33 Stufen zum “Wahren Menschentum”

usammenfassung und Fotos von Kurt O. Wörl,
nach einer Buchidee von Christian Jaqc

Vorweg:

 

Als ich vor Jahren als Tourist in Metz, in Frankreich war, stand auch die Besichtigung der Kathedrale “Saint-Étienne” auf dem Programm. Beim Betreten des Gotteshauses durch das Südportal (heute Haupteingang) betrachtete ich zunächst die gigantischen, steinernen Heiligenstatuen, die sich über das gesamte Portal türmten. Dann blieb mein Blick plötzlich haften an kleinen Steinreliefs, die unterhalb der Heiligen, etwas über Kopfhöhe des Besuchers, in einem steinernen Zackenband angeordnet sind. Jedes dieser Piktogramme befindet sich also in einem Dreieck der Zackenborde. Am Mittelpfeiler, in gleicher Höhe, befinden sich weitere sieben dieser Piktogramme, allerdings jeweils in Rechtecken platziert. Zusammen sind es 33 Steinbilder, teilweise in Bildergruppen, die sich, von rechts nach links verlaufend, ebenfalls über das gesamte Portal erstrecken.

Diese steinernen Piktogramme schienen mir so gar nicht zur üblichen Ikonographie christlicher Gotteshäuser zu passen. Sie wirkten durchgehend eher weltlich und einige kannte ich auch bereits, z.B. den Pelikan, der seine drei Jungen mit dem eigenen Herzblut füttert. Er hat auch eine Bedeutung im 18. Grad des Schottischen Ritus, einem freimaurerischen Hochgradsystem.

Ich rätselte, was diese Bilder aus Stein bedeuten sollen. Das erste Bild, ganz rechts am Portal, zeigt einen verdorrten Baum. Das letzte, ganz links angeordnet, zeigt einen blühenden Baum. Ich ahnte, dass die dazwischen liegenden Bilder etwas mit diesem Wandel des Baumes zu tun haben müssten. Ich beschloss, diese Steinreliefe einzeln zu fotografieren. Die Fremdenführerin konnte nur soviel erklären, dass diese Bildchen einen Initiationsweg darstellen und, dass der bekannte Buchautor Christian Jaqc darüber ein Büchlein geschrieben habe, dessen Titel sie aber nicht mehr wusste.

Es war nicht schwer, in den Tiefen des Internets das Büchlein aufzufinden. Es trägt den Titel “33 Stufen zur Weisheit – Die geheime Botschaft der Kathedralen” und natürlich habe ich es mir besorgt. Bei der nachfolgenden Beschreibung und Deutung der Piktogramme stütze ich mich daher vor allem auf dieses wunderbare Büchlein, wobei ich mich hier in einem Artikel, der ohnehin sehr lang werden wird, mit eigenen Worten auf das Wesentliche stützen und stark komprimieren muss, auch, um nicht in Urheberrechtsverletzung zu geraten. Ich empfehle deshalb jedem Interessenten, sich das 192 Seiten starke Taschenbüchlein unbedingt zu besorgen, ich verspreche eine wirklich spannende Lektüre.

Das Buch ist in einen Dialog gekleidet. Ein fiktiver Besucher der Kirche steht darin, ähnlich rätselnd wie ich, vor dem Portal und betrachtet die genannten Piktogramme. Ein Herr tritt zu ihm heran, gibt sich als Angehöriger eines alten Bruderbundes zu erkennen und erklärt dem Besucher die Bedeutung der Reliefs.

Dem will ich hier, in stark gekürzter und zusammengefasster Form nun folgen:

Die Kathedrale Saint-Étienne zu Metz

 

Wir blicken hier auf die Südseite der Kathedrale Saint-Étienne wo sich auch das Südportal der Kirche befindet, an welchem sich die zu besprechenden Steinreliefe befinden.

Dieses Südportal ist heute der Haupteingang, jener im Westen der Kirche ist für Besucher heute verschlossen.

Das Südportal

 

Das Bild zeigt – nicht ganz vollständig – nun das Südportal mit den mächtigen Heiligen-stauen. Darunter, knapp über Kopfhöhe der Besucher, erkennt man die steinerne Zickzackborde, die damit abwechselnd nach oben und nach unten geöffnet Dreiecke bilden, in denen sich jeweils ein steinernes Relief befindet. Zwischen den beiden Türen erkennbar der Mittelpfeiler. Und hier soll auch der Weg unseres fiktiven Reisenden beginnen.

Wer sich auf einen Einweihungsweg, vom Dunkel zu Licht, vom verdorrten zum blühenden Baum, begeben will, der muss zunächst hemmende, unwürdige charakterliche Eigenschaften überwinden. Nur wenn dies gelingt, wird die Initiation gelingen. Die Steinmetze haben sieben zu überwindende Hemmnisse in Stein gemeißelt. Da wäre zunächst:

1. Hemmnis – Die Treulosigkeit

 

Wir sehen eine edle Dame auf einem Thron sitzen. Ein Angreifer trägt in der rechten Hand einen Kelch, den er über seinem Kopf ausschüttet. In der linken Hand trägt er eine Schriftrolle, ein Pergament.

Die Dame wehrt ihn ab, tritt ihn gar mit dem Fuß gegen die Brust.

Die Dame steht für die Einweihung. Sie wehrt den anmaßenden Angreifer, der die Bedeutung dieser Dame nicht anerkennen will, mühelos ab.

Der Angreifer steht für den Treulosen, der seinem eigenen Wort untreu wird. Er zielt auf jene, die sich nicht der Mühe der Initiation hingeben wollen. Er verschüttet damit den Kelch der Unsterblichkeit, der Prüfungen der Wahrheit auferlegt.

Der Angreifer verweigert das „Erkenne dich selbst“ und schüttet den Trank lieber aus, als sich so zu erkennen, wie er wirklich ist. Mit dem Pergament glaubt er das Weltenbuch in den Händen zu halten, das die Geheimnisse des Lebens enthält. Er denkt, es nutzen zu können, ohne den Eid auf den Kelch zu leisten. Doch hält er ein stummes Buch in den Händen, eines, dessen Buchstaben er niemals verstehen wird. Er war nicht bereit, sich mit Demut den Prüfungen zu unterziehen. Er wird für immer zur Unwissenheit verdammt sein.

2. Hemmnis – Die Selbstzerstörung

 

Wir sehen einen Mann, er durchbohrt seinen eigenen Leib mit einem Schwert. Es ist die Szene eines Selbstmordes, die zur Frage nach den Gründen für eine solche Tat führt.

Die Figur wird auch vom lateinischen Dichter Prudentius beschrieben, als er den Kampf zwischen Geduld und Zorn schilderte. Der Zorn, dem der Schaum vor dem Mund steht, kann noch so heftig auf die Geduld einschlagen, es gelingt ihm nicht, ihren Panzer zu zerstören. In seiner Wut richtet er das Schwert letztlich gegen sich selbst. Die siegreiche Geduld resümiert: „Die entfesselte Wut ist ihr eigener Feind, sie tötet sich durch Raserei und stirbt von ihren eigenen Waffen.“ Die echte Geduld befähigt den Eingeweihten, die Last der Welt zu tragen, ohne zusammenzubrechen.

3. Hemmnis – Der Geiz

 

Die abstoßende Figur des Geizes kann man kaum besser darstellen. Gierig hortet er Goldstücke in der Truhe. Damit ihm ja kein Quäntchen Reichtum entgeht, stopft er sich die Münzen sogar ins Gewand.

Die Schätze die dieser Mensch hortet sind in Wahrheit nicht von Wert. Der Geizige hier ist ein Sklave falscher Werte, die sein Denken beherrschen. Er interessiert sich nur für die Anhäufung schädlicher Güter. Er hortet, was ihn umbringen wird. Doch der  so Beschriebene ist nicht der Schlimmste seiner Art. Man denke an die Pharisäer und alles, was sie symbolisieren, an all jene Menschen, die ein bisschen Wahrheit besitzen und sich weigern, es weiterzugeben, um es in ihrer Einsamkeit ungestört zu genießen. Die gehorteten Reichtümer werden zum Ungeheuer, das sich auf den Geizige stürzt und ihn verschlingt.

Es geht darum, unreine Metalle in schöpferische Substanz zu verwandeln, in eine innere Sonne. Das Gold der Eingeweihten ist nicht das Metall der Händler. Es ist der Lichtkörper, die Herrlichkeit des Lebens, das Zeichen des Unvergänglichen. Glänzen und erschaffen sind in der Hieroglyphensprache ein und das selbe Wort. Es ist das Licht, das dem Stein Leben verleiht. Das Licht, das der Hand des Bildhauers innewohnt. Man muss ins Goldhaus eintreten, doch ohne Besitz. Das Gold aber, das der Geizige niemals in seiner Truhe einschließen kann, es ist das innere Feuer.Selbst wenn ihm dieser Schatz in die Hände fiele, er wüsste damit nichts anzufangen.

4. Hemmnis – Der Götzendienst

 

Eine Gestalt kniet vor einem Sockel, auf welchem offensichtlich ein tierisches Wesen steht. Gebannt ist der Blick auf die eigenen betenden Hände gerichtet.

Dargestellt wird hier vordergründig der Götzendienst. Das will nicht viel bedeuten, denn wer ein von anderen angebetetes Objekt einen Götzen nennt, offenbart eine dogmatische Haltung, sich im Alleinbesitz der absoluten Wahrheit zu wähnen. Die alten Tempelbauer hingen aber keiner Doktrin an. Für sie war die christliche Religion nur eine Spielart von vielen. Der Götzendienst, vor dem hier gewarnt wird ist Warnung vor einem geistigen Automatismus, der uns unfähig macht, die Bedeutung von Symbolen zu erkennen. Es passiert dann oft, dass die Idee eines Werkes mit seiner Form verwechselt wird. Der Götzendiener hier klammert sich an vorgefasste Ideen und wagt es nicht mehr, davon abzuweichen aus Furcht, seine metaphysischen Ansichten könnten sich fortentwickeln. Mit verdorrtem Blick wird die liebgewonnene Handlung des Händefaltens betrachtet. Die Gedanken werden zur leeren Hülle. Die Zeichen und Symbole, die der große Baumeister auf dem Erdenrund verteilt hat, werden nicht mehr wahrgenommen. Ein solch kritiklos liebgewonnener Götzendienst heute kann im Anbeten von Diplomen und Titeln gesehen werden, die nicht auch völliger Inkompetenz zu unbehelligtem Handeln Freiraum schaffen.

