Unfug: “Kritik muss konstruktiv sein”

Autor: Kurt O. Wörl

Jeder kennt das, denke ich: “Ich habe überhaupt nichts gegen Kritik, aber sie muss konstruktiv sein!” Wem wäre das Argument beim Äußern von kritischen Anmerkungen noch nicht begegnet?

Das Argument, Kritik habe konstruktiv zu sein ist jedenfalls sehr populär, aber zugleich Unsinn und auch gefährlich. Mal ehrlich, möchten Sie wirklich erst dann erfahren, dass Ihr Schiff auf einen Eisberg zusteuert, wenn der Schiffsjunge im Aussichtsmast, der den Eisberg als erster am Horizont entdeckt hat, sich eine Lösung dafür ausgedacht hat, wie man ein Unglück vermeiden kann? Und selbst wenn er eine Idee dafür hätte, wäre es fraglich, ob die Idee eines unerfahrenen Matrosen dem Kapitän wirklich eine Hilfe sein würde. Sicher ist aber, dass für die Vermeidung der Kollision wertvolle Zeit vergeht – womöglich zu viel Zeit.

Die Forderung, Kritik habe konstruktiv zu sein, ist in Wahrheit nur ein cleverer, rhetorischer Schachzug. Vorgeblich soll sie zum “lösungsorientierten Denken erziehen”. Sie dient aber nur dazu, sich selbst Luft vor berechtigter Kritik zu verschaffen, die dann womöglich grundsätzlich destruktiv oder entwertend empfunden wird.

Nehmen Sie ein x-beliebiges Geschäftsmeeting. Sie haben Bedenken an dem, was Sie hören, das angestrebte Ziel oder noch mehr könnte gefährdet sein. Sie sehen, dass sich einige Teilnehmer verrennen. Also tragen Sie Ihre Bedenken vor. Die Standardantwort der Meeting-Leitung wird lauten: “Und was schlagen Sie vor?” – Diese Reaktion ist bis zum Reflexiven antrainiert, darauf können Sie Gift nehmen. Sie ist ein Muss in jedem Rhetorik-Seminar. Und sie ist wirkungsvoll, denn in der Tat wird die so disziplinierte Kritik dann oft tatsächlich konstruktiver – vor allem aber weniger. Ersteres ist durchaus erwünscht, das Zweite stellt ein signifikantes Problem dar.

Denn wenn die Kritik weniger wird, weil die Kritiker befürchten, auch gleich eine Problemlösung liefern zu müssen, die sie vielleicht gar nicht haben, was wird dann aus berechtigten Kritikpunkten, die nicht mehr ausgesprochen werden? Denn die erkannten Probleme, auf die sie sich beziehen, verschwinden ja nicht, nur weil sie niemand mehr ausspricht. “Ich sage lieber überhaupt nichts mehr, denn am Ende liegt es im Auge des Betrachters, ob meine Kritik als konstruktiv betrachtet werden wird oder nicht. Das ist mir zu riskant und könnte meine Karriere gefährden “ So denken nicht Wenige, die schon einmal nach dem Vortragen erkannter Probleme bloßgestellt wurden.

Dieses clevere, rhetorische Ritual des Einforderns konstruktiver Kritik ist machiavellistischer Bauart: Die Kritisierten definieren die Bedingungen, unter welchen Kritik zulässig ist und machen sich zugleich zur höchstrichterlichen Instanz in der Frage, ob die Kritik konstruktiv  – und damit zulässig – war. Damit befindet sich der Kritisierende in der Hand des Kritisierten.

Die Folge ist das zunehmende Verschwinden von Kritik, weil viele, die eigentlich wichtige Hinweise zu geben hätten, die “Falle riechen”, halten sie von vorneherein den Mund – und unterdrücken damit wichtige Informationen, die für die Problemlösung durchaus wertvoll gewesen sein könnten.

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