Literatur-Rezension:

Die Warnung
Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird

rezensiert von Kurt O. Wörl

Der ehemalige höchste Richter und Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, schreibt mit seinem ersten populär-wissenschaftlichen Buch

DIE WARNUNG

Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird

vermutlich eines der wichtigsten Bücher für Deutschland und seine Demokratie. Denn die sieht Papier überaus gefährdet.

Autor: Hans-Jürgen Papier

gebundene Ausgabe:

ISBN-10: 3453207254
ISBN-13: 978-3453207257

272 Seite, erschienen: 04.11.2019 im Heyne-Verlag

(auch als eBook und Hörbuch erhältlich)


Der Klappentext auf der Rückseite

Vor dem Gesetz sind alle gleich. Doch was geschieht, wenn geltendes Recht nicht mehr für jeden gilt und nicht ausnahmslos greift? Wenn gefällte Urteile nicht vollzogen werden? Wenn der Staat auf neue Entwicklungen in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung nicht angemessen reagiert? Wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zunehmend zu Lasten der Freiheit verloren geht? Wenn zwar der Sozialstaat weiter ausgebaut wird, die Kernaufgaben des Rechtsstaates aber vernachlässigt werden? All dies ist heute in Deutschland zu beobachten und weist auf eine besorgniserregende Entwicklung hin. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt eindringlich vor einer Erosion des Rechtsstaates, insbesondere vor einer Schwächung der Judikative.

Rezension

Auf das Buch wurde ich aufmerksam über einen Vortrag des Autors Hans-Jürgen Papier vor der SWR Tele-Akademie in Baden-Baden (vgl. Youtube-Video am Ende der Rezension). Der Vortrag trug denselben Titel wie das vorliegende Buch und bezog sich auch auf dessen Inhalt. In dem Vortrag warnte er u.a. auch vor einer aufkeimenden Öko-Diktatur, die bereits jetzt sich in totalitären Vorstellungen eines Großteils der Öko-Bewegung andeuten. 

Vorab: Das Buch erschien im November letzten Jahres (2019) und damit vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie mit dem folgenden Lockdown, der noch gravierende Folgen, sowohl für die Wirtschaft als auch auf die Freiheit und die Grundrechte insgesamt, haben sollte. Aber auch wenn er dieses Umbruch-Ereignis, mit massiven Grundrechtseinschränkungen, in seinem Buch nicht berücksichtigen konnte, zeichnete er ein düsteres Bild vom Zustand unseres Landes.

Papiers Warnungen sind deutlich. Er schreibt:

“Ein Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben , um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren!” (Seite 16)

Er warnt auch vor zunehmend radikalen Vorstellungen in der Bevölkerung. So habe sich jeder dritte von über 3.000 Erlanger Jurastudenten für die Wiedereinführung der Todesstrafe ausgesprochen und die Hälfte würde unter bestimmten Umständen auch die Folter erlauben (Seite 33).

Hart geht Papier mit der Regierung wegen der zugelassenen Masseneinwanderung, ohne jede Grenzkontrolle, im Herbst 2015 ins Gericht. Sowohl das deutsche Asylrecht, als auch das europäische Recht, wie die Regeln des Dublin-III-Abkommens, seien mit massiv verletzt worden. Sie seien eine klare Kapitulation des Rechtsstaates gewesen. Papier schreibt wörtlich:

“In einem Rechts- und Verfassungsstaat aber hat das Handeln nach subjektiven Moralvorstellungen Grenzen – und die liegen im geltenden Recht. Subjektive und individuelle Vorstellungen von Solidarität und Hilfsbereitschaft können nicht an die Stelle des Gesetzes treten, sonst macht sich Chaos breit, weil die unterschiedlichen Vorstellungen um Vorrang konkurrieren und sich gegenseitig das Recht absprechen. So war es dann auch bei uns: Die Bereitschaft, Menschen in Not aufzunehmen, hat bei vielen Deutschen Furcht und Abwehr ausgelöst, was in der Folge politisch zu einer Radikalisierung und zu einer besorgniserregenden Spaltung der Gesellschaft führte. Das hat den populistischen Rechtsparteien erst richtig zum Aufschwung verholfen.” (Seite 48)

Auch wenn von bestimmten politischen Kräften immer wieder behauptet werde, dass das Asylrecht “unantastbar” wäre, widerspricht der ehemalige Verfassungsrichter dem deutlich: 

“Das Asylgrundrecht fällt nicht unter den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), deshalb unterliegt es auch nicht der sogenannten Ewigkeitsverbürgung (Art. 79 Abs. 3 GG) und kann also – mit einer verfassungsändernden Mehrheit – eingeschränkt oder auch ganz abgeschafft werden.” (Seite 51)

