Symbolfoto KI-generiert
Autor: Kurt O. Wörl
Warum fühlen sich immer mehr Bürger von der Politik entfremdet? Dieser Beitrag analysiert die tiefgreifenden Ursachen des Vertrauensverlusts in Politik, Medien und Institutionen – und zeigt, warum Populismus nicht das Problem, sondern das Symptom ist.
Hinweis: Wegen der Komplexität und der damit verbundenen Länge des Beitrags, kann am Ende des Beitrags eine Zusammenfassung der Kernaussagen als PDF heruntergeladen werden.
Prolog:
Die gegenwärtige politische Landschaft in Deutschland ist durch ein wachsendes Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien, die Zunahme populistischer Bewegungen und eine Polarisierung entlang kultureller Bruchlinien gekennzeichnet. Diese Entwicklungen sind nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis langwieriger politischer, gesellschaftlicher und kultureller Verschiebungen. Der folgende Text will die Entwicklung analysieren, Ursachen benennen und Zusammenhänge zwischen den Veränderungen innerhalb der Parteien und dem Erstarken insbesondere der AfD sichtbar machen.
Die Grünen: Vom alternativen Sammelbecken zur moralisierenden „Elite“-Partei
Die Grünen wurden in den späten 1970er Jahren als politische Sammelbewegung gegründet, in der Umweltaktivisten, friedensbewegten Pazifisten, Alt-68er, ehemalige Kommunisten, systemkritische Intellektuelle, sogar Pädophile eine gemeinsame Plattform fanden. Sie verkörperten den Protest gegen atomare Aufrüstung, Umweltzerstörung und bürgerliche Erstarrung. Von Anfang an waren sie geprägt durch eine innere Spannung zwischen sogenannten „Fundis“ und „Realos“, zwischen revolutionärem Impuls und parlamentarischem Pragmatismus.
Über Jahrzehnte wandelte sich das Profil der Partei grundlegend. Was blieb, ist die ökologische Grundhaltung. Doch die Grünen von heute sind kaum noch mit ihren Gründungsideen identisch. Sie haben sich in eine Partei der urbanen, akademisch gebildeten Eliten transformiert. Ihr Rückhalt liegt insbesondere in Großstädten und bei bestimmten Berufsgruppen – etwa im Mediensektor, im Kulturbereich oder in Teilen des öffentlichen Dienstes.
Diese Entwicklung hat zu einer deutlichen Entfremdung gegenüber weiten Teilen der Bevölkerung geführt, insbesondere im ländlichen Raum. Während Fragen der Lebensrealität – wie Mobilität, Energiepreise, Heiztechnik oder Wohnungsknappheit – für viele Menschen von existenzieller Bedeutung sind, setzen die Grünen ihre politischen Prioritäten zunehmend in Bereichen wie Gendersprache, identitätspolitischen Diskursen oder der Dekonstruktion klassischer Rollenbilder. Vielen Bürgerinnen und Bürgern erscheint dies als politisches Projekt einer kulturellen Elite, das von oben herab moralisierend auf die Mehrheit einwirkt.
Der belehrende, anmaßend empfundene Ton, mit dem grüne Politik häufig auftritt, verstärkt diesen Eindruck. Die Partei agiert nicht selten mit dem Anspruch moralischer Überlegenheit – wer gegen bestimmte Vorhaben Bedenken äußert, gilt schnell als „rückständig“ oder gar „rechts“. Diese Haltung hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Polarisierung der politischen Landschaft. Denn sie provoziert nicht nur Ablehnung, sondern öffnet zugleich jenen Kräften den Raum, die sich bewusst als Gegenentwurf zur „moralischen Bevormundung“ inszenieren.
In gewisser Weise stehen sich AfD und Grüne heute diametral gegenüber – und wirken dabei paradoxerweise als gegenseitige Verstärker: Was der eine Pol moralisch erhebt, wird vom anderen polemisch entwertet. In dieser Konfrontation verliert die gesellschaftliche Mitte an Stimme und Einfluss.
Die SPD: Vom Anwalt der Arbeiter zur sozialpolitischen Orientierungslosigkeit
Die SPD war über weite Strecken der Nachkriegsgeschichte das politische Rückgrat der Arbeiterschaft, eng verbunden mit den Gewerkschaften und tief verwurzelt in den industriellen Zentren der Bundesrepublik. Ihr Selbstverständnis war klar: Sie verstand sich als Schutzmacht der sozial Schwachen und als Garant für Aufstieg durch Bildung und Arbeit.
Diese Rolle geriet unter Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Wanken. Mit der Agenda 2010 und den sogenannten HARTZ-Reformen vollzog die SPD einen historischen Bruch. Einerseits war die Reform ein wirtschaftspolitischer Befreiungsschlag – sie beseitigte strukturelle Arbeitslosigkeit, liberalisierte den Arbeitsmarkt und trug maßgeblich zur wirtschaftlichen Stabilität in den Folgejahren bei. Andererseits führte sie zu einer tiefen Entfremdung ihrer traditionellen Wählerschaft, denn so eine Agenda hätte diese allenfalls einem Bündnis aus CDU/CSU und FDP zugetraut, nicht einer rot-grünen Koalition.
Die Einführung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsformen stellte das Selbstbild vieler Arbeitnehmender in Frage. Der einstige Stolz auf ehrliche, bezahlte Arbeit wich zunehmend der Resignation – insbesondere, wenn die Unterschiede zu Transferleistungen gering waren. Der Bruch mit Teilen der Gewerkschaftsbewegung war die logische Folge.
