zu „gewöhnlich“, zu „normal“. Normalität gilt als verdächtig – fast schon subversiv. – Sie haben keinen Anspruch auf Rücksichtnahme, egal wie sie unter dem Irrsinn der Gegenwart leiden. – Nur wer besonders ist hat Anspruch auf die Rücksicht aller auf seine individuelle Empfindsamkeit.

Am Ende steht eine Gesellschaft aus Mimosen – und ein zunehmend zorniger Rest, der nicht mehr weiß, ob er lachen oder verzweifeln soll – und einige wählen aus Protest dann auch noch AfD, – na Bravo!

In echten Krisen – Krieg, Blackout, Katastrophe – werden dieselben Leute, die bei falschem Pronomen hysterisch kollabieren, aber unter Druck handeln müssen. Wird es dann im Schützengraben einen Rückzugsraum für emotionale Nachbearbeitung geben? Ein Feelgood-Offizier mit Aromatherapie? Oder flieht man kollektiv in den Dialogkreis? Wer jede Zumutung abschafft, schafft auch die Fähigkeit ab, sie zu ertragen und zu meistern. Eine Gesellschaft aus Warmduschern und Achtsamkeitsverwöhnten wird die erste echte Krise nicht überleben – jedenfalls nicht ohne WLAN. Am Ende setzt sich nicht mehr der Fähige durch, sondern der Fragile. Und das Schweigen der Vernünftigen ist keinesfalls als Konsens zu verstehen, es ist bloßer Selbstschutz – vor der nächsten Woge gekränkter Betroffenheit.

Doch die Realität ist geduldig. Und unbarmherzig. Sie kommt ohne Pronomen – aber mit Konsequenzen. Wer nie aushalten musste, dass die Welt nicht nach ihm fragt, sich nicht nach ihm richtet, wird auch nicht wissen, wie man in ihr überlebt, wenn sie einmal laut wird, kalt oder gar feindlich. Wer sich im Leben nie mit der Realität geprügelt hat, wird beim ersten Faustschlag feststellen, dass es keine Warnung vor Gefühlsbeeinträchtigungen im Schützengraben gibt.

Doch es wird auch wieder Zeiten geben, in denen die Realität unbarmherzig durch jede Gefühlstapete bricht. Zeiten, in denen nicht zählt, wie man sich fühlt – sondern was man kann und wie man überlebt. Und dann werden viele mit ihren emotionalen Schutzwesten im Regen stehen – triefend vor Weltschmerz und ganz ohne WLAN. Ein gegenwärtiger Blick in die Ukraine genügt. Dort kämpft niemand um Sprachbilder, sondern ums Überleben. Frauen übernehmen dort Männerrollen nicht, weil sie sich so fühlen, sondern weil schon so viele junge Männer gefallen sind. Dort zählt kein Gefühl, sondern nur Stand- und Wehrhaftigkeit und besonders viel Mut. Was man dort am wenigsten braucht? Westliche Diskursteilnehmer mit Regenbogen-Aufkleber und Nervenflattern beim falschen Artikel, die beim Genus des Wortes „Panzer“ hyperventilieren.

Und vielleicht zeigt sich bald, welche Gesellschaft überlebt: jene, die die Welt erkennt wie sie ist, in der Leistung, Verdienst und Fähigkeit – kurz die Meritokratie – sich durchsetzt oder jene mit emotional-moralischem Haltungsnoten-System, in der Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit – kurz die Victimokratie – zum Kriterium von Machtausübung wird. – Wir werden sehen. Aber ich ahne, welche Alternative in Krisenzeiten mehr Sinn ergibt – letztlich auch für die besonders Zartbesaiteten.


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