Literatur-Rezension:

Die Selbstgerechten

rezensiert von Kurt O. Wörl

Sahra Wagenknecht geht hart, sehr hart ins Gericht mit der linken Schickimicki-Entourage, sowohl mit jenen in ihrer eigenen Partei, die LINKE, aber auch bei den Grüninnen und in der SPD: 

Die Selbstgerechten

Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt

Die 1969 in Jena geborene Autorin zeichnet treffsicher ein Psychogramm eines Großteils jener, die sich selbst als „Links-Liberale“ sehen. Wagenknecht gibt ihnen die treffendere Bezeichung „Lifestyle-Linke“, ein wohlgesetzter Begriff, der sich im allgemeinen Sprachgebrauch für jene „Linke“ durchsetzen wird, die ziemlich spießbürgerlich, einen eigentlich bürgerlich-rechten Lebensstil in gutbürgerlichen, sehr gerne gentrifizierten Wohnvierteln pflegen, diesen als Nonplusultra betrachten und auf jeden herabsehen, der die Welt nicht in gleicher Weise wahrnimmt wie sie. Die Autorin relativiert den Begriff Links-Liberale auch gleich wieder und betont, dass Links-Illiberale zutreffender sei.

Autorin: Sahra Wagenknecht

gebundene deutsche Ausgabe: 

ISBN-10: 3593513900
ISBN-13: 978-3593513904

345 Seiten, erschienen am 14. April 2021 im Campus Verlag


Der Klappentext auf der Rückseite

Urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch – links ist für viele heute vor allem eine Lifestylefrage. Politische Konzepte für sozialen Zusammenhalt bleiben auf der Strecke, genauso wie schlecht verdienende Frauen, arme Zuwandererkinder, ausgebeutete Leiharbeiter und große Teile der Mittelschicht. Ob in den USA oder Europa: Wer sich auf Gendersternchen konzentriert statt auf Chancengerechtigkeit und dabei Kultur und Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerungsmehrheit vernachlässigt, arbeitet der politischen Rechten in die Hände. Sahra Wagenknecht zeichnet in ihrem Buch eine Alternative zu einem Linksliberalismus, der sich progressiv wähnt, aber die Gesellschaft weiter spaltet, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiert und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft ignoriert. Sie entwickelt ein Programm, mit dem linke Politik wieder mehrheitsfähig werden kann. Gemeinsam statt egoistisch.

Rezension

Wow! … Das hat gesessen. Sahra Wagenknecht schrieb ein Buch, das zurecht inzwischen die Bestsellerlisten erstürmt hat und noch bei keinem anderen Buch vorher erfreute mich der Erfolg eines Buches so sehr wie bei diesem. – Auch das Erscheinungsdatum im Superwahljahr ist genial gewählt. Es zwingt Wähler und die sich links wähnenden Parteien, Farbe zu bekennen. Außerdem entlarvt es einen Großteil der linken Wortführer in Linke, Grüne und SPD als bloße, elitäre Maulhelden, die zum schicken, gutbürgerlichen Dasein nur noch ein „linkes“ Image für das eigene Gutgefühl benötigen, um selbstgerecht durchs Leben stiefeln zu können. Deshalb ist auch der Buchtitel treffend gewählt: „Die Selbstgerechten“. Wagenknecht nennt diese Leute Lifestyle-Linke. Ein Begriff, der ab sofort in meinem Wortschatz Verwendung finden wird.

Wagenknecht schrieb sich in dem Buch nicht nur ihren Unmut über die zunehmend dominierenden, illiberalen Lifestyle-Linken von der Seele. Ihr ist mit dem Buch sehr viel mehr gelungen: es ist ein Kompendium, eine überaus gelungene, präzise und umfängliche Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft, des Medienverhaltens und der Wirkungen auf die Gesellschaft. Sie zeigt die Gefahren für die offene, freie Gesellschaft und die Demokratie auf, beschreibt den Meinungsterror seitens der betuchten Salon-„Linken“ und ihrer Helfershelfer in Presse, Funk und Fernsehen. – Es gelingt ihr auch sehr gut, ihren Blickwinkel zu verlagern, etwa zu dem derer, die zunehmend die Verachtung der Lifestyle-Linken trifft, weil sie weder deren Bildung, Eloquenz und Einkommensniveaus erreichen.

Ob sich Sahra Wagenknecht nach dieser Generalabrechnung noch lange in der Linkspartei wird halten können, sei dahingestellt, ich kann es mir fast nicht vorstellen. Sie hält es für möglich, statt ihre Genossen mit ihrer Streitschrift wachzurütteln, nun Opfer der – von ihr im Buch gegeißelten – neuen Cancel culture der Partei zu werden. Zusammenfassend prangert die Autorin das Verhalten eines Großteils der links-grünen Entourage an, der sich mehrheitlich heute um alles Mögliche, wie Feminismus, Minderheiten, LGBTQ+, Gendersprache etc. kümmert, ansonsten nur noch einen überaus engen Meinungskorridor duldet und alle, die diesen Korridor verlassen dem „rechten“ Spektrum zuordnet, sie als „Gestrige“, Rechtspopulisten und immer hemmungsloser gar als Nazis diffamiert, sich für die eigenen Defizite aber erblindet zeigt, etwa mit Blick auf den zunehmenden Antisemitismus in den eigenen Reihen.