Die SPD hat diesen Kurswechsel nie wirklich aufgearbeitet. Zwar bemühte man sich in der Ampelregierung, mit der Einführung des Bürgergeldes eine neue sozialpolitische Handschrift zu etablieren, doch auch dieser Schritt wurde von vielen nicht als Korrektur, sondern als weiteres Missverständnis wahrgenommen. Wenn staatliche Unterstützung kaum weniger bietet als ein Niedriglohnjob, dann ist es für viele ökonomisch rational, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten – insbesondere, wenn Betreuungsplätze in KITAs fehlen oder Schwarzarbeit zusätzliche Einnahmen ermöglicht.
Diese Entwicklung führte nicht nur zu einem neuen Misstrauen gegenüber der SPD, sondern auch zu einer gravierenden Wahrnehmungsverschiebung: Plötzlich galt nicht mehr die Sozialdemokratie als Partei der kleinen Leute – sondern ausgerechnet die AfD. Dass sie es verstand, dieses Vakuum mit einer scheinbar arbeiterfreundlichen Rhetorik zu füllen, trug maßgeblich zu ihrem Aufstieg bei.
Der politische Preis für die SPD ist hoch: Sie hat einen Großteil ihrer ehemaligen Kernklientel verloren – nicht an andere linke Parteien, sondern an politische Kräfte, die sozialer Gerechtigkeit nur rhetorisch, nicht aber konzeptionell verpflichtet sind.
Die FDP: Vom gesellschaftlichen Fortschritt zur ökonomischen Monokultur
In den 1970er Jahren war die FDP eine moderne, reformorientierte Partei, die mit den „Freiburger Thesen“ ein bemerkenswert fortschrittliches Gesellschaftsbild zeichnete. Sie war die erste Partei, die den Umweltgedanken programmatisch aufgriff – lange bevor die Grünen entstanden. Damals vereinte die FDP zwei starke Strömungen: einen bürgerrechtsliberalen Flügel, vertreten durch Persönlichkeiten wie Gerhart Baum oder Hildegard Hamm-Brücher, und einen wirtschaftsliberalen, teils nationalliberalen Flügel, der enger mit dem Mittelstand verbunden war.
Dieser Pluralismus endete spätestens mit dem Eintritt in die Kohl/Genscher-Regierung. Die sozialliberale Phase endete, viele linksliberale Mitglieder wanderten zu den Grünen ab, ebenso wie die damalige Jugendorganisation, die Jungdemokraten. Mit der Gründung der „Jungen Liberalen“ entstand eine neue Nachwuchsorganisation, die jedoch stärker auf wirtschaftlichen Individualismus, Leistungsdenken und steuerpolitische Rhetorik ausgerichtet und ziemlich angepasst war (Yuppie-Image).
Die FDP entwickelte sich seither zunehmend zu einer Partei, die vor allem ökonomische Interessen bestimmter Berufsgruppen vertritt – von Freiberuflern, Ärzten, Apothekern, Rechtsanwälten und Steuerberatern über mittelständische Unternehmer bis hin zu digitalaffinen Selbstständigen. Bürgerrechte, sozialer Ausgleich, bildungspolitische oder ökologische Initiativen traten weitgehend in den Hintergrund. Der Begriff „Neoliberalismus“ – einst im Sinne einer modernen sozialen Marktwirtschaft gemeint – erhielt in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend eine negative, neue Konnotation in sein Gegenteil.
In dieser Entwicklung verlor die FDP ihre gesellschaftliche Breite. Während sie einst in der Lage war, unterschiedliche gesellschaftliche Milieus anzusprechen, konzentriert sich ihre Politik heute auf fiskalische Zurückhaltung, Schuldenbremse und marktgetriebene Ordnungspolitik. Soziale Fragen erscheinen oft sekundär – mitunter sogar als ideologische Zumutung.
Diese thematische Verengung hat eine doppelte Folge: Zum einen gelingt es der FDP nicht mehr, in größerem Stil junge Wähler oder die klassische bürgerliche Mitte anzusprechen. Zum anderen öffnet sie mit ihrer wirtschaftsliberalen Rhetorik ein thematisches Feld, das von der AfD in Teilen rhetorisch übernommen wurde – nicht aus Überzeugung, sondern als populistische Strategie zur Vereinnahmung ökonomisch enttäuschter Wähler.
Der einstige Anspruch, Freiheit in einem umfassenden Sinne – individuell, gesellschaftlich und wirtschaftlich – zu vertreten, ist damit geschwächt. Geblieben ist eine Partei, die ihre Rolle im politischen Spektrum zwar rhetorisch behauptet, praktisch aber kaum noch Impulse außerhalb wirtschaftlicher Kernforderungen setzt.
Die CDU/CSU: Bewahrer der Mitte mit Verlust an Richtung
Die CDU und ihre bayerische Schwesterpartei CSU verstanden sich lange als politische Heimat der gesellschaftlichen Mitte: eine Synthese aus wirtschaftlicher Vernunft, christlich geprägter Sozialethik und nationaler Verantwortung. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer fanden sich in dieser Union wieder, der soziale Flügel (etwa mit Norbert Blüm) wirkte genauso prägend wie der wirtschaftsliberale oder konservative. Diese Integrationskraft war über Jahrzehnte das eigentliche Erfolgsrezept der Union.