5. Hemmnis – Selbstverliebtheit

 

Eine Frau betrachtet sich im Spiegel, scheint ihr Aussehen korrigieren zu wollen.

Bei den Ägyptern heißt der Spiegel übersetzt in etwa „Öffner des Gesichts“. Er ist auch ein Synonym für das Leben. In der Ikonographie steht der Spiegel auch als Symbol für die Wahrheit.

Der Spiegel vermittelt uns nicht nur das –  übrigens seitenverkehrte – Bild der sichtbaren Welt. Er kann auch einen wahrnehmbaren Widerschein des Unsichtbaren erzeugen. Das Universum ist wie ein riesiger Spiegel des des Großen Baumeisters der Welt, in welchem Weisheit erkennbar wird. Der intellektuelle Blick lässt im Spiegel immer nur uns selbst erkennen. Der intuitive Blick hingegen, lässt uns durch den Spiegel hindurchschauen und uns die Dinge erkennen, wie sie sind jenseits des Scheins, wie sie vielleicht wirklich sind. Der Astronom richtet daher seinen Spiegel auf den Sternenhimmel und nicht auf sich selbst. „Wenn die Ruhe des Wassers die Dinge widerzuspiegeln vermag, was muss dann erst die Ruhe des Geistes vermögen?“ fragte Tschuang-tse.

Anders unsere Dame hier. Ihr entgeht die Bedeutung des Spiegels, denn sie betrachtet nur sich selbst, statt das Universum. Sie wählt für sich fruchtlose Ichbezogenheit. Sie wird im Spiegel immer nur sich selbst sehen und mit dem, was sie sieht, womöglich zufrieden sein. Doch blickt der Weise in den Spiegel der Wahrheit und erkennt, wie er wirklich ist, dann fürchtet er weder Götter noch Dämonen, ist keines Lasters und keiner Tugend Sklave mehr. Wer im Spiegel sein wahres Ich erkannt hat, hat das Schlimmste überstanden.

6. Hemmnis – Feigheit und Selbsttäuschung

 

Ein ängstlicher Ritter flieht vor dem kleinen Hasen und lässt gar sein Schwert fallen.

Feigheit steht hier am Pranger! Ein Ritter, gut bewaffnet, fürchtet sich vor dem Waldtier. Wollte er nicht die schrecklichsten Ungeheuer besiegen? Oder wozu hatte er sich sonst bewaffnet? So flieht er vor dem kleinen Hasen. Er hat sich in den Wald der Symbole gewagt, ohne vorbereitet zu sein, ohne es von ganzem Herzen gewollt zu haben.

Das Gewand macht noch keinen Ritter und auch das Schwert nicht. Er wirkt, als wäre er eingeweiht, habe als Zeichen dafür das Schwert erhalten, aber alles war nur Maskerade und Theater. Das kleine Waldtier hat die Täuschung entlarvt. Das Relief offenbart also weniger die Feigheit des Ritters, als seine Selbsttäuschung. Die Warnung an jene, die sich auf den Weg machen lautet also: Selbsttäuschung führt zum Tod. Behalte dein Schwert aus Licht und bleibe Krieger. Du brauchst all deinen Mut, um das letzte Hindernis zu überwinden, das uns von der Pforte des Tempels noch trennt:

7. Hemmnis – Selbstgefälligkeit

 

Wir erkennen einen Reiter, der von seinem Pferd aus dem Sattel geworfen wird.

Dieses Abbild des letzten der Hindernisse auf dem Weg zur Einweihung wirkt wie der endgültige Absturz in den Abgrund. Besser kann man kaum die Selbstgefälligkeit darstellen. Aufsitzend auf dem Pferd, piesackt sie das Tier mit dem Sporn und treibt es auf den Gegner, die Bescheidenheit, zu. Doch die Selbstgefälligkeit stürzt wild und Arme rudernd in einen Graben. Übermäßige Selbstgefälligkeit, sie ist das größte Hindernis auf dem Wege zur Initiation. Der Selbstgefällige zieht aus, um das Abenteuer zu suchen, Seite an Seite mit seinen Unvollkommenheiten. Er glaubt, seine bloße Anwesenheit genüge, um jede der bevorstehenden Etappen leicht zu bewältigen.

Wir kennen solche Menschen auch, nicht wahr? Sie glauben in profanen Büchern oder in Worten anderer bereits alles „gelesen“ oder „gehört“ zu haben und fast alles schon zu wissen. Manche sehen sich bereits schon als künftiger Meister. Doch der Selbstgefällige wird scheitern und nichts begreifen. Das Pferd, das die Welt der Instinkte symbolisiert, wirft jedes disharmonische Denken aus dem Sattel, weil sein Reiter das Werk verkennt, das er vollbringen muss. Man darf Selbstgefälligkeit nicht mit Stolz verwechseln. Um das Streitross reiten zu können, muss der Reisende sein inneres Feuer mit edlem Stolz und dem Willen nähren, neu geboren zu werden, sich neu zu erschaffen. Er bedarf des Willens, die Einweihung hier auf Erden und ab sofort zu durchleben. Und er muss wissen: Die sieben dargestellten Hindernisse sind niemals endgültig bezwungen. Bei jeder einzelnen Etappe auf dem Weg der nun beginnt, werden sie wieder auftauchen.

Und der Beginn des Weges unseres Reisenden beginnt mit dem verdorrten Baum.

8. Der verdorrte Baum oder: Die erste Bewusstseinswerdung

 

Wir sehen einen dürren Baum mit blattlosen Ästen. Die Wurzeln liegen teilweise frei.

Der „verdorrte“ Baum wird meist als Sinnbild für den Tod gewertet. Das trifft in gewisser Weise auch auf diesen Baum hier zu. Dieser Baum erscheint nur demjenigen, der seine Hindernisse zu bezwingen in der Lage ist. Wenn wir uns der Verzweiflung nähern und meinen, eine schwere Last nicht mehr tragen zu können, immer dann eröffnen sich uns neue Möglichkeiten. Jetzt müssen wir wachsam sein und der Stimme der Symbole lauschen, hellwach und aufmerksam. Sehen wir in diesem Abbild nur den verdorrten Baum, dann neigen wir dazu, die Einweihungsreise sei bereits beendet. Wir bemühen uns nach glänzenderen Abbildern und landen zielsicher in Sackgassen.

Der scheinbar verdorrte Baum ist aber nicht das Ende, es ist der Beginn unserer Initiationsreise. In Wahrheit sehen wir einen Baum im Winter. Sein Saft steigt nicht mehr, seine Lebensenergie läuft auf Sparflamme. Und dennoch sind alle Möglichkeiten in ihm enthalten. Es ist gewiss, dass im Frühjahr seine Säfte wieder steigen werden, der Baum wieder in Blütenpracht erstehen wird. Für uns bedeutet dies, dass wir im jetzigen Stadium unserer Reise noch gar kein blühender Baum sein können.

Angesichts dieses Baumes soll der Pilger seine Unvollkommenheiten und Schwächen erkennen und ohne Nachsicht betrachten. Erkenne dich selbst – in Bezug auf das Universum, nicht etwa in Bezug auf irgendeine Psychologie. Dieser Baum steht für Tod und Geburt, die eins sind. Er steht für das Ende des profanen Daseins, den Tod des alten Menschen und den Übergang zum werdenden, neuen Menschen. Der verdorrte Baum und die zu heiligende Materie sind analoge Begriffe, die den Weg öffnen. Einst ging das Leben zugrunde und auf dem Grab des Meisters war ein Baum gepflanzt. Der trieb von neuem aus, neues Leben entstand. Die Lehre des verdorrten Baumes zum Beginn unserer Reise sagt uns:

Im Augenblick, in dem alles verloren schien, wurde in der Tiefe der Finsternis, die dich umgab, ein winziger Funke geboren. Im unscheinbaren Ausgangsmaterial ruht das Geheimnis künftiger Verwandlung. Der einsame Baum entspricht der Einsamkeit dessen, der an der Schwelle zur Einweihung steht. Er hat seine Wurzeln noch nicht in die Erde gepflanzt, sein Bewusstsein bringt noch keine Früchte hervor. Doch sollte er begreifen, dass sich ihm ein Weg auftut, dank der Worte des Adlers, der uns nun erwartet.

9. Der Adler oder: Die Intuition des Lichts

 

Ein Adler begegnet uns, mit einer Papyrusrolle (Phylakterion).

Der Reisende befindet sich im Narthex, in der Vorhalle des Tempels. Er betritt nun ein anderes Universum. Die Tür des profanen Daseins liegt hinter ihm. In der Welt in der sich nun Schritt für Schritt vorantastet ist alles von Bedeutung, vorausgesetzt er versteht, alles was ihm begegnet einen Sinn zu geben. Der Adler und sein Begleiter, der Stier (das nächste Stein-Piktogramm) bilden die Gruppe der Hüter. Sie verkörpern das unzertrennliche Paar von Licht und Schöpfung.