Wagenknescht beschreibt: Nur für jenen großen Bevölkerungsteil, für den sozialistische und kommunistische Parteien einst da sein wollten, für die Arbeiterklasse, für die Entrechteten im Niedriglohnsektor, in Zeit- und Leiharbeit, Menschen, die in prekären Wohnverhältnissen leben, für all diese haben alle linken Kräfte ihrer Ansicht nach inzwischen weder Kraft noch Willen, sich für sie einzusetzen. Die Lifestyle-Linken selbst seien es, die der AfD zunehmend Terraingewinne bescheren – und so könne sich vor allem eine Partei im Zuge der Wählerwanderung auch eines gewaltigen, unverhofften Zulaufs erfreuen: weg von SPD und Linke, hin zur AfD. Die AfD ist nun faktisch und unverhofft und ungewollt die neue Arbeiterpartei Deutschlands – obwohl und trotzdem sie vor allem ziemlich brutale, neoliberale Ziele im Programm stehen hat – welch eine Ironie! – Die Lifestyle-Linken scheint das zu erfreuen, das erspart, über das Schicksal der Plebs nachdenken zu müssen.

Die neue Grand Dame der deutschen Politik beklagt aber nicht nur die grässliche, teils unbarmherzige Entwicklung des links-grünen Milieus, sondern wartet auch mit einem umfangreichen Programm zur Umkehr und Besserung auf, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land wieder herzustellen und linken Parteien wieder zu mehr Zustimmung zu verhelfen. 

„Wenn auch die linksliberalen Akademiker unserer Zeit einsehen würden, dass sie kein Recht haben, ihren Lebensentwurf zum Maßstab progressiven Lebens zu machen und auf alle herabzuschauen, die anderen Werten folgen und eine andere Sicht auf die Welt haben, wäre viel gewonnen.“

So lautet der letzte Satz in Sahra Wagenknechts Gegenprogramm zur gespaltenen Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Und es ist leider jetzt schon vorhersehbar, dass sie gerade bei jenen auf taube Ohren und Empörung stoßen wird, die allen Grund hätten, ihr aufmerksam zuzuhören und ins Grübeln über ihr eigenes Verhalten zu kommen. Aber immerhin ist Wagenknechts Analyse ein schmerzhafter Stachel mit Widerhaken, der sich nicht ohne fremde Hilfe mehr aus dem linken Schickimicki-Fleisch ziehen lässt.

Fazit

Was für ein Buch! Beim Lesebeginn hatte ich zunächst begonnen, mir besonders prägnante Statements zu markieren, bis ich bemerkte, dass ich fast das ganze Buch markieren müsste und es einfacher wäre, nicht so wichtige Passagen hervorzuheben. Das ist mir so noch bei keinem anderen Buch vorher passiert.

Vielleicht ist das Buch aktuell sogar das wichtigste, überfälligtse und geeignetste dieser Dekade überhaupt, um sich einen umfänglichen Überblick über den gesellschaftlichen Status quo unseres, zunehmend von linkem destruktivistischen Sprach- und Identitätsfuror gegeißelten Landes und über die daraus resultierenden Gefahren (nämliche eine ziemlich dystopische Entwicklung der Gesellschaft, wenn sich das durchsetzt) zu verschaffen. –

Bleibt zu hoffen, dass das Buch bei der Entourage der Lifestyle-Linken – vor allem aber bei der grün-geneigten Wählerschaft – seine Wirkung nicht verfehlt. Dankbar bin ich Sahra Wagenknecht auch für die ausgiebige, geschichtliche Herleitung dieser unheilvollen Entwicklung.

Zu empfehlen ist das Buch vor allem den Sozialdemokraten, falls sie für ihre Partei Anregungen dafür suchen, wie sie wieder zu ihrer einstigen Größe als breit aufgestellte Volkspartei zurückkehren kann. So viel vorweg: Sie schafft das nicht, indem sie Lifestyle-Linke aus Linkspartei und Grüninnen nachäfft und sie schafft es auch nicht mit einer Personalia, die sich aus Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kevin Kühnert zusammensetzt. Bevor die Menschen die Kopie wählen, wählen sie lieber das Original – oder in diesem Fall eben die Grüninnen. 

Viele Leserinnen und Leser aus dem links-grünen Lager werden schon den Buchtitel als unverschämte Anmaßung einer gefallenen Gallionsfigur empfinden. Aber Klartext zu sprechen, gehört ja zu Sahra Wagenknecht. Wenn bekannte Talkmaster beiderlei Geschlechts naive Klischee-Statements von zwanzigjährigen Influencern und Bloggern klug finden, bin ich gespannt, was ihnen zu den Analysen und Vorschlägen der Autorin einfällt. Um zu verstehen, warum linksliberale Überheblichkeit rechte Terraingewinne nährt, empfehle ich auf jeden Fall „Die Selbstgerechten“.

Ich selbst halte Sahra Wagenknecht derzeit für eine der klügsten und auch noch gebildetsten deutschen Politikerinnen der Gegenwart. Sie kann mit jedem Recht das Attribut, eine Linksliberale – im besten Sinne – zu sein für sich in Anspruch nehmen. Ich nannte weiter oben Sahra Wagenknecht als die neue Grand Dame der deutschen Politik, denn Sie erinnert mich zunehmend an die einstige Grand Dame des Liberalismus, an Hildegard Hamm-Brücher. Chapeau!

Nur werden das die Lifestyle-Linken wohl eher nicht so sehen und sich – wie ich übrigens auch – fragen warum sich Frau Wagenknecht die degenerierte Linkspartei überhaupt noch antut. Sie wäre für jede andere Partei längst eine Perle im Personal-Portfolio, die bei den Linken nur noch wie vor die Säue geworfen wirkt.

Mein Prädikat für das Buch: Überaus lesenswert!
Besonders der kritisierte Entourage der Lifestyle-Linken  empfohlen.

Andere Stimmen

Eine sehr ausführliche Rezension veröffentlichte am 15.04.2021 Jakob Augsteins Wochenzeitung „der Freitag“. Ich selbst kann dieser in jedem Wort nur zustimmen:

der Freitag: Rezension „Die Selbstgerechten!“

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