Unter Angela Merkel verlagerte sich das Profil der Partei schrittweise. In ihrer Amtszeit dominierte ein Politikstil, der auf Kontinuität, Krisenmanagement und rhetorische Abrüstung setzte. Diese Strategie sicherte ihr hohe Popularitätswerte und ermöglichte über Jahre stabile Regierungskoalitionen – auch mit wechselnden Partnern. Die Schattenseite: Eine schleichende programmatische Entkernung.
Merkels Regierungszeit fiel in eine Phase ökonomischen Wachstums, bedingt auch durch die arbeitsmarktpolitischen Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder. Die Früchte der Agenda 2010 konnte die Union einfahren – ohne sie selbst verantwortet zu haben. Doch dieser wirtschaftliche Rückenwind verführte zur politischen Passivität. Notwendige Weichenstellungen in der Digitalisierung, der Infrastruktur, der Bundeswehr, dem Bildungssystem und der Energieversorgung wurden vernachlässigt.
Insbesondere die Flüchtlingspolitik ab 2015 markierte eine Zäsur: Die Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen und die begleitende „Refugees welcome“-Kampagne stießen auf breite Skepsis – auch innerhalb der eigenen Anhängerschaft. Merkels Satz „Wir schaffen das!“ wurde vielfach nicht als Lösungsvorschlag, sondern als Abweisung von Kritik empfunden. Der wachsende Unmut über diese Haltung führte zum Aufstieg der AfD, die sich ursprünglich aus konservativen unionsnahen Milieus speiste und bis 2015 kaum Zulauf hatte.
Hinzu kommt die zunehmende „Anpassungsbereitschaft“ der Union in Koalitionen: Ob mit FDP oder SPD, ob mit Grünen oder Liberalen – stets gab sich die CDU/CSU flexibel, pragmatisch, kompromissbereit. Dieses Verhalten sicherte zwar die Regierungsfähigkeit, ließ die Partei aber für viele als inhaltsleeres Verwaltungsinstrument erscheinen. Die Union verlor so an politischem Profil und ideologischer Orientierung.
Friedrich Merz, der sich selbst als „Antithese“ zur Merkel-Ära versteht, versucht seither, der Partei wieder ein schärferes konservatives Profil zu geben. Doch sein Kurs bleibt unklar: Einerseits gibt es Abgrenzung zur AfD, andererseits werden immer wieder Signale der Öffnung gesendet – etwa mit dem viel diskutierten Fünf-Punkte-Entschließungsantrag, der mit den Stimmen von AfD und FDP verabschiedet wurde, weil sich SPD und Grüne verweigerten.
Insgesamt steht die CDU/CSU heute vor der Herausforderung, ihr einstiges integratives Potenzial wiederzubeleben – ohne sich im Lagerkampf zwischen Rechts und Mitte zu verlieren. Ihre historische Aufgabe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung in einem breiten bürgerlichen Konsens zu verankern, bleibt aktuell – gerade angesichts der Schwäche der politischen Mitte.
Angela Merkels Kanzlerschaft – Stabilität ohne Zukunftsvision
Angela Merkel prägte die politische Landschaft Deutschlands über 16 Jahre hinweg – länger als jeder Kanzler seit Konrad Adenauer. Ihre Kanzlerschaft wird häufig als Ära der Stabilität beschrieben. Tatsächlich stand Merkel für Verlässlichkeit, nüchternes Krisenmanagement und ein hohes Maß an Pragmatismus. Doch diese Qualitäten hatten ihren Preis: eine zunehmende inhaltliche Entleerung der CDU-Programmatik und das Fehlen strategischer Weichenstellungen.
Merkel trat ihr Amt 2005 in einer Phase konjunktureller Stärke an. Die wirtschaftlichen Reformen der rot-grünen Vorgängerregierung – insbesondere die Agenda 2010 – hatten Wirkung gezeigt: sinkende Arbeitslosenzahlen, steigende Exporte und solide Staatsfinanzen. Diese Erfolge konnte Merkel für sich nutzen, ohne sie selbst verantwortet zu haben.
Ihre Regierungszeit war geprägt von einer Serie internationaler und nationaler Krisen: der globalen Finanzkrise 2008, der Eurokrise, Fukushima und dem Atomausstieg, der Flüchtlingsbewegung 2015, dem Brexit, der Corona-Pandemie. In all diesen Situationen agierte Merkel mit bemerkenswerter Ruhe, vermittelte Vertrauen und wurde – auch international – zur Symbolfigur für Stabilität und Rationalität.
Doch gerade diese Rolle als Krisenmanagerin verhinderte eine zukunftsorientierte Gestaltungspolitik. Deutschland unter Merkel war politisch auf Sichtflug eingestellt: Probleme wurden verwaltet, selten gelöst; nötige Reformen – etwa in Bildung, Digitalisierung, Infrastruktur, Verteidigung oder Verwaltung – blieben aus. So entstand eine paradoxe Lage: Einerseits ging es dem Land wirtschaftlich gut wie selten zuvor, andererseits verfielen Brücken, Schulen, Verkehrsnetze. Die Bundeswehr wurde zur chronisch unterausgestatteten Armee. Die Energiewende wurde eingeleitet, aber nicht durchdacht – der gleichzeitige Ausstieg aus Atom und Kohle erfolgte ohne gesicherte Alternativen.