Der Adler ist auch das Symbol Johannes, des Lieblingsapostels, des Bekenners des Lichtes. Nicht nur in der Freimaurerei heute, sondern auch bei den Steinmetz-Bruderschaften nahm Johannes einen wichtigen Platz ein. Neben Thomas diente er den Baumeistern als Vorbild. Die Papierrolle, die er trägt, steht als Symbol für das Gesetz der Einweihung, das er hütet, für die heiligen Texte, die uns das Licht empfänglich machen. Das Licht das in der Finsternis war und das unsere Finsternis nicht zerstören konnte. So im Prolog des Johannes-Evangeliums. Dort heißt es „Und das Licht scheint in der Finsternis, aber die Finsternis hat’s nicht begriffen.“ Im Originaltext heißt es aber: Und die Finsternis hat es nicht aufgehalten (oder auch nicht verschluckt).“

Es gibt zwei Arten von Finsternis: Die Äußere liegt in einem gemarterten Gebiet, in der der Mensch sich verirrt und nirgends einen Weg finden kann. Die zweite ist eine innere Finsternis. Der Mensch hat begriffen, dass sein Egoismus ihn blind macht. Er geht in sich, um seine wahre Natur zu befragen. Er erkennt in der Tiefe seines Wesens einen schwachen Schimmer und dahinter einen langen Gang mit Säulenreihen. Der schwache Schimmer aber enthält bereits alle Qualitäten des überwältigenden Lichtes, das ihm am Ende seiner Reise zuteil werden wird.

Der Adler symbolisiert die Fähigkeit, den Weg des Lichtes zu eröffnen, versetzt uns in die Lage, die höchste Wirklichkeit vorauszuahnen. Klettere also auf die Schwingen des Adlers und entdecke die Landschaften deiner Seele. Bis zur zweiten Begegnung mit dem Adler ist ein weiter Weg.

Treten wir nun zunächst dem Stier entgegen.

10. Der Stier oder: Die Intuition der Schöpfung im Geiste

 

Hier zu erkennen ein geflügelter Stier.

Der Stier ist aus der Mythologie bekannt. Er wurde in vielen Religionen verehrt, besonders bei den Ägyptern. Im Zeitalter des Stiers erblühten die großen Kulturen wie die Ägyptens, Babyloniens, Chinas oder des vedischen Indien.

Der Stier führt unseren Wanderer – wie es auch der Adler getan hat. Er formt die Intuition, die Fähigkeit, ins Herz des Lebens vorzudringen. Der Stier ist in der Ausgangspunkt eines wahrhaft bewussten Lebens. Er lehrt der Menschheit in den rechten Gebrauch der Materie. Er ist aber auch das Symbol der hartnäckigen Arbeit, des vollbrachten und vollendeten Werkes. Um den Zustand zu erreichen, in welchem der Reisende „Stier“ genannt wird, muss er eine besondere Charakterstärke trainieren: Bereitschaft, alles Notwendige zu tun, und zwar sofort, ganz unabhängig von den Umständen. Natürlich ist das unmöglich. Wir können die Zeit nicht auslöschen. Aber wir können dieses Ideal in uns tragen. Die Energie des Stiers kann Berge versetzen. Ein Baumeister brauchte diese Kraft, wenn er am Tempelbau mitwirkt.

Zur Kraft gesellt sich beim Eingeweihten, dem Stier, die Gelassenheit seiner Reife. Wenn die Welt rund läuft, lässt der Weise die Dinge laufen. So wird also der Stier unseren Reisenden beflügeln.

11. Die Masken oder: Die Dualität

 

Zu dieser Stufe bilden die nächsten vier Reliefs eine zusammengehörende Einheit. Sie befassen sich mit der nur dem Menschen begegnenden Dualität und den befreienden Umgang damit.

a) Ungelöste Dualität

Eine Gestalt hält zwei Masken, die durch ihre Münder Luft blasen, seitlich von sich weg. Der Blick der Gestalt ist ziellos in die Ferne gerichtet. Die Gestalt scheint keinen sicheren Halt in der gegenwärtigen Position zu finden.

Das erste Relief vermittelt eine Zerrissenheit, eine ungelöste Dualität. Das Gute schließt das Schlechte aus und umgekehrt. Man wird zwischen zwei gegensätzliche Tendenzen hin- und hergerissen. Der Wind aus den Mündern der Masken symbolisiert Sturm und Unruhe. Die Winde helfen dem, von seinen inneren Widersprüchen zerrissenen Menschen, am Leben zu bleiben. Sie stehen für den Antrieb von außen.

Die Masken stehen für die beiden widersprüchlichen Ichs, die jeder in sich trägt: Das Gute und das Böse, das Schaffende und das Zerstörende. Das einzige, unteilbare Prinzip wird von der urteilenden Vernunft zertrennt. Der Eingeweihte erlebt den Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies. Er betrachtet das Leben als eine Vielfalt von Gegensätzen.

b) Übernahme der Verantwortung
für das Erleben der Dualität

Die zweite Gestalt hält die Masken, die keine Luft mehr durch die Münder blasen, an deren oberen Rand und stützt sie fest auf die Knie. Der linke Fuß liegt über dem rechten.

Der Reisende hat Halt gefunden und ist nicht mehr länger Spielball gegensätzlicher Kräfte. Er allein ist für das Erleben der Dualität verantwortlich. Indem er sich mit seinen eigenen Widersprüchen konfrontiert, glaubt er nicht mehr an das absolute Gute, das er oft mit seinen eigenen Interessen verwechselt hat. Die Winde werden nicht mehr dargestellt. Der Reisende beginnt zu kämpfen. Der Lebenshauch kommt nicht mehr länger von außen sondern er trägt ihn in sich.

c) Übergang

Die dritte Gestalt hält beide Masken empor. Ihre Haltung ist aus der ägyptischen Kunst vertraut. Der Bildhauer hat nur einen Fuß dargestellt, der zusammen mit den Masken ein gleichseitiges Dreieck bildet.

Der Reisende wurde der Schöpfung gewahr. Da seine inneren Konflikte nur durch seine bruchstückhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit entsteht, beschließt er, die Dualität zu erheben, zu sublimieren. Die statische Bewusstseinswerdung bestand darin, zu erkennen, dass die Dualität existierte. Die dynamische Bewusstseinswerdung ist die Wahrnehmung der vereinenden Energie, die alles erfüllt, ein hermetischer Ansatz also.

d) Die harmonisierte Dualität

Die Gestalt strahlt nun in sich ruhend Frieden und Harmonie aus. Die Masken, die immer noch empor gehoben werden, sind nach dem Goldenen Schnitt angeordnet.

In dieser letzten der Maskenszenen herrscht eine neue Atmosphäre von Frieden und Harmonie. Der Kopf der Gestalt und die beiden Masken sind nach der Regel der “göttlichen Proportion”, nach dem Goldenen Schnitt, angeordnet: Die längere Strecke verhält sich zur kürzeren, wie die Gesamtstrecke zur längeren. Wo immer dieses Prinzip in der Geometrie oder sonst angewendet wird, vermittelt dies einen harmonischen Eindruck.

Wir erleben also den Augenblick, in welchem unser Reisender das Prinzip der Schönheit entdeckt. Die alten Baumeister arbeiteten nicht nur mit Zahlen. Zahlen sind zu starr. Sie erschufen die Harmonie der Gebäude durch die Anwendung des Goldenen Schnittes, der auch musikalische Proportion genannt wird. Man kann sagen, die göttliche Proportion ist das Leben selbst. Die Welt ist nicht symmetrisch und kein Ding gleicht dem anderen. Es ist an uns, das verbindende Dritte zu suchen, die unfruchtbaren Gegensätze hinter uns zu lassen.

Die vier Gestalten mahnen uns zusammen also, die Dualität zu überwinden, den Schritt von der selbstzentrierten Individualität zur Persönlichkeit zu schreiten, die offen ist für das Universum. Doch diese Errungenschaft ruft außerordentlich mächtige Kräfte auf den Plan, die mitunter eine erschreckende Gestalt annehmen können, wie der Drache, der uns nun begegnet.

12. Der Drache oder: Die bewusste Erweckung der Spiritualität

 

Ein feuerspeiender Drache, der sich mit kräftigen Pranken und starken Klauen an die Erde krallt und dem Flügel gewachsen sind.

Zunächst wird man sich fragen, warum dieses „Ungeheuer“ unserem Reisenden just in dem Moment entgegentritt, als er gerade die Krankheit der Dualität überwunden zu haben glaubt. Doch der Drache ist in diesem Falle kein Ungeheuer. Er steht hier für die vier Elemente: Das Feuer kommt aus seinem Maul; die Luft verkörpert er durch seine Schwingen; das Wasser durch seinen Krokodils-Schwanz und die Erde durch seine Krallen. Dem künftigen Baumeister wird mit diesem Symbol die universelle Materie geschenkt. Nun bleibt ihm noch, die Quintessenz zu suchen, das fünfte Element.

Es ist der Moment des Kampfes mit dem Drachen, in dem der Reisende als Krieger auftreten muss, in dem Sinn, den die Initiation diesem Begriff gibt. Ein Kind kann den Drachen besiegen oder ein Krieger, der den Zustand der Kindlichkeit wieder gefunden hat. Das ist der Zustand, in dem noch alles möglich ist, der Zustand der absoluten inneren Offenheit. Dies ist der Zustand des Verständnisses spiritueller Zustände und die Fähigkeit, sie anderen zu übermitteln. Die Fähigkeit, sich der Sichtweise des anderen zu öffnen.

Nach Hermes Trismegistos ist der Drache ein kraftvolles Tier mit langer Lebensdauer, frei von Bosheit und in gewisser Weise ein Freund des Menschen. Er lässt sich nur zähmen von dem, der zu ihm zu sprechen weiß. Den Drachen zu fürchten wäre also ein schwerer Fehler. Zwiesprache mit ihm zu suchen bedeutet schon, ihn friedlich zu stimmen. Sein Auftrag ist es, die Seele des Gerechten gen Himmel zu führen, indem er ihm die geheimen Wege der Wolken weist. Der Mensch, der einen Pakt mit dem Drachen schließt, wird der wahren Schätze gewahr: die spirituellen Kräfte, an denen es dem wahren Reisenden nicht mangeln wird. Der Drache steht für das Erwachen einer bewussten Spiritualität.

Das Erwachen, das er schenkt, ist von solcher Gewalt, dass es alles auf seinem Weg umstößt. So droht der Drache zu zerstören, was er regenerieren wollte. Deswegen bedarf es des Delfins.