Papier warnt auch vor einer Moralisierung des Rechtsempfindens. Er versteht darunter die Aufgabe von allgemein verbindlichen Rechtsprinzipien zugunsten einer persönlichen “Haltung”, die für sich eigenes, subjektives Recht beanspruche, das aus moralischen Argumenten abgeleitet werde. (Seite 104) 

Ins Gericht geht Papier auch mit dem sog. “Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Auf Seite 124 schreibt er:

“Faktisch läuft das Netzwerkdurchsetzungsgesetz aber auf einen Eingriff in für die Demokratie besonders zentrale Grundrechte hinaus – und zwar von privater Seite und selbst dann, wenn nach den Maßstäben des Verfassungsrechts die konkrete Meinungsäußerung gar nicht rechtswidrig, sondern schützenswert ist. Natürlich können Betroffene gegen den Netzwerkbetreiber vor einem Zivilgericht klagen. Das ist aber ein reichlich später und zudem teurer Weg, um verfassungsgemäße Zustände nachträglich wiederherzustellen. Eine wirkliche »Waffengleichheit« der Beteiligten ist so nicht zu erreichen. Die Meinungsfreiheit und ihre Grundrechtsträger sind faktisch immer im Hintertreffen. Ich stelle mir deshalb die Frage, ob der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich zulässige Begrenzung der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG nicht deutlich überschreitet.”

Kritisch sieht Papier auch die inzwischen legalisierte, sog. “Ehe für alle”, die er für eine Zeitgeistentscheidung hält, die dem Willen des Grundgesetzes zum Schutz der Ehe als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation nicht gerecht werde. (Seite 161)

Weitere Kritikpunkte, deren Grundlagen geeignet sind, nachhaltig das Vertrauen in den Rechtsstaat zu untergraben sind für Papier:

  • Die Nähe zwischen Politik und Autoindustrie, die bislang verhindert habe, dass Fahrzeuge mit Betrugssoftware zurückgekauft wurden. Hier wird Papier sehr deutlich: “Wenn in der Bevölkerung der Eindruck entsteht, diejenigen, die Macht haben, könnten sich aus dem Recht ausklinken, ist das eine Gefahrenlage für die Rechtsstaatlichkeit in unserer Republik. Wie wollen wir erwarten, dass sich Verkehrsteilnehmer an die Vorschriften halten, wenn sie in einem Fahrzeug sitzen, das selbst einen massiven Regelverstoß repräsentiert? Welches Signal setzt es für die Verlässlichkeit unseres Rechtssystems, wenn gerade die einflussreichste deutsche Industrie anscheinend auf ‘Deals’ mit der Politik setzt?” (Seite 178)
  • der Berliner Mietendeckel, für den das Land Berlin nach dem Grundgesetz gar nicht zuständig gewesen ist,
  • die Regulierungswut, die dazu führe, dass keine noch so effektive Bürokratie sie überhaupt noch zu finanziell tragbaren Bedingungen bewältigen kann. (Seite 179)
  • u.a.

Die größte Bedrohung für die parlamentarische Demokratie sieht Papier im Absterben der großen Volksparteien, denn diese sei auf die Vermittlung politischer Parteien bei der Willensbildung angewiesen. (Seite 252)

Gegen Ende des Buches geht Papier auch noch auf die Unfähigkeit des Bundestages ein, die vom Bundesverfassungsgericht schon lange angemahnte Wahlrechtsreform anzustoßen. Papier schreibt dazu:

“Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass im Grundgesetz keinerlei Aussage zum Wahlsystem getroffen wurde? Hier erweist sich unsere Verfassung als äußerst lückenhaft, denn die Regelung des Wahlsystems gehört zum Kernbestand des Staatsrechts. Dass nicht einmal die wesentlichen Grundfragen in der Verfassung angesprochen werden, ist und bleibt ein großer Mangel. Bei den gegenwärtigen politischen Konstellationen erscheint es nahezu unmöglich, diesen Mangel durch eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes zu beheben. Denn nicht einmal dem einfachen Gesetzgeber scheint eine Reform des Wahlrechts möglich. So hat das geltende System der personalisierten Verhältniswahl neben den zahlreichen Überhangmandaten auch noch zu sogenannten Ausgleichsmandaten (Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit) geführt. Die Aufblähung des Deutschen Bundestags stellt seine Funktionsfähigkeit infrage.” (Seite 253)

Fazit

Ein überfälliges Buch, vom dem ich hoffe, dass sich die politische Elite davon so nachhaltig beeindrucken lassen möge, dass sie erkennt, dringendst handeln zu müssen, damit das Land nicht in eine unheilvolle Zukunft steuert.

Prädikat: Sehr lesenswert, aber auch deprimierend

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