Besonders sichtbar wurde diese politische Zurückhaltung in der Migrationspolitik ab 2015. Merkels Entscheidung zur Offenhaltung der Grenzen war menschlich begründet und europäisch motiviert – aber sie wurde ohne vorherige gesellschaftliche Diskussion, ohne Absprache mit den europäischen Nachbarn und ohne langfristiges Integrationskonzept getroffen. Der Satz „Wir schaffen das!“ wurde zum Mantra, ohne dass konkret erläutert wurde, wie und mit welchen Mitteln. Wer Zweifel äußerte, galt schnell als moralisch defizitär oder als Fremdenhasser.
Diese Episode markierte für viele Bürger einen Wendepunkt. Der Eindruck verfestigte sich, dass große Entscheidungen ohne demokratische Rückbindung getroffen würden – eine Wahrnehmung, die von populistischen Kräften aufgegriffen und politisch ausgeschlachtet wurde. Der Aufstieg der AfD ist ohne diese Phase kaum denkbar.
Angela Merkels Regierungsstil beruhigte – aber er überhörte auch viele Warnsignale. Ihre Stärke war das Moderieren, nicht das Führen. Die Folgen ihrer Politik – etwa die Abhängigkeit von russischem Gas, der Verkauf der deutschen Gasspeicher ausgerechnet an den russischen Konzern Gazprom, die schleppende Digitalisierung oder die migrationspolitische Unwucht – tragen heute ihre Nachfolger aus. Die politische Mitte, einst Merkels Hauptbasis, ist seither in Bewegung geraten – teils nach links, teils nach rechts.
Die Linke: Fragmentierte Protestpartei mit radikalen Rändern
Die Partei Die Linke ist ein Kind der Wiedervereinigung – hervorgegangen aus der SED der DDR, gewandelt über die PDS zur gesamtdeutschen Protestpartei. Trotz aller programmatischen und personellen Wandlungen blieb ein zentraler Widerspruch: Die Linke vereint unter ihrem Dach politische Strömungen, die ideologisch oft kaum kompatibel sind.
So finden sich in ihrer Basis neben gemäßigten Sozialdemokraten und Friedensbewegten auch Antideutsche, Alt-Kommunisten, DDR-Nostalgiker, postkoloniale Aktivisten, besonders viele Antisemiten und linke Antikapitalisten. Die Partei ist kein geschlossenes Programmgebäude, sondern ein ideologisch-eklektischer Flickenteppich. Diese Heterogenität macht sie politisch unberechenbar – und intern oft handlungsunfähig.
Nach außen hin versuchten charismatische Persönlichkeiten wie Gregor Gysi, Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch oder Sahra Wagenknecht, der Partei ein respektables Gesicht zu geben. Sie galten – trotz gelegentlicher Provokationen – als gesprächsfähig, rhetorisch brillant und parlamentarisch diszipliniert. Doch das, was vorn moderat wirkte, wurde in den Parteistrukturen immer wieder von radikalen Kräften konterkariert.
Mit dem Bruch Sahra Wagenknechts mit der Linken und der Gründung des BSW verlor die Partei nicht nur eine ihrer profiliertesten Stimmen, sondern auch das letzte stabile Bindeglied zwischen linkem Intellektualismus, Arbeiterprotest und populärer Ausstrahlung. Der Rückzug der gemäßigten Führungspersönlichkeiten hat die innerparteiliche Machtbalance zugunsten radikalerer Strömungen verschoben.
Die Wahl von Ines Schwerdtner zur Parteivorsitzenden steht symbolisch für diesen Richtungswechsel. Sie vertritt einen lautstarken, konfrontativen Kurs, der stark an agitatorische Formen der 1970er Jahre erinnert – mit Anklängen an Ulrike Meinhofs Rhetorik, wie Kritiker anmerken. Ihre Auftritte sind weniger von vermittelnder Dialogbereitschaft geprägt als von ideologischer Zuspitzung und medialer Provokation.
Zugleich hat sich auch die politische Wahrnehmung verändert: Während es früher als Tabu galt, mit der Linken Regierungsbündnisse einzugehen, wurde diese Brandmauer spätestens dann eingerissen, als die SPD im Bund und auf Länderebene auf deren Stimmen angewiesen war – beispielsweise bei der Aushebelung der Schuldenbremse. Das Argument, die Linke sei ebenso demokratisch legitimiert wie andere Parteien, ist formal richtig, verkennt aber die problematische ideologische Spannweite innerhalb der Partei.
Die Linke ist heute keine geschlossene politische Kraft mehr, sondern ein Sammelbecken enttäuschter, oft radikalisierter Milieus, das seinen integrativen Charakter verloren hat. In einem politischen Klima, in dem Polarisierung zunimmt, fällt es ihr zunehmend schwer, konsistente Antworten zu liefern – und nicht einfach nur Teil des Problems zu sein.
Das BSW: Querfrontphänomen und geschlossene Hufeisentheorie
Mit der Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) entstand eine neue politische Formation, die sich bewusst außerhalb der traditionellen Achsen des Parteienspektrums positioniert. Das BSW reklamiert für sich, eine „Vernunftlinke“ zu sein – sozialpolitisch orientiert, wirtschaftlich interventionistisch, zugleich aber migrationskritisch, wertekonservativ und staatsskeptisch. Dieses Amalgam aus widersprüchlichen Positionen macht das BSW zu einem klassischen Querfront-Projekt.