13. Der Delfin oder: Die immerwährende Möglichkeit des Heils, für den, der sucht

 

Ein Fisch der ein Delphin sein soll. Man muss den Steinmetzen zugestehen, dass sie womöglich bestimmte Tierarten noch sie gesehen haben, wir wir später beim Elefanten auch noch sehen werden.

Einst bewunderte man die Schnelligkeit des Königs der Wasser, dem Delfin. Er geht direkt zum Wesentlichen über, ohne sich in Sackgassen zu verirren, ohne sich von heimtückischen Strömungen ergreifen zu lassen, die so manchen Schwimmer, so manches Schiff schon vom Kurs abbrachten.

Der Delfin meistert die Illusion ebenso spielend wie Versuchungen. Deshalb ist er das Licht der Meereswelt. Er geleitet unser Schiff in einen Hafen, sobald sich in der Tiefe des Meeres ein Sturm vorbereitet. Intuitiv ahnt er tragische Ereignisse voraus und bewahrt diejenigen davor, die auf ihn hören.

Die Delfinetappe ist eine der schwierigsten überhaupt, denn unser Reisender muss sämtliche Ozeane durchqueren: vom Ozean der Urenergie bis zu jenem seiner Emotionalität. Doch inmitten der schweren Prüfung verheißt uns das Lächeln des Delphins: Für den, der wahrhaft danach strebt, ist das Heil stets möglich, vorausgesetzt, er verharrt nicht in den Wassern und vernimmt die Stimme der Taube.

14. Die Taube oder: Die Kraft der Erneuerung der Reinheit

 

Eine Taube, über ihren Körper nach hinten blickend. Sie trägt den im Schnabel  den Zweig eines Ölbaums.

Die Taube ist der zuverlässige und schnelle Bote, der das Schiff der Gemeinschaft der Eingeweihten leitet. Die Taube findet immer einen Weg zurück zum Taubenschlag – in anderen Worten, den Weg zum Tempel.

In Reinheit treu zu sein bedeutet nicht blinde Unterwerfung unter eine willkürliche Autorität, sondern die Fähigkeit, den eigenen Bezugspunkt nicht aus den Augen zu verlieren. Sobald das Streben nach Erkenntnis bei unserem Reisenden nachlässt, wird die Taube auftauchen und ihn mit der notwendigen Energie erfüllen, um das Abenteuer weiter bestehen zu können.

Die Taube steht als Symbol auch für Schlichtheit, Unschuld und Arglosigkeit. Schlichtheit bedeutet Empfänglichkeit für das Transzendente, das “Göttliche”, das Spirituelle, wenn man so will. Die Reinheit der Taube ist die bewusste Frucht jener demütigen Unschuld, das Resultat langer Arbeit und fortwährender Aufmerksamkeit für das Universelle, das unseren Reisenden durchströmt.

Der Ölzweig wird verständlich für Eingeweihte der christlichen Religion. Seth ergriff ihn einst, nachdem er einen Schössling des Lebensbaumes auf das Grab seines Ahnen Adam gepflanzt hatte. Der Baum, der die Erde mit dem Himmel verbindet ist vielen Christen gleichbedeutend mit Christus.

In dem unser Reisender die Etappe der Taube bewältigt, geht er einen Schritt weiter, hin zum Blühenden Baum. Einst verglich man Magier, die sich selbst zu heilen vermochten mit einer Taube, die einen Lorbeerzweig im Schnabel trug. Das kranke Tier legte ein Lorbeerblatt in ihr Nest und wurde dadurch von ihren Leiden geheilt. Sich selbst heilen zu lernen, das ist der Augenblick, den unser Reisender angesichts der Taube erlernen soll. In dem er sich selbst reinigt, schöpft er aus den tiefsten Tiefen seines Wissens jene Willenskraft, die ihn von seinen Beschränkungen, von seinen Krankheiten befreit.

Man lasse sich vom harmlosen Äußeren der Taube nicht täuschen. Sie stellt uns vor eine der schwersten Prüfungen überhaupt. Der Reisende muss den Ozean der Gedanken, den Strom der Energien verlassen, darf diese jedoch nicht aus den Augen verlieren. Dann muss er den Lebenszweig zu einer neuen Erde tragen, von der er noch gar nicht weiß, wo sie sich befindet. Dies ist eine der wichtigsten Bedeutungen der Erneuerung durch die Reinheit:

Man lernt, alles zu verlassen, ohne auf irgendwas zu verzichten, vorausgesetzt, der Elefant gewährt unserem Reisenden Unterstützung.

15. Der Elefant oder: Die rezeptive Intelligenz

 

Ein Elefant mit erhobenem Rüssel und angehobenem rechten Vorderfuß. Wieder muss man annehmen, dass der Steinmetz womöglich vorher nie einen realen Elefanten gesehen hat.

Ein Elefant mit Krallen, Wildschweinzahn und einem Ohr, welches eher dem eines Menschen gleicht.

Hiob nannte den Elefanten „das Tier der Tiere“. Wenn die Ägypter einen König darstellen wollten, der Torheit und Unbedachtheit meidet, dann zeichneten sie einen Elefanten. Der Elefant fordert den Reisenden auf, die königlichen Attribute auf eine neue Art zu verstehen. Die Größe des Tieres ist nicht materieller Natur. Seine Aufgabe als Führer der anderen Tiere beruht auf drei grundlegenden Eigenschaften: Intelligenz, Ehrfurcht und Keuschheit. Der Naturforscher Plinius berichtet: „Der Elefant versteht die Sprache des Ortes, an dem er wohnt, betet die Sterne an, verehrt Sonne und Mond, begreife und toleriere die Religion der anderen.“

Der Elefant prüft mehrere Tugenden unseres Reisenden: Anpassungsfähigkeit, geistige Offenheit und vor allem Toleranz. Er verlangt von ihm, das Denken seines Gegenübers zu verstehen, ohne ihm das eigene aufzudrängen, trotz der Kraft und der Stabilität, die er im jetzigen Stadium erlangt hat.

Der ausgestreckte Rüssel des Elefanten – als Werkzeug vergleichbar mit der Hand des Menschen – steht für eine erste Handlungsmöglichkeit. Der Elefant führt uns weiter auf dem Weg der Selbstverwirklichung. Er unterstützt die Verbindung des spekulativen und operativen Aspektes, die uns durch die beiden Flügel der Taube bereits angekündigt war. Das menschliche Ohr des dargestellten Elefanten macht Sinn. Es mag überraschen, aber das Ohr ist mit dem Licht verbunden. Es gibt eine Leuchte für jedes Ohr, ein mehr oder weniger helles Licht, je nach dem, wie weit unser Gehör für das Heilige geöffnet ist.

Unabhängig davon, dass nach alter christlicher Überlieferung die Jungfrau Maria Christi über das Ohr empfangen haben soll, wird der Blick des Betrachters auf das menschliche Elefantenohr gerichtet, weil es die Empfänglichkeit bedeutet für die Intelligenz der Natur. Der Elefant macht uns deutlich, dass seine Rezeptivität, die das Gewicht des Werkes tragen muss, nichts mit Laschheit und Passivität zu tun hat. Vielmehr überreicht er dem Reisenden die Schlüssel zur Meditation, wie sie die Kathedralenerbauer begriffen. Sie bedeutet keine flüchtige Träumerei oder träge Zurückgezogenheit, sondern die Vorbereitung für die Erbauung der Fundamente des zukünftigen Tempels.

Diese Seins-Qualität muss der Reisende erwerben, um der Schlange entgegentreten zu können.

16. Die Schlange oder: Die handelnde Intelligenz

 

Eine Gestalt hält eine Schlange in der hoch erhobenen Hand, die er zur Faust geballt hat.

Die Schlange verbinden viele Menschen mit dem Bösen, als Verkörperung des Teufels. Diese hier aber wird von der Gestalt hinter dem Kopf sicher gehalten. Dieser Mensch beherrscht und unterwirft die Schlange, er fürchtet das Böse nicht mehr. Hier verkörpert die Schlange die intuitive Intelligenz, die der Stirn des königlichen Menschen entspringt. Das ist die Fähigkeit, die unser Reisender von der Schlange zu lernen hat.

Die Schlange ist auch Sinnbild der Weisheit. Sie brachte die Erkenntnis zum Menschen. In alten Schriften zur Tiersymbolik wird Pilgern geraten, wenn sie auf ihrem Weg auf eine Schlange stoßen, diese auf den Leib, nicht auf den Kopf zu schlagen. Ein einziger Stockhieb auf dem Kopf tötet die Schlange. Dort aber sitzt ihre Weisheit. Intuitiv sichert die Schlange daher stets bei Gefahr ihren Kopf. Auch unser Wanderer soll seinen Kopf schützen, das Abbild des inneren Tempels. Er soll von der sich häutenden Schlange auch die Fähigkeit erlernen, sich selbst zu regenerieren.

Gleich wie die Schlange ihr giftiges Sekret in einer Höhle oder in einer Vertiefung ablegt, bevor sie aus einer Quelle trinkt, wird auch der Reisende, der sich dem Tempel nähert, aufgefordert, alles Gift, Hass, Verachtung, Neid und Missgunst abzulegen.

Die Schlange ist eine Schwester des Elefanten. Zur rezeptiven gesellt sich die aktive Intelligenz. Darin liegt eine der größten Versuchungen. Intelligenz bedeutet nicht Ansammlung von Wissen und Geschicklichkeit, sondern Offenheit des Geistes für die Erkenntnis. Vor allem fordert sie die Bereitschaft, zusammenzufügen, was verstreut ist.

Vorausgesetzt, diese Fähigkeit wird nicht durch das Schwert vernichtet.

17. Das Schwert oder: Die Wahrnehmung der Lichtachse

 

Eine Gestalt hält ein zweischnei-diges Schwert in der rechten Hand.

