Wovon reden wir, wenn wir reden?

Über Thesen, Meinungen und Überzeugungen

Autor: Kurt O. Wörl

Ein interessantes Thema tat sich in einem Diskussionsforum auf: Einer beklagte einen „Irrweg, der mit den 68ern begann“, nämlich, die „totale Freigabe der Meinung und des Willens des Einzelnen ohne Rücksicht auf Konventionen“. Protagonisten, so der Schreiber weiter, weigerten sich, die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Selbiges führe […] dazu, dass der Staat dann regeln soll/muss, auf dass überzogene Ichbezogenheit nicht zum Schaden anderer ausgelebt werde.

Mit einem Zitat aus Goethes Sonett „Natur und Kunst“, nämlich „…und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“, wollte er untermauern, dass man nicht umhin käme sich einzuschränken oder einschränken zu lassen.

Die Diskussion krankte an gleich mehreren Unzulänglichkeiten: Zum Beispiel erklärte er nicht, was genau an einer „totalen“ Freigabe von Meinung und Willen zu beklagen sei, zeigte nicht auf, ab wann seiner Auffassung nach Ichbezogenheit überzogen sei, wann und wie sie zum Schaden anderer ausgelebt werde. Vor allem aber konnte er nicht benennen, wer denn die Schiedsstelle bilden sollte, die Meinung und Willen einschränken dürfe, was die Kriterien dafür wären und wer diese Schiedsstelle wiederum kontrollieren soll.

Weiter erwies es sich schwierig ihm zu verdeutlichen, dass für von außen, zum Beispiel seitens des Staates, dem Individuum auferlegte Einschränkungen nicht mittels des Goethes-Zitats begründet oder gar gerechtfertigt werden könnten, da dieses nur an die Selbtsbeschränkung appelliere. Doch dieses Thema wäre eines eigenen Postings wert. Interessanter in diesem Zusammenhang war, dass er beklagte, ich sei auf seine „These vom Muss der Einschränkung des Einzelnen“ gar nicht eingegangen, ich hätte nur das Goethe-Zitat interpretiert.

Da hatte er natürlich recht. Doch war das auch genau meine Absicht, nämlich nicht auf das, was er seine „These“ nannte, einzugehen, weil ich es nicht für eine These, sondern schlicht für seine Überzeugung hielt. Das gab mir Gelegenheit ein bisschen über Thesen, Meinungen und Überzeugungen zu sinnieren:

Thesen

Thesen sind zunächst theoretische Annahmen, Vermutungen, und diese bedürfen des Beweises, soll daraus Wissen werden. Sie werden ergebnisoffen in die Diskussion eingebracht, können sich also als richtig oder falsch herausstellen oder sich im Spannungsfeld zur Antithese zu ganz neuen Erkenntnissen mausern (Synthese). Das ist ein sachlicher, nüchterner Vorgang. Solange nach der Richtigkeit oder Fälsche einer These geforscht wird, sind Diskussionen oft hochinteressant. Solche Diskussionen sind eindimensional und bewegen sich zwischen „wahr“ und „unwahr“, geben Gelegenheit auch zu kühnen gedanklichen Höhenflügen. Naturwissenschaftler bedienen sich dieser Technik mit großem Erfolg.

Meinungen

Meinungen bewegen sich in einem zweidimensionalen Koordinatensystem, vertikal zwischen „Glauben“ und „Wissen“, horizontal zwischen „wahr“ und „unwahr“. Zudem enthält eine Meinung auch eine vorläufige Wahrscheinlichkeitsüberlegung. Ein solch – hoffentlich immer bewegliches – Gebilde aus Wissen, Glauben und Annahmen, Unwahrheit und Wahrheit – subjektive Beurteilungen also, kann kaum Inhalt eines ernsthaften Streitgespräches sein.

Denn manchmal erweisen sich Meinungen als beides, nämlich richtig und falsch zugleich, je nach Blickwinkel und Standort, nach Wertvorstellungen und Erfahrungen. Meinungen nimmt man zur Kenntnis, lässt sie nach voltaire’scher Manier zu, nimmt allenfalls darin gegebene Spielbälle gedanklich auf und entwickelt damit eigene Gedanken, vorgetragen meist als weitere Meinung. Meinungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie jederzeit geändert werden können und sollen, wenn neue Erkenntnisse sie als falsch erkennen lassen. Über Meinungen erfährt man sehr viel über Mitmenschen und darüber, wie sie denken und ticken. Meinungen dürfen auch falsch sein, wenn der Träger bereit ist, zu lernen und sie ggf. aufzugeben. Doch eine Diskussion über wandelbare Meinungen wäre ein recht sinnloses Unterfangen, denn meinen heißt noch lange nicht wissen.

Überzeugungen

Wenn alles schief läuft, mutieren Meinungen zu Überzeugungen. Nietzsche wird das Zitat zugeschrieben „Überzeugungen sind die gefährlicheren Feinde für die Wahrheit als die Lüge“.

Warum ist klar: Überzeugungen lagern zwar im selben Koordinatensystem wie Meinungen, allerdings haben sie sich an einem bestimmten Punkt festgefahren, sind wie festgenagelt, unbeweglich, beharrend, verkrustet. Überzeugungen unterscheiden sich von Thesen und Meinungen dadurch, dass sich ihre Träger mit ihnen vollkommen identifizieren, ihr Leben teilweise oder ganz nach ihnen ausrichten. Sie werden – oft ohne Wahrheitsnachweis – einfach als wahr angenommen und gar nicht so selten bis aufs Blut verteidigt. Ja, ganze Weltbilder werden darauf aufgebaut und alles, was sie wieder zu beweglichen Meinungen rückformen möchte, verbissen bekämpft.

Während Thesen und Meinungen im gesicherten Wissen (so weit es ein solches geben kann) ihr Grab oder ihre bestätigendes Ende finden, gilt dies für ausgelebte Überzeugungen bei weitem nicht.

Überzeugungen sind m.E. Symptome eines Wahns … und da Überzeugungen vor allem im Umbeweisbaren der Ideologien und Glaubenssysteme zu Hause sind, darf man bei diesen auch durchaus von Wahnsystemen sprechen.

Fazit

Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn, über Meinungen oder gar Überzeugungen zu diskutieren. Meinungen toleriert man, wenn man kann, widerlegt man sie, sind sie widerlegt und man gibt sie auf.

Vor Überzeugungen sollte man sich hüten und eindringlich davor warnen. Ich benutze z.B. in meiner Argumentation niemals die Floskel „ich bin überzeugt, dass…“.

Entweder ich weiß etwas oder ich habe eine, auf Basis von Fakten hergeleitete These oder ich kann nur mit einer weniger begründeten, vorläufigen Meinung aufwarten. Beide können sich als richtig oder als falsch herausstellen – oder auch für immer ungeklärt bleiben.

Nicht Thesen, nicht Meinungen, ausschließlich deren Mutation zu Überzeugungen führen immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen unter Menschen und sind damit nahezu identisch mit bloßen Glaubenssystemen.

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