Sahra Wagenknecht verkörpert diese Ambivalenz in Person. Einst als führende Stimme der Linken bekannt, bewies sie stets Unabhängigkeit vom Mainstream ihrer Partei. Ihre scharfe Kritik an neoliberalen Eliten, an Globalisierung und Finanzkapitalismus fand nicht nur bei klassischen Linkswählern, sondern zunehmend auch im rechten Spektrum Gehör – besonders dort, wo die AfD mit wirtschafts- oder sozialpolitischen Aussagen in Widerspruch zur Lebensrealität ihrer Wähler steht.
Das BSW zielt strategisch auf jene Wählergruppe, die sich von SPD, Grünen oder Linken entfremdet hat, aber mit der AfD fremdelt – oft aus demokratischem Unbehagen. Gemeint sind nicht zuletzt Arbeiter, Angestellte, Ostdeutsche, die in ihrer Lebensrealität keine politische Vertretung mehr sehen. Die Partei gibt sich betont antiakademisch, volksnah, empörungssensibel – und spricht damit jene an, die sich im aktuellen politischen Betrieb nicht wiederfinden.
Ideologisch verdichtet sich im BSW, was die sogenannte Hufeisentheorie seit Jahrzehnten behauptet: dass sich linke und rechte Radikalismen an den politischen Rändern annähern – nicht nur in ihren Gegnerbildern (Eliten, NATO, EU, „Systempresse“), sondern auch in ihren sprachlichen Mustern, Erklärungsmustern und Mobilisierungsstrategien sehr ähnlich sind. Das BSW scheint diese beiden Pole zusammenzubinden: Es übernimmt Teile linker Systemkritik und rechter Kulturkritik – und formt daraus ein geschlossenes Weltbild.
Vor diesem Hintergrund erscheint das klassische Links-Rechts-Schema politisch zunehmend unzureichend. Sinnvoller wäre eine vertikale Anordnung: Oben stünden Parteien und Kräfte, die sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, rechtsstaatlich arbeiten, Pluralismus achten. Unten hingegen gruppierten sich autoritäre, populistische, antipluralistische Bewegungen – gleich, ob sie sich rot, braun oder schwarz-grün lackieren. Die Achse verlöre so ihre ideologische Einseitigkeit – zugunsten einer realistischeren Bewertung von demokratischer Qualität.
In dieser Logik besetzt das BSW einen besonders heiklen Punkt: Es tritt bürgernah auf, spricht demokratische Sprache – doch seine programmatische Nähe zu autokratischen Regimen, seine vereinfachende Systemkritik und sein Fokus auf nationale Identität machen es strukturell anfällig für populistische Eskalation. Ob es sich langfristig als demokratisch legitimierte Korrekturinstanz etablieren kann – oder lediglich ein weiteres Instrument der Polarisierung wird – bleibt offen.
Die AfD: Vom wirtschaftsliberalen Protest zur rechtsextremen Kraft
Die Alternative für Deutschland (AfD) wurde im Februar 2013 von einer Gruppe vornehmlich wirtschaftsliberaler und konservativer Akademiker gegründet. Prominente Gründungsmitglieder wie der Hamburger Ökonomieprofessor Bernd Lucke, der frühere Präsident des Bundesverbandes der Industrie, Hans-Olaf Henkel, und der Publizist Konrad Adam wollten mit der AfD eine bürgerlich-konservative Antwort auf den als links empfundenen Kurs der CDU unter Angela Merkel schaffen – insbesondere auf deren Euro-Rettungspolitik und den generellen Verlust marktwirtschaftlicher und nationalstaatlicher Prinzipien im Parteienspektrum.
In den ersten Jahren war die AfD vor allem eine Professorenpartei mit wirtschaftspolitischer und EU-skeptischer Ausrichtung. Ihr politisches Profil blieb jedoch diffus, und bald traten Fliehkräfte zutage, die sich insbesondere entlang zweier Linien entzündeten: der Frage der Einwanderungspolitik und der Haltung zu rechtsnationalen bis völkischen Positionen. Mit der Flüchtlingskrise ab 2015 wuchs die Partei rapide – in Wahlergebnissen, Mitgliedszahlen und Medienpräsenz –, verlor aber zugleich ihren Gründungscharakter.
Der Bruch erfolgte sichtbar 2015, als Bernd Lucke die Partei nach einem parteiinternen Machtkampf verließ. Ihm folgte ein tiefgreifender Wandel der inneren Ausrichtung: Der zunehmend dominierende rechtsnationale Flügel um Björn Höcke, Alexander Gauland und André Poggenburg orientierte sich offen an identitär-nationalistischen, völkischen und geschichtsrevisionistischen Positionen. Seither wurde die Partei für Teile des extrem rechten Milieus zur politischen Heimat – bis hin zur Anschlussfähigkeit an offene Neonazis.
Die gemäßigt-konservativen Kräfte, etwa Frauke Petry oder Georg Pazderski, wurden entweder aus der Partei gedrängt, traten aus oder verloren politisch an Einfluss. Auch Versuche, eine bürgerlich-konservative Alternative innerhalb der Partei zu bewahren – wie durch Jörg Meuthen – scheiterten letztlich an der Dominanz des rechtsextremen Flügels. Der offiziell aufgelöste „Flügel“ unter Björn Höcke blieb faktisch handlungsfähig und prägt maßgeblich die Programmatik und den öffentlichen Auftritt der Partei.
Die Sicherheitsbehörden reagierten: Der Bundesverfassungsschutz erklärte 2021 zunächst den „Flügel“ als Beobachtungsobjekt. Im März 2024 schließlich wurde die gesamte AfD vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft, später – in Teilen der Länder – als gesichert rechtsextreme Organisation klassifiziert. In Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt wurde sie infolge weiterer Analysen als verfassungsfeindlich eingestuft.