Der Mann mit dem Schwert ist der Hüter der Mittelachse, welche die Dualität der beiden Schneiden aufhebt. Das ist die rechte, nicht die laue Mitte. Im Tempel zu Delphi – lange vor den gotischen Kirchen erbaut, kann man noch die Worte „die Mitte ist das Beste“, neben anderen, tief gehenden Weisheiten, erkennen. Man könnte das Schwert auch als das Symbol für Gerechtigkeit sehen, doch ist dieses Wort heute sinnentleert. Ersetzen wir es durch „Richtigkeit“. Das Schwert der Richtigkeit in die Hand zu nehmen, bedeutet einen Lichtstrahl zu umfassen. Der Mensch, der nach Erleuchtung sucht, bedient sich bereits dieses Schwertes aus Licht. Er macht sich seine wahre Natur bewusst.

Am Fels, der in der Sage dem Schwert der Schwerter, Excalibur, bis zum Heft als Scheide diente, sollen die Worte „Wer dieses Schwert herauszieht, ist der von Gott auserwählte König.“ geprangt haben. Derjenige ist also König, der die rechte Handlung im rechten Augenblick vollzieht.

Das Schwert in die Hand des Baumeisters gelegt bedeutet, ihm die wesentliche Frage über das Werk der Initiation zu stellen, ihn also den Eckstein des Gebäudes entdecken zu lassen. In dem also unser Reisender das Schwert erkennt, führt er seinem Bewusstsein eine Achse aus Licht hinzu, die Richtigkeit, die Geradheit.

18. Der Mond oder: Die bewusste Rezeptivität

 

Eine Engelsfigur hält, scheinbar schützend, den Mond, La Luna, in den Händen.

Der Mond bedeutet Rezeptivität oder Aufnahmefähigkeit, die progressive Assimilation des Kosmos. Der Mond reflektiert das Sonnenlicht nicht nur, er transformiert es durch seine eigene Natur. So verhält sich auch der Geselle, der die Lehre von seinen Meistern empfangen hat. Nicht als nachplappernder Papagei, sondern er färbt die Symbole, die ihm enthüllt werden, mit der Farbe seiner Seele.

Wenn unser Reisender die Pforte des Mondes durchschreitet, bereitet er sich darauf vor, sein spirituelles Schicksal uneingeschränkt zu durchleben. Der Mond festigt die Entscheidungen des Himmels und der Erde. Er fällt das Urteil der Baumeister, die versammelt sind, um den Kandidaten zu prüfen.

Wer mit dem Mond konfrontiert wird, muss wählen: Entweder man vertritt selbstgefällig seine persönlichen Theorien und weist das Urteil der Bruderschaft über sich zurück oder man lässt seine Ansprüche und seinen Ehrgeiz an der Pforte des Tempels zurück und bemüht sich, ein Meister seines Faches zu werden.

Der Mond ist der Herr des Schwurs. Mit diesem Schwur vollendet sich der erste Teil der Einweihung. Unser Reisender gelobt der Bruderschaft, die ihn aufnimmt, Treue. Er verspricht, immer danach zu streben, sich durch das Studium der Symbole zu verbessern. Er verpflichtet sich, die Geheimnisse zu wahren, die ihm anvertraut wurden. Das hat nichts mit kindischer Heimlichtuerei zu tun, sondern mit dem Geheimnis des Lebens im Geiste, das niemand verraten darf.

19. Der Übergang: Der Wechsel von der Materie zum Geistigen

 

Die schlafende Blume

Die schlafende Blume symbolisiert die Ruhe der Nacht, die vom Sinnbild des rezeptiv Weiblichen, dem Mond, beherrscht wird.

Die Blume wird deshalb auch von der kleinen Krone der Königin der Nacht gekrönt. An dieser Stelle verlässt unser Reisender die linke Seite des Portals und damit zugleich die erste Hälfte seines Initiationswegs. Er hat nunmehr eine Leere zu durchschreiten, verlässt also die Ebene der Materie – in dem Wort steckt das Wort “Mater” für Mutter – und wechselt hinüber zur rechten Seite des Portals, die mit dem Symbol der Sonne beginnt. Dabei muss er nochmals den Mittelpfeiler des Portals passieren, der ihn abermals mahnt, der sieben Hemmnisse zu gedenken, die einer glückenden Initiation entgegenstehen, und welche es zu überwinden gilt.

 Die im hellen Lichte tageswache Blume

Gekrönt mit der Königskrone steht die Blume nun aufrecht im vollen Lichte das Tages, hellwach und voll erblüht. Unser Reisender ist auf der Ebene des männlich Geistigen angekommen, die ganz von der Sonne als Symbol für das Männliche beherrscht wird. Sonne und Mond tragen nur im Deutschen umgekehrte Artikel. In den romanischen Sprachen ist der Mond mit weiblichem Artikel, die Sonne mit männlichem Artikel ausgestattet.

Bis hierher hat unser Reisender erlernt, an sich selbst zu arbeiten, seine innere Wahrnehmung, das Intuitive, zu schärfen. Doch die Stimme der Symbole hat ihn gelehrt, dass es große Mysterien gibt, dass er sein Ich überwinden und eine umfassende Harmonie erlangen muss. Vielleicht ahnt unser Reisender an dieser Stelle, bereits, dass die Kathedrale, dieser Tempel aus Stein, die Frucht eines ganz anderen Tempels ist, der aus lebendigen Steinen besteht.

20. Die Sonne oder: Die zeitlose Schöpfung

 

Eine Engelfigur präsentiert die Sonne in ihrer vollen Pracht. Den liebevollen Schutz dessen sich der Mond erfreute, benötigt sie nicht.

Die Sonne eröffnet den Weg zu den großen Mysterien. Sie ist die Wärmequelle, die das Leben gebar und es erhält, die Helligkeit, die die Welt beleuchtet. Sie enthält auch bestimmte Arten von Licht, die das Auge nicht sehen kann. Doch ist mit dieser Darstellung wirklich die materielle Sonne, die konkrete Sonnenscheibe dargestellt?

Diese Sonne hier stellt die Geburt der Sonne im Herzen unseres Reisenden dar. Er befindet sich an jenem Punkt, an dem in der Dunkelheit eine Fackel entzündet wird. Die Alten hielten einst Menschen, denen es gelang, die großen Mysterien zu schauen, für fähig, die Sonne um Mitternacht zu sehen, in der tiefsten Finsternis.

Hermes Trismegistos werden die Worte zugesprochen:

„Die Ewigkeit ist das Bild Gottes,
die Welt ist das Bild der Ewigkeit,
die Sonne ist das Bild der Welt,
der Mensch ist das Bild der Sonne.”

Der erste Schritt auf der großen Reise ist die Geburt des Sonnenmenschen, der seinen Weg selbst erhellt. Also wächst in der inneren Nacht unseres Reisenden die Sonne, die er nähren muss, in dem er die Symbole versteht.

Auf dieser Etappe der Sonne wird unser Reisender zu seiner Pflicht zur Freiheit aufgerufen. Indem er sich an die Goldene Regel hält, beginnt er im Schoß der Bruderschaft zu wirken. Nunmehr ist er aufgefordert, sich eine Eigenschaft zu eigen zu machen die schwer zu erlangen ist: Die Mäßigung.

21. Die Mäßigung

 

Eine Gestalt gießt sehr vorsichtig eine Flüssigkeit von einer Schale in eine andere, damit kein Tropfen verloren geht.

Der verborgene Name dieser Figur ist Mäßigung. Man kennt sie auch als Statue dargestellt auf einer Tarot-Karte.

Die Mäßigung fordert unseren Reisenden auf, sich nicht von den Phänomenen überwältigen zu lassen, nicht auf jede Stimulans von außen zu reagieren. Er soll sich selbst in die Hand nehmen, sein Leben selbst steuern. Mehr noch: Mäßigung lädt ein, den reinen Likör zu trinken, wie die Alchimisten sagten und damit den Trank aus den Quellen der Weisheit meinten.

An den Reisenden geht die Empfehlung, die Wirkung der beiden Schalen – die eine heißt Mehr, die andere Weniger – in sich zu harmonisieren. Gemeint ist jene Energie die allzeit zwischen den beiden Polen fließt. Das ist die wahre Synthese. Nicht das Ergebnis einer Addition, sondern das Eine in Dreien. Die Mäßigung erfüllt Materie mit Geist. Das Wesentliche ist die unaufhörliche Bewegung von einem Gefäß ins andere. Das „solve et coagula“ der Alchimisten, zusammenfügen und trennen, trennen und zusammenfügen.

Wir erinnern uns, dass uns die Mäßigung nach Mond und Sonne begegnet. Das einzige Licht des Universums hat sich für uns in Sonne und Mond aufgeteilt. Sie sind die Augen des großen Architekten der Welt, doch ihr Blick ist ein einziger. Die Mäßigung ist der Weg, unser “Drittes Auge” zu entdecken.

Zu dem was oben ist sagen wir „Steig herab!“
Zu dem was unten ist sagen wir „Steig empor!“

Wenn unser Nächster unten ist, müssen wir zu ihm hinuntersteigen, wenn wir in ihm wohnen wollen. Betrachten wir die steinerne Gestalt, betrachten wir die Mäßigung: Was am höchsten ist, ergießt sich in das was am tiefsten gelegen ist. Was oben war, wird zu dem, was unten ist. Wir erkennen darin das Zusammenwirken von Sonne und Mond, welchen wir bereits begegneten. Die Gefäße stellen Sonne und Mond in ihrer Dualität dar.

Durch die Mäßigung überwindet der Baumeister die Dualität vollends. Nach dem Gesetz des Goldenen Schnittes, welcher uns bei den Masken begegnet war, ist der Baumeister in der Lage, die Lichter zueinander ins Verhältnis zu setzen. Wer die falsche Zahl wählt, würde in Unwissenheit fallen. Doch befragen wir hierzu den Mann mit der Augenbinde.

22. Verbundene Augen oder: Die innere Kontemplation der Heiligkeit

 

Eine Gestalt mit verbundenen Augen. Die linke Hand liegt auf dem Knie, die rechte Hand in einer Geste erhoben.

Diese Augenbinde soll nicht etwa den Blick verschleiern. Sie entspricht der antiken Mitra, einer Stirnbinde. Diese Augenbinde zu tragen war das Privileg des Menschen, der danach strebte, im Reich des Geistes zu leben. Die Einsegnungsgeste zeigt uns, dass wir es mit einem Eingeweihten zu tun haben, der bereits mehrere Stufen der Erkenntnis hinter sich gebracht hat.

Mag die Augenbinde unserem Reisenden ermöglichen, die unsichtbaren Dinge zu sehen, statt der sichtbaren. Möge die Binde ihm die Augen des Herzens öffnen. In dem er die Binde umlegt wie eine Pforte des Lichtes, verschließt er seinen Blick der oberflächlichen Neugierde.

Das Symbol steht auch für das Schicksal. Diese Ikonographie stammt aus einem alten Fundus an Symbolen, in dem das Schicksal eine Augenbinde trug, weil es sich nicht um die Belange der Menschen kümmerte. Es folgte nur seinen eigenen Gesetzen und traf Arme wie Reiche zu allen Zeiten. Es verteilte Glück und Unglück ohne sich um Wünsche zu kümmern.

Das lehrt uns: Der Kosmos braucht die Menschen nicht. Wir sind in ihm, wir müssen ihn entdecken, um die Ketten des Schicksals abzuwerfen.

Während die Augen unseres Reisenden auf diese Weise der Ignoranz verschlossen sind, kann er mit seinem inneren Blick eine neue Welt erforschen. Möge er zusammenfügen was in der Außenwelt getrennt war. Dann wird ihm der Pelikan erscheinen.

23. Der Pelikan oder: Glaube, Hoffnung, Liebe

 

Ein Pelikan nährt, die Flügel zum Schutz gespreizt, drei Junge im Nest.

Der Pelikan fordert unseren Reisenden auf, Symbole und Mysterien zu durchdringen, die unser Geist letztlich niemals ganz erfassen kann. Für den Pelikan brauche wir etwas Zeit: Da unser Geist schrankenlos ist, können wir unsere Grenzen überwinden. Wir wissen, dass das Mysterium für unseren Verstand immer ein Mysterium bleiben wird. Doch ist es möglich, das Mysterium zu leben. Niemand wird je in der Lage sein, das Leben zu erklären und trotzdem leben wir es.

Der Pelikan war einst das Symbol der Nächstenliebe. Er ist eines der ältesten Symbole der Menschheit. Alten ägyptischen Sagen nach, nährt der Pelikan – wenn es sein muss – seine Brut mit seinem eigenen Fleisch. In uralten Ritualen dient der Schnabel des Pelikans auch als symbolische Pforte des Lichts und der Initiant, bislang an der Hand des Freundes geführt, erlangt durch den Pelikan vollständige Autonomie innerhalb des Tempels.

Es gibt viele Legenden, in denen der Pelikan seine – aus welch widrigen Gründen auch immer – ums Leben gekommenen Küken durch sein eigenes Blut wieder zum Leben erweckt. König David verglich sich mit dem Pelikan und in der christlichen Ikonographie steht der Pelikan ebenfalls als Symbol für Christus, der sich, seinen Leib und sein Blut – nach christlicher Legende – für die Menschen opferte. Der Pelikan, dieses Abbild Christi, symbolisiert auch die Auferstehung des Lazarus, womit wir bei Johannes dem Evangelisten wären, in dessen Evangelium allein die Legende vom Lazarus erzählt wird. Er ist jener, der vom Kreuze herab angeblich für ein besonderes Amt ausersehen war.

Doch auch die Alchimisten bedienten sich des Pelikans. Ihnen war er das Symbol für den Stein der Weisen, der sich vervielfacht in dem er seine Kraft aus sich selbst schöpft, wie der Vogel, der seine Brut mit dem eigenen Blut benetzt. Die Alchimie ermöglichte es unserem Reisenden, seine Wahrnehmungen zu vermehren, in dem er das Beste seines Wesens als Opfer darbringt.

Wer dem Beispiel des opferbereiten Pelikans folgt, fügt sich wieder ein in die Einheit des Seins. Der denkwürdige Weg der Werke des mittelalterlichen Christentums, der fälschlicherweise als Moral der guten Werke uminterpretiert wurde, bedeutet, dass wir danach trachten sollen, alles, was wir tun, zu heiligen. „Im Vater zu leben“, so drückt es die hermetische Formel aus. Darum beruht die Arbeit unserer Väter, wie auch unsere heutige, auf der Kenntnis und der Anwendung der Symbole. Je mehr der Mensch aus dieser Kenntnis heraus lebt, desto weniger formalistisch ist er, desto mehr opfert er im Geiste.

Zwischen den Menschen findet ein ständiger Austausch statt, eine unaufhörliche Bewegung unsichtbarer Strömungen. Sich zu opfern bedeutet nicht, sich zu kasteien, sondern intensiver zu leben. Das wahre Opfer ist eine fortwährende Bewegung der Lebenskräfte. Wer das Opfer verweigert, überließe sein Dasein dem Sturm der Ereignisse und verlöre die Zügel seines eigenen Denkens.

Der Pelikan wird in Darstellungen oft mit drei Küken – wie auch hier – dargestellt. Er ist für seine drei Jungen das, was der Meister unseres Reisenden für die drei Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe ist. Sie sind die drei Spitzen des heiligen Dreiecks, das mit der Schnur des Feldvermessers gebildet wird. So führt uns der Pelikan hin zur Geometrie, der edelsten Wissenschaft. Sie ermöglicht es, den Plan der Kathedrale zu erstellen: Die erste geometrische Figur ist das Dreieck, der Raum der Drei. Mancher mag sich an den Worten – zum Beispiel an dem Wort „Glauben“ stören. Doch ergeht an den Reisenden die Empfehlung: Werde zum Pelikan. Lebe jenen Moment, an dem du auf deine Fragen keine rationalen Antworten mehr suchst. Es ist eine merkwürdige Gewissheit, die niemand begreift und nie begreifen wird, denn es ist die Intelligenz des Herzens. Blaise Pascal war einer, der dieses Phänomen mit Leidenschaft wieder und wieder beschrieben hat. Diese Funktion des Geistes wird in unserer Kultur leider kaum gepflegt.

Im Leben unseres Reisenden wird es niemals ein Stehen bleiben irgendeiner Art geben. Das galt schon immer für jeden Initiierten, egal, wie nahe er auch der Vollkommenheit gekommen war. Das Geheimnis ist die Erkenntnis.

Hoffnung wiederum ist eine Bewegung ohne Anfang und Ende, der Motor der uns zu fortwährender Erneuerung zwingt. Man hatte auch schon die Hoffnung mit dem Atem Gottes gleichgesetzt, der alles durchweht, egal, wie die äußeren Umstände sind. Das bedeutet letztlich, dass, wem es an Hoffnung fehlt, seine Vervollkommnung innerhalb der Einweihung nicht erkennen wird. Denn die Hoffnung führt zur Nächstenliebe, zur Liebe schlechthin.

So sind wir bei diesem Wort angelangt. Der lange Umweg war nötig um zu begreifen, was die Nächstenliebe innerhalb der Einweihung bedeutet. Wenn vom Eingeweihten verlangt wird: „Verweigere deine Hand nicht dem Unbekannten, der in tötlichem Elend zu dir kommt“, dann geht es nicht um reine Wohltätigkeit. Indem wir unser inneres Feuer dem inneren Feuer eines anderen zugänglich machen, machen wir ein echtes Geschenk.

Drei Tugenden also, dafür steht der Pelikan: Glaube, Hoffnung und Liebe. Und immer wieder ist es die Drei, die uns begegnet. Sie enthält alle Dimensionen des Kosmos. Der Pelikan und seine Jungen, sie symbolisieren die göttliche Einheit, welche die Drei hervorbringt. Es ist die uns heilige Zahl, deren Wirken dem Reisenden allmählich das ternäre Denken ermöglicht. Die alten Weisen drückten sich gerne in ternären Formeln aus wie z.B. Lao-tse:

“Erschaffen ohne zu besitzen,
Arbeiten ohne festzuhalten,
Hervorbringen, ohne zu beherrschen.”

Der Eingeweihte – wenn er die Kunst recht verstanden hat, steht mit seinem Denken stets über den Phänomenen; durch seine Menschlichkeit wird er Teil des Werdens, durch seine Werke wird er schließlich zum Endprodukt der Schöpfung.

Nun aber muss unser Reisender durch die Prüfung des Feuers gehen.

24. Der Phönix oder: Das ewige Feuer

 

Der sagenumwobene Phönix inmitten eines seltsamen Feuers sitzend.

Phönix und Pelikan gehören untrennbar zusammen. Deshalb haben die Steinmetze sie auch nebeneinander ins Portal gemeißelt. Die Legende sagt, dass ein herrlicher Vogel, mit Federbusch auf dem Kopf einst, als der Nil die Erde Ägyptens überschwemmte, erschien.

Der Phönix steht in gewisser Weise als Symbol für den Eckstein des Tempels. Indem unser Reisender zum Phönix wird, lernt er, diesen Stein zu erkennen. Er kann seine Rolle als Erbauer bewusst erfüllen und wird die schlecht behauenen Blöcke nicht mehr mit dem Stein des Lichtes verwechseln.

Der Phönix steht auch für die Regeneration. Nach der Legende baut der Phönix ein Haus aus Weihrauch, Myrrhe und anderen Duftpflanzen. Wenn die Zeit gekommen ist, schlüpft er hinein und träg es mit sich fort, fliegt von Arabien nach Ägypten. Mittags dann, wenn er von allen gesehen werden kann, setzt er sein Haus auf dem Sonnenaltar ab, streift seine Federn ab und entfacht ein Feuer, in welchem er sich selbst als Opfer darbringt. Wenn er zu Asche verbrannt ist, entsteht aus der Asche eine Art Wurm. Dieser wächst heran, bekommt Flügel und wird wieder zum Phönix.