Diese Entwicklung macht deutlich, dass sich die AfD von ihren Gründungsidealen weit entfernt hat. Während sie anfangs als ökonomisch-konservative und europaskeptische Kraft antrat, ist sie heute nach einhelliger Bewertung zahlreicher Politikwissenschaftler und Behörden ein Sammelbecken für Nationalisten, Verschwörungsideologen, ethnische Exklusivisten und Demokratieverächter.
Dass sich die AfD dennoch dauerhaft im politischen System etablieren konnte, verweist auf tieferliegende Defizite im Parteiensystem wie auch auf Vertrauensverluste in Medien, Institutionen und Eliten. Der Aufstieg der AfD ist daher nicht nur ein sicherheitspolitisches, sondern auch ein demokratietheoretisches Problem – und ein Indikator für die strukturelle Krise der Repräsentation in Deutschland.
Das politische Personal – damals und heute
Die politischen Repräsentanten der jungen Bundesrepublik waren geprägt von den Erfahrungen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des demokratischen Neubeginns. Unabhängig von Parteizugehörigkeit verband sie ein gemeinsames „Nie wieder!“, ein Konsens über die Grundwerte des neuen Staates: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus. Politiker wie Konrad Adenauer, Hans-Dietrich Genscher, Hildegard Hamm-Brücher, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Franz-Josef Strauß oder Herbert Wehner standen für intellektuelle Tiefe, persönliche Standfestigkeit und berufliche Reife – vielfach gewachsen in Widerstand, Exil, Kriegsdienst oder öffentlicher Verantwortung.
Dieses Fundament hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Der Weg in die Spitzenpolitik führt heute immer seltener über die berufliche Lebensleistung und Lebenserfahrung, sondern über den Parteiapparat: Schülervertretung, Parteijugend, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Mitarbeiter im Abgeordnetenbüro – das ist der vorwiegende Karriereweg vieler heutiger Abgeordneter. Erwerbsbiografien außerhalb der Politik sind zunehmend die Ausnahme, nicht mehr die Regel.
Auffällig ist, dass gerade in bestimmten Parteien – insbesondere bei den Grünen, aber auch in Teilen der SPD – Personen mit Berufen, die auf dem Arbeitsmarkt kaum gefragt sind (Politologen, Philosophen, Soziologen), unvollendeter Berufsausbildung, Studienabbrüchen oder fehlender Erwerbstätigkeit in bedeutende politische Funktionen gelangen. Sie finden in der Politik ein berufliches Zuhause – nicht selten in staatlich alimentierten Positionen wie parlamentarischen Beauftragten, Kommissionsmitgliedern oder Sprechern. Dies führt zu einer von Vielen zunehmend als „versorgungsorientiert“ empfundenen Politikerkaste. Der Staat als Versorgungswerk für Parteifreunde.
Zugleich werden viele dieser Personen mit moralischem Impetus ausgestattet: Sie sprechen belehrend, formulieren gesellschaftliche Normen, zeigen „Haltung“ – und können zugleich selten auf eigene wirtschaftliche oder soziale Erfahrungen außerhalb des Politikbetriebs verweisen. Für Bürgerinnen und Bürger, die täglich in existenziellen Realitäten leben – als Facharbeiter, Handwerker, Pflegekraft, Alleinerziehende oder Pendler – wirkt diese Mischung aus Unerfahrenheit und Überheblichkeit zunehmend abstoßend.
Das Problem wird durch die Parteistruktur selbst verstärkt: Nur etwas über ein Prozent der Bevölkerung ist Mitglied einer Partei. Doch aus diesem winzigen Segment rekrutiert sich der gesamte politische Apparat – von der kommunalen Ebene bis zur Bundesregierung. Dass in diesem Auswahlprozess nicht zwangsläufig die Besten zum Zuge kommen, sondern oft die Angepassten, Loyalen oder Netzwerkstärksten, liegt auf der Hand.
Diese Entwicklung ist kein spezifisch deutsches Phänomen, doch in Deutschland wirkt sie besonders ausgeprägt, weil die Professionalisierung politischer Karrieren kaum durch gesellschaftliche Kontrolle oder parteiinterne Kulturtechniken – wie Debatten oder Quereinsteigerprogramme – ausgeglichen wird. Der Eindruck, dass Politik ein geschlossenes System sei, das sich selbst rekrutiert, wird dadurch weiter verstärkt.
In der Konsequenz schwindet das Vertrauen in die Repräsentanten des demokratischen Systems. Nicht, weil „die da oben“ grundsätzlich schlechtere Menschen wären – sondern weil viele Bürger das Gefühl haben, dass ihre eigenen Lebenswirklichkeiten weder verstanden noch vertreten werden, weil der Politikbetrieb in einem Elfenbeinturm stattfindet.
Die Rolle der Medien – Vertrauen, Verzerrung und Verantwortung
Medien gelten gemeinhin als „vierte Gewalt“ im demokratischen System. Ihre Aufgabe ist es, zu informieren, zu kontrollieren und zur Meinungsbildung beizutragen – idealerweise in sachlicher, ausgewogener und pluraler Form. Doch dieser Anspruch gerät in Deutschland zunehmend unter Druck – insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Die öffentlich-rechtlichen Sender – ARD, ZDF, Deutschlandfunk – finanzieren sich über verpflichtende Haushaltsbeiträge und beanspruchen damit, im Dienst der gesamten Bevölkerung zu stehen. Umso größer ist die Irritation, wenn sie diesen Anspruch nicht einlösen. Studien und Umfragen deuten seit Jahren auf eine deutliche politische Schieflage in den Redaktionen hin: Eine überproportionale Mehrheit der Journalisten verortet sich selbst im links-grünen Spektrum – ein Befund, der sich in der Berichterstattung häufig widerspiegelt.
So erscheinen viele Narrative aus dem Umfeld von Grünen, Linken oder SPD als mediale Norm, während liberale, konservative oder nationalstaatliche Positionen entweder kritisch eingerahmt oder ironisch gebrochen werden. Besonders augenfällig wird das in den politischen Talkshows, wo konservative oder rechte Gäste überdurchschnittlich häufig unterbrochen, belehrt oder moralisch konfrontiert werden – während linke Positionen meist als sachlich gesetzt behandelt werden. Ein erzkonservatives Format – wie es etwa das „ZDF-Magazin“ mit Gerhard Löwenthal einst war – ist heute medial kaum noch vorstellbar.
Auch in der politischen Satire klafft eine Asymmetrie: Formate wie „Die Anstalt“, „ZDF Magazin Royale“ oder „extra3“ karikieren fast ausschließlich bürgerlich-konservative, marktwirtschaftliche oder rechte Positionen. Der linke Mainstream bleibt meist ungeschoren oder wird affirmativ dargestellt.
Die Trennung zwischen Nachricht und Kommentar wird zunehmend verwischt. Politische Haltung ersetzt journalistische Distanz. In der Folge sinkt das Vertrauen der Zuschauer. Laut mehrerer Umfragen liegt die Glaubwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien nur noch zwischen 30 und 40 Prozent – ein alarmierender Wert für Institutionen, die von sich behaupten, demokratische Grundpfeiler zu sein.
Dabei gibt es Beispiele, wie es besser gehen kann. Der dänische Journalist Ulrik Haagerup, ehemaliger Nachrichtenchef des öffentlich-rechtlichen Senders DR, verfolgte ein radikal anderes Konzept: Er reformierte das Nachrichtenverständnis seines Hauses, setzte auf konstruktive, faktenbasierte und multiperspektivische Berichterstattung. Das Ergebnis: Die Glaubwürdigkeit des Senders stieg von vormals nur 30 auf über 80 Prozent – und rechtspopulistische Parteien verloren deutlich an Zuspruch, wurden marginalisiert. Denn wer sich ernstgenommen fühlt, hat weniger Grund, sich medial als Opfer zu präsentieren.
In Deutschland hingegen stößt ein solcher Ansatz auf Skepsis. Als Haagerups Ideen 2016 im Rahmen einer ZAPP-Dokumentation vorgestellt wurden, lehnten viele in der Sendung befragte Redakteure deutscher öffentlich-rechtlicher Sender seinen Ansatz ab – teils mit dem Hinweis, dies gefährde die Pressefreiheit und man müsse als Journalist immer auch Haltung zeigen. Dabei verkennen sie den Unterschied zwischen parteiunabhängiger Berichterstattung und staatsbürgerlicher Verantwortung.
Denn wer sich als „vierte Gewalt“ versteht, muss sich auch dem Anspruch auf Ausgewogenheit stellen – gerade, wenn er aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Die Gesellschaft braucht Journalismus, der Vertrauen aufbaut – nicht Lagerdenken verstärkt. Vielleicht sollten sich die Redaktionen aller Medien wieder mehr an einem Zitat des einst beliebten Tagesthemen-Moderators nehmen, der seine journalistische Pflicht so definierte:
„Das hab‘ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, daß die Zuschauer dir vertrauen, dich zu einem Familienmitglied machen, dich jeden Abend einschalten und dir zuhören.“
Hanns-Joachim Friedrichs
Soziale Medien – Katalysatoren der Spaltung
Die sozialen Medien haben sich innerhalb weniger Jahre von digitalen Marktplätzen der Meinungsvielfalt zu zentralen Schauplätzen gesellschaftlicher Polarisierung entwickelt. Plattformen wie Facebook, X (vormals Twitter), TikTok oder YouTube prägen längst den politischen Diskurs – und zwar mit einer Dynamik, die klassische Medien kaum kontrollieren oder ausgleichen können.
Algorithmen steuern, welche Inhalte sichtbar werden – und bevorzugen dabei jene, die besonders starke emotionale Reaktionen hervorrufen: Empörung, Wut, Angst oder Häme. Sachliche, ausgewogene Beiträge erhalten weniger Reichweite, während polemische, zugespitzte oder verschwörungstheoretische Inhalte viral gehen. Die Nutzer leben zunehmend in sogenannten „Echokammern“, in denen sie vor allem Beiträge konsumieren, die ihre bereits vorhandenen Überzeugungen bestätigen. So entstehen Filterblasen, in denen Gegensätze nicht ausgetragen, sondern verstärkt werden.
Besonders problematisch ist, dass diese Mechanismen nicht zufällig entstehen, sondern integraler Bestandteil der Geschäftsmodelle der Plattformbetreiber sind: Aufmerksamkeit wird monetarisiert. Polarisierung wird zur Ware, das Gemeinwohl bleibt dabei außen vor. Politische Debatten werden emotionalisiert, differenzierte Argumente durch Hashtags ersetzt, persönliche Angriffe durch Likes belohnt. In diesem Klima gedeihen Verschwörungstheorien, Desinformation und extremistisches Gedankengut besonders gut.