Der Phönix erscheint selten. So, als das Feuer vom Himmel fiel, um das Opfer Abels zu verzehren, setzte es auch den Phönix in Flammen. Beim Auszug aus Ägypten erschien er auf dem Tempel zu Heliopolis und bei der Geburt Christi verbrannte er sich selbst auf dem Tempel zu Jerusalem. Doch führt uns der Phönix eine Lösung für das Problem des Todes vor Augen: Solange unser Reisender nur seinem körperlichen Verschwinden entgegensieht, bleibt er außerhalb des Tempels. Indem er zum Phönix wird, erwirbt er die Fähigkeit, den Tempel zu betreten und an den Riten der Wiederkehr teilzunehmen. Da der Phönix niemals geboren wurde, kann er auch nie sterben. Alle Wesen des Universums können ihn wahrnehmen.

Hat unser Reisender das begriffen, dann kann er eine solche Einweihung durchlaufen, vorausgesetzt, er akzeptiert die Begegnung mit dem Phönix trotz der Flammen, die ihn umgeben. Es wird ihm wie Schuppen von den Augen fallen, dass die Gesamtheit der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Wesen in ihm ist. Er wird fähig, die Gesamtheit des Abenteuers der Menschheit zu erkennen, wenn er sein Ich sterben lässt und als Wahrer Mensch wieder geboren wird.

Die Geburt des Phönix verläuft in unglaublicher Weise. Er wird nicht gezeugt, hat weder Vater noch Mutter, ist allenfalls sein eigener Vater. Damit besitzt er eine geheime Eigenschaft. Ich gebe zu bedenken, dass nach der Genesis auch der Mensch zunächst nicht als Mann und Frau erschaffen wurde. Das geschah erst hernach, sinnbildlich durch Schaffen der Eva aus einer Rippe Adams.

Doch versinnbildlicht diese geheimnisvolle Flamme, die den Phönix wieder gebiert, nicht die sichtbare Flamme eines profanen Feuers. Der Alchimist, Michael Maier hat das Geheimnis vom Feuer des Phönix so beschrieben:

„… Jenes Feuer ist weder das, welches der Ätna in seinen Tiefen birgt, noch das, welches die glühenden Feuer des Vesuv nährt, … Dieses Feuer ist die Quelle allen Lichtes, das dieses weite Universum erhellt. Dieses Feuer verleiht allen Wesen Wärme und Leben. Es ist eine Flamme, deren Glut leuchtet, ohne etwas zu verzehren. … Oh, wie gut kennen die Weisen diese herrliche Flamme. Kennt man dieses Feuer nicht, kennt man gar nichts. Ihr, die ihr aus den fruchtbaren Quellen der Wissenschaft zu schöpfen wünscht, lasset nicht zu, dass dieses heilige Feuer sichtbar wird.“

Wer nämlich begriffen hat, welcher Art dieses Feuer ist, der erschafft einst als Meister die Skizzen neu, dank deren einst die Kathedrale des Universums erbaut werden konnten. Das Feuer bringt die guten Eigenschaften hervor. Das Feuer, das in der tiefsten Tiefe unseres Bewusstseins leuchtet, bestimmt unsere Eigenschaften.

Unser Reisender muss begreifen, dass er, wenn er durch das Feuer gegangen ist, nicht mehr der selbe Mensch sein wird. Den er wird die tiefe Identität erkennen, welche alle Dinge miteinander verbindet. Doch wäre diese Verwandlung unnütz, wenn es ihm nicht gelänge, den Blick des Adlers zu erlangen.

25. Der Adler oder: Das himmlische Königtum

 

Ein selbstbewusster Greif spreizt seine Flügel.

Mit dem Adler vollendet sich die Trinität der symbolischen Vögel: Pelikan, Phönix, Adler. Der Adler sitzt an der oberen Spitze des leuchtenden Dreiecks, Pelikan und Phönix bilden die Ecken an der Basis. Es ist nun an der Zeit für unseren Reisenden, dass er seine Kräfte sammelt, sein Leben und seinen Geist erforscht, damit ihm der Adler erscheint.

Der Adler trägt die Energie des Ursprungs der Welt in sich. Darum weckt er Angst bei jenen, die nicht darauf vorbereitet sind, ihn zu empfangen. Sie rennen in alle Richtungen davon, wenn er vom Himmel herabkommt, doch sie können ihm nicht entkommen.

Im frühen Christentum, das von den dogmatischen Verirrungen noch unberührt war, nannte man die frisch Getauften, die aufgrund ihrer Kenntnis der Mysterien den Zugang zur Gemeinschaft erlangt hatten, „Adler“. „Adler“ war eine Bezeichnung für jene, die in Licht gekleidet an der himmlischen Kommunion teilhatten.

Doch sei unser Reisender gewarnt: Wer sich selbst für einen Adler hält, wird aus großer Höhe vom Himmel abstürzen – und der Sturz wird tödlich sein. Alleine die Mitglieder der Gemeinschaft der Initiierten können erkennen, dass der Initiant diese Etappe des Weges erreicht hat. Sie werden ihn aber nicht beglückwünschen, sondern ihn auffordern, weiterzugehen. Der Eingeweihte erlebt in dieser Stufe eine gewisse Einzigartigkeit. Er sucht nun nicht mehr nach Ausreden oder Entschuldigungen, denn er weiß, dass nur er allein seine Funktion als Mensch und Mittler zwischen Himmel und Erde verwirklichen kann.

Der Reisende wird also zum Adler, von dem Johannes schrieb:

„… Sieh den Adler: Er fliegt höher als alle Vögel, er blickt direkt in die Sonne und dennoch kehrt er seiner Natur gemäß auf die Erde zurück. So ist es auch mit dem menschliche Geist, der sich, wenn er von der Kontemplation ablässt, mit größerer Inbrunst immer wieder aufs Neue aufschwingt zu den himmlischen Dingen.“

Indem unser Reisender am Werk teilhat, das sich auf der Baustelle vollendet, wird er allmählich den Blick des Adlers erlangen. Dieser Blick ist in der ägyptischen Mythologie auch der Blick des Horus – Gott des Himmels, des Lichts und der Güte. Aus dem Auge des Falken Horus wurden die Zahlen, Gewichte und Maße hergeleitet.

Christus sprach zu Thomas, dem Architekten aus dem Orient: „Auch du, dein Glaube wird zum Adler aus Licht, der über allen Gegenden schwebt. Der Adler ist also ein Symbol für den Baumeister, der sich bisweilen nicht sehr zimperlich gegenüber den Novizen erweist. Gleich dem Adler, der nach einer Legende seine Küken prüft, indem er sie dem Sonnenlicht aussetzt, um ihre Stärke zu prüfen. Ertragen sie das Himmelsfeuer nicht, stürzt er sie in die Tiefe. So auch der Baumeister, der die Pflicht hat, seine Bauleute auf die Probe zu stellen, ihre Fähigkeiten unaufhörlich zu prüfen. Erweisen sie sich nicht würdig, am großen Bau mitzuwirken, schickt er sie ins profane Leben zurück.

Neben dem Adler wartet der Löwe. Wollen wir hoffen, dass der Blick des Adlers, des Königs der Lüfte, unseren Reisenden befähigt, dem Blick des folgenden Raubtieres siegreich zu begegnen.

26. Der erste Löwe oder: Das irdische Königtum

 

Ein Löwe, unsicher dreinschauend.

Es gibt eine mittelalterliche Darstellung von einem König, der einen Adler auf der Hand trägt und auf einem Löwen reitet. Dies wird von Moralisten als Allegorie des Stolzes, vermischt mit Selbstgefälligkeit gewertet. Die angesprochene Selbstgefälligkeit ist anderer Natur als jene, die wir in den ersten sieben Prüfungen bereits bezwungen glaubten. Diese hier verführt den Baumeister dazu, sich der Schätze, die er während der Initiation entdeckt hat, zu seinem persönlichen Nutzen zu bedienen. Denn: Die Angeberei des Unwissenden ist harmlos, aber die Selbstgefälligkeit des Weisen ist tödlich. Je mehr jemand weiß, desto größer ist die Verantwortung und desto weniger darf er sich brüsten. Wenn der Eingeweihte überzeugt ist, die Erkenntnis als sicheres Gut zu besitzen, wird er in einen bodenlosen Abgrund stürzen.

Dieser Löwe aber verleiht dem Licht des Adlers Gewicht und Dichte. Er schenkt unserem Reisenden das Geheimnis jener edlen Kraft, die sich Stolz nennt. Das Wort „Stolz“ ist hier nicht negativ besetzt. Die rechte Haltung ist, in Demut stolz zu sein auf den Beruf des Tempelbauers. Wenn dieser Stolz an die Stelle der Selbstgefälligkeit tritt, entsteht Freude.

Dieser Löwe – uns wird ein weiterer begegnen – fragt den Reisenden also durchaus unsicher: Willst du deine Persönlichkeit auf die Dimension des Tempels ausdehnen, den deine Gemeinschaft erbaut? Der Löwe evoziert eine irdische Weisheit, ein Königtum, das in unserer Reichweite liegt. Er ergänzt den Adler, macht das Unfassliche fassbar.

Doch ist unser Reisender auch in der Lage, das, was er empfangen hat, würdig weiterzugeben?

27. – 30. Die vier Amphorenträger

 

Wozu den Kern der Einweihung erreichen, wenn unser Reisender den inneren Reichtum nicht nach außen strahlt? Die folgenden vier Skulpturen helfen uns, gefährliche Klippen zu meiden.

a) achtlose Übermittlung

Dieser Mann hat eine lockere Haltung angenommen. Er stützt sich lässig auf den Arm und schaut ins Leere. Aus der Amphore, die er achtlos auf der linken Schulter trägt, ergießt sich das Wasser und er schaut nicht einmal hin.

Hier sehen wir das Bild der achtlosen Übermittlung. Der Mann begnügt sich damit zu erwerben und schert sich nicht darum, das Gedankengut, das er entdeckt hat, mit anderen zu teilen. Seine Achtlosigkeit lässt gar erkennen, dass er das Wesentliche seines Abenteuers gar nicht begriffen hat, so, als sei er an den Symbolen vorbeigegangen, ohne sie zu sehen. Über das wertvolle Vermächtnis im heiligen Gefäß hat er nicht nachgedacht. Er verschüttet die heilige Flüssigkeit ziellos.

Wie der achtlose Knecht aus dem Gleichnis, lässt er das ihm anvertraute Gold keine Zinsen abwerfen. Schlimmer noch, er vergeudet es. Die Symbole gleiten wirkungslos an ihm herab, sie dringen nicht in ihn ein. Dabei wurden ihm Ohren gegeben um zu hören, Augen um zu sehen. Dieser „Wasserträger“ verliert den Sinn für das Heilige.

b) Übermittlung des Buchstabens

Dieser Mann stützt sich mit der rechten Hand ab, sie gibt ihm einen Bezugsrahmen. Aber auch er kümmert sich nicht um die Amphore. Er hält sie am Boden fest und lässt das Wasser achtlos auslaufen. Er wirkt weniger unbekümmert als der erste.

Dies ist die Übermittlung des Buchstabens. Der Übermittler hat die Tragweite der Symbole nicht erkannt und begnügt sich mit ihrer äußeren Form. Sein in die Ferne gerichteter Blick deutet auf mangelhafte Aufmerksamkeit hin. Wenn er seine Erfahrungen mitteilt, verwendet er vorgefertigte Sätze. Er plappert nach, statt selbst neu zu schaffen. Er kann nicht anders handeln, weil er ein starres Wertesystem hat, einen Code, der ihm eigen ist und von dem er sich nicht befreien kann. Um den Geist weitergeben zu können, muss man über die „Zunge der Vögel“ verfügen, das rechte Wort im rechten Augenblick sprechen, sich auf die Möglichkeiten des Gegenübers einstellen. Man würde diese Fähigkeit heute Kommunikationskompetenz nennen.

Dieser „Lehrmeister“ ist unfähig das Warum zu begreifen. Er legt nur Wert auf die Form und erträgt es nicht, dass das kleinste Detail daran geändert wird. Dieser Typus hat nur einen Vorteil: Er trägt dazu bei, dass auf diese Weise zahlreiche Traditionen – wenn auch unverstanden – in die Zukunft weitergetragen werden.

Doch früher oder später wird der Mensch, der nur den Buchstaben übermittelt zum Sektierer und verrät das, was ihm das Teuerste sein sollte.

c) Übermittlung ohne Demut

Dieser „Lehrmeister“ wirkt schulmeisterhaft und herrisch. Er hält die Amphore kontrollierter, hat die Hand am Hals des Gefäßes und kann so den Fluss besser kontrollieren. Aber auch er hat seinen Blick nicht darauf gerichtet, was er tut. Er wirkt, als sei er zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Dieser Meister verkörpert die Übermittlung ohne Demut. Er hält Worte, die seinen Mund verlassen, durchweg für große Wahrheiten. Er stellt das Bild von sich niemals in Frage. Andere haben seine Deutungen zu akzeptieren, deren Wünsche und Möglichkeiten bleiben bei ihm unberücksichtigt. Er hält sich für einzigartig und unersetzlich und betrachtet sich als privilegierten Interpreten der göttlichen Botschaft.

Seine Anstrengungen haben ihm bewiesen, dass er ein Elitemensch ist und er ist überzeugt, dass er die endgültige Bedeutung der Symbole kennt. So stellt er die Amphore zur Schau, zeigt, dass er sie besitzt – vernachlässigt aber überdeutlich ihren Inhalt. Er wird bald der Selbstgefälligkeit erliegen.

d) Übermittlung des Geistes

Dieser Mann wirkt aufmerksam, ganz auf sein Tun konzentriert. Er hält die Amphore sicher am Fuß und reguliert die Menge des fließenden Wassers. Sein Gesicht drückt Gelassenheit und tiefen Seelenfrieden aus.

Diese Figur steht für die Übermittlung des Geistes. Ohne die Form und den Buchstaben zu vernachlässigen, erreicht er das Herz eines jeden. Er achtet auf den geeigneten Moment, um seine Gedanken mit anderen zu teilen und berücksichtigt die Aufnahmefähigkeit seiner Zuhörer. Darum übermittelt das wahre Wesen der Symbole, ohne dass das kleinste Körnchen verloren ginge. Er spricht mit jedem die Sprache, die diesem angemessen ist. Er vermeidet es, zu schockieren, seine persönlichen Vorstellungen anderen aufzudrängen. Seine Demut ist aufrichtig und sie bedeutet nicht Unterwerfung.

Dies ist ein Lehrmeister, den man sich wünschen mag. Ihm sollte jedermann nachstreben. Er enthüllt nichts, was aus Konvention geheim gehalten wurde, keine Tricks, nichts künstlich mystisch verbrämtes. Er enthüllt unserem Reisenden die Bedeutung des Geheimnisses schlechthin, das flammende Lächeln der Erkenntnis. Vorausgesetzt, der Suchende verrät nicht das Königtum des Löwen, der nun auf seinem Weg wartet.

31. Der geflügelte Löwe oder: Das flammende Königtum

Ein geflügelter Löwe hält ein Spruchband in den Pratzen.

Schon mancher hat versucht den Löwen zu töten. In den Wunden des verletzten Raubtieres haben Bienen ihren Honig bereitet. Den Löwen zu verwunden bedeutet, das Bewusstsein des königlichen Menschen zu verdunkeln. Es ist der Versuch ihn zu zerstören. Aber die Biene greift ein und erschafft direkt aus dem Körper des verwundeten Tieres eine Substanz der Unsterblichkeit.

Dies bedeutet, dass auch bei widrigsten Umständen die Einweihung niemals tödlich verwundet werden kann. Selbst in einer materialistischen Kultur kann der nach Einweihung Strebende in sich das Gold der Götter finden. Der geflügelte Löwe mit seinem Spruchband, er steht für die Kraft, das Feuer des Wünschens, das unseren Reisenden zur Erkenntnis führt. Wenn er sich aber in Selbstgefälligkeit selbst als das göttliche Feuer betrachtet, wird ihn der Löwe zerfleischen.

Um den Löwen zu bändigen muss unser Reisender das Göttliche und das Menschliche in ein und dem selben Licht mit einander harmonisieren. Wenn er den Zorn des Löwen bezwingt, kann unser Reisender seine Kraft mit Recht benutzen. Der gebändigte Löwe bewacht das Geheimnis unserer inneren Sonne. Seine Mähne ist die Sonne, sein Gesicht das Licht. Die Macht des Löwen kann sowohl göttlich als auch menschlich sein. Als göttliche Macht ist sie die Energie, die Leben und Bewegung hervorbringt. Als menschliche Macht ist sie die Anwendung des geistigen Königtums auf allen Ebenen.

Der Löwe ist der Wachende, der Hüter. Darum verziert man die Schlösser an den Pforten der Tempel oft mit Löwenköpfen. Mit seinem Blick fesselt er den Reisenden, der sein Amt nicht erfüllt und verschlingt ihn. Er gestattet ihm, die Pforte des Tempels im Zustand der Reinheit zu durchschreiten. Der Reisende muss also ein Löwe sein, ein Pilger, der nichts auf der Welt fürchtet. Der Löwe fordert ihn auf, seine inneren Gegensätze zu versöhnen. Werde Anfang und Ende, Alpha und Omega, so öffnest du das Siegel und schlägst das Buch auf und liest den Text des Spruchbandes, das der geflügelte Löwe hütet.

Und er ist geflügelt, weil er eine himmlische Botschaft in sich trägt, die Botschaft des Engels:

32. Der Engel oder: Der Mensch nach dem Bilde Gottes

 

Wir sehen einen Engel mit Spruchband.

Der Anblick des Engels mag überraschen. Wir sind es nicht mehr gewohnt, die Verwirklichung des Menschen in Gestalt eines Engels dargestellt zu sehen. Hier steht er für die Kraft, die den Baumeister inspiriert, wenn er den Plan seiner Kathedrale zeichnet. Es waren diese Art Engel, die unseren Vätern die Proportionen der Welt und die Geheimnisse ihrer Mysterien enthüllten.

Mensch zu sein nach dem Bilde Gottes ist das Attribut des Königs oder des Baumeisters, der die Stimme der Engel beim planen hört. Der Engel ist eine Himmelsmacht, weil er uns die Relativität unserer Errungenschaften und die Notwendigkeit, nach dem Absoluten zu streben, vor Augen hält.

Der Engel steht auch für den Meister, der es unserem Reisenden ermöglicht ans Ziel zu kommen, sein Leben wahrhaft zu erbauen. Der Architekt aller Welten sendet dem Eingeweihten den Engel mit dem Auftrag ihn zu dem Prinzip zurückzuführen, aus dem er hervorgegangen ist.

Wenn es unserem Reisenden gelingt, den Stufen seiner Einweihung Authentizität zu verleihen, dann wird er den blühenden Baum – unser Ziel – entdecken.

33. Der blühende Baum oder: Die Gemeinschaft der Bauleute

 

Ein üppig blühender, kraftvoller und gesunder Baum symbolisiert  das Ende unserer Reise. Die lange, lehrreiche Reise vom verdorrten zum blühenden Baum, sie ist vollbracht.

Hier angekommen wird unser Reisender sich der Gewissheit nicht entziehen können, dass das Licht das Wesentliche am Abenteuer des suchenden Menschen ist. Die Einweihung ist eine Kunst, eine Wissenschaft. Mit Händen und Denken kann der Reisende den geheimen Garten neu erschaffen, in welchem der blühende Baum wächst.

Es ist ein Baum voller Früchte, mit kraftvollem Saft, mit sehr wohlschmeckenden Früchten. Es ist zugleich der Lebensbaum und der Baum der Erkenntnis. Möge unser Reisender seine Früchte essen, um die Weisheit in sich aufzunehmen.

Mit dem Engel erlangte unser Reisender letzte Verwandlung und damit die Meisterschaft. Dieses letzte Bild in Stein, der blühende Baum, verleiht seiner Einweihung Rückgrat. Er ist die Linie ohne Anfang und ohne Ende, um die herum sich alles anordnet. Ein Wahrer Mensch betrachtet nun das Weltganze.

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