Auch demokratiefeindliche Akteure haben die sozialen Medien längst als Bühne erkannt – sei es zur gezielten Manipulation durch „Fake News“, zur Verbreitung agitatorischer Inhalte oder zur Mobilisierung realer Massenproteste. Untersuchungen belegen, dass links- und rechtsextreme, islamistische oder staatszersetzende Gruppierungen digitale Netzwerke strategisch nutzen, um Misstrauen in demokratische Institutionen zu säen und parallele Öffentlichkeiten zu etablieren.
Die Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind gravierend: Vertrauen schwindet, Dialoge scheitern, politische Gegner werden zu Feinden erklärt. Die Debattenkultur verroht, selbst grundlegende demokratische Spielregeln geraten ins Wanken. Soziale Medien wirken in dieser Konstellation nicht wie eine neutrale Infrastruktur, sondern zunehmend wie ein Brandbeschleuniger in einer ohnehin fragilen gesellschaftlichen Gemengelage.
Diese Entwicklung stellt die Demokratie vor neue Herausforderungen: Sie erfordert medienpädagogische Bildung ebenso wie eine effektive Regulierung der Plattformen – ohne dabei die Meinungsfreiheit zu untergraben. Es geht nicht um Zensur, sondern um Transparenz, Verantwortlichkeit und den Schutz der demokratischen Öffentlichkeit vor Manipulation und Radikalisierung.
Epilog: Ursachen und Auswege aus der politischen Polarisierung
Die politische Spaltung in Deutschland – wie in vielen westlichen Demokratien – ist kein Zufallsprodukt einzelner Ereignisse. Sie ist das Ergebnis einer schleichenden Entfremdung zwischen Staat, Medien, Parteien und Bürgern, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hat. Was sich heute in Form von Wahlverhalten, Populismus, Protest und Vertrauensverlust zeigt, wurzelt tief in strukturellen Veränderungen, ideologischen Verschiebungen und kommunikativen Versäumnissen.
Die einstigen Volksparteien haben ihre Integrationskraft eingebüßt. Die SPD verlor ihre traditionelle Arbeiterschaft durch eine Politik, die soziale Fragen oft technokratisch behandelte und dabei das Gerechtigkeitsempfinden verletzte. Die CDU/CSU, lange Garant der bürgerlichen Mitte, hat durch pragmatische Beliebigkeit und Koalitionsopportunismus an Profil verloren. Die FDP wandelte sich von einer liberalen Reformkraft zur wirtschaftsliberalen Interessenvertretung – und verlor dabei an gesellschaftlicher Relevanz. Die Grünen entwickelten sich von einer basisdemokratischen Umweltbewegung zur akademisch-urbanen Elitenpartei – mit wachsender Distanz zur Lebensrealität der Bevölkerung.
Parallel dazu ist das politische Personal immer häufiger von Parteikarrieren geprägt, nicht von Lebensleistung oder gesellschaftlicher Verankerung. Der Eindruck einer „politischen Klasse“, die eigene Versorgung sichert, aber den Kontakt zur Alltagswelt verliert, ist nicht nur eine populistische Erzählung – er hat reale Ursachen.
Die Medien – insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk – tragen eine Mitverantwortung für die gesellschaftliche Polarisierung. Ihre inhaltliche Schlagseite, die Verwechslung von Haltung und Information, das Fehlen echter Pluralität in Satire, Talkshows und Nachrichtengebung haben Vertrauen verspielt. Wer sich medial nicht mehr repräsentiert fühlt, wendet sich ab – oder zu jenen, die den Medien selbst den Krieg erklärt haben.
In dieses Vakuum stoßen populistische Kräfte – von rechts wie von links. Die AfD profitiert von der emotionalen Abkehr vieler Bürger von einem System, das ihnen weder zuhört noch antwortet. Das BSW sammelt jene ein, die sich mit ihrer sozialen Sorge weder bei den Linken noch bei der SPD vertreten sehen – und dabei offen ist für autoritäre, nationalistische oder systemkritische Denkfiguren. Die klassischen Koordinatensysteme reichen nicht mehr aus, um diese Bewegungen zu fassen. Notwendig ist eine neue Differenzierung – entlang demokratischer und antidemokratischer Linien, nicht entlang veralteter ideologischer Etiketten (Top-Down- statt Links-Rechts-Schema).
Der Weg zurück zu einer stabilen, vertrauenswürdigen, streitbaren Demokratie beginnt nicht mit Moralisierung oder Ausschluss, sondern mit Selbstkritik. Es braucht eine neue Ernsthaftigkeit in der politischen Debatte, eine Rückbesinnung auf parlamentarische Streitkultur, eine Öffnung für Biografien jenseits des Parteiapparats. Es braucht auch einen öffentlich-rechtlichen Journalismus, der Vielfalt nicht nur behauptet, sondern praktiziert.
Demokratie lebt von Repräsentation – und damit von glaubwürdigen Repräsentanten. Sie lebt von Institutionen – aber auch von gelebtem Vertrauen. Und sie lebt von Konflikten – solange diese ausgetragen werden in Respekt, Rationalität und dem gemeinsamen Willen, das Beste für alle zu erreichen.
Die Herausforderung ist groß – aber sie ist nicht unlösbar.
Zusammenfassung der Kernaussagen